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Auszug aus BAT WOMAN
"Feuerland?" Anwar zog die Augenbrauen hoch. "Unsere südamerikanischen Verwandten leben in Brasilien, nicht im tiefsten Patagonien. Erklärst du mir Joshuas Traum, Medizinmann?" Der junge Vampirfürst saß im Schneidersitz im Schwitzzelt des Schamanen und beugte sich angespannt zu dem alten Mann vor, der seit Jahrzehnten als Heiler, Prophet und Traumdeuter die Geschicke der Fledermausmenschen lenkte.
"Ich kann dir leider nicht weiterhelfen", entgegnete der Schamane. "Die Sache verhält sich folgendermaßen: Joshua ist ein überaus talentierter Seher. Er hat das Potenzial, der beste aller Schamanen zu werden. Aber noch ist er nicht so weit. Um seine Entwicklung zu beschleunigen, übertrage ich während unserer Sitzungen meine Kraft mithilfe von Meditation, Beschwörungen und Gebeten auf ihn. Die Vorgehensweise stärkt Joshua und schwächt mich. Ich kann zwar meinen alltäglichen Arbeiten, wie beispielsweise dem Heilen, nachgehen. Und ich bin in der Lage, meine Experimente mit Natassjas und Joshuas Blut weiterzuführen, um einen Sud aus ihrem Lebenssaft zu gewinnen, der unser erbkrankes Volk regeneriert. Aber für transzendente Anstrengungen wie das Hellsehen oder die Traumdeutung reicht meine Energie momentan nicht aus. Um sie wiederherzustellen, müsste ich Joshuas Sonderbehandlung einstellen. Allerdings würde es selbst bei sofortigem Stopp mindestens 24 Stunden dauern, bis ich wieder bei Kräften bin."
"Na super! Joshua ist noch nicht fit genug, um unser Volk mit Weisheit und Wahrsagung zu schützen, und du bist es nicht mehr. Die Bat People sind also ohne jeglichen spirituellen Beistand. Du hättest mich wegen deines Vorhabens, Joshua auf diese Weise zu unterstützen, um Erlaubnis bitten müssen", beschwerte sich der junge Fürst.
"Das habe ich", entgegnete der Schamane und warf Anwar einen vielsagenden Blick zu. "Aber du warst anderweitig beschäftigt."
Tassja! Dem jungen Vampirfürsten schoss das Blut in die Wangen. Er war so vernarrt in seine Geliebte, dass er wirklich alles andere vergaß. Batur hatte ihn folglich zu Recht gerügt. Und dem Medizinmann war seine geistige Abwesenheit auch schon aufgefallen. Hoffentlich hatte er sich in seiner Verliebtheit vor seinem Stamm nicht vollkommen zum Narren gemacht.
"Du brauchst dich nicht zu sorgen", riss ihn der Medizinmann aus seinen Gedanken. "Zumindest nicht, was die spirituelle Unterstützung der Bat People und ihr Vertrauen in dich angeht. Die Götter unserer indianischen Vorfahren, der großen Anasazi, sind mit dir und deinen Untertanen." Der Alte grinste über Anwars verblüfftes Gesicht. Wie jung der Herrscher der Bat People noch war! Auch wenn der Fürst durch das radioaktive Gift der Menschen eine beeindruckende Verwandlung zu einem kraftvollen und Furcht einflößenden Vampir durchlaufen hatte, gab es immer wieder Momente, in denen sich seine Unschuld und Unbedarftheit zeigten. So wie jetzt.
"Ich mag zwar vorübergehend saft- und kraftlos sein", scherzte der Medizinmann. "Aber um deine Hoffnungen und Ängste zu erkennen, reichen meine Fähigkeiten noch aus."
"Es tut mir leid, wenn ich respektlos und unhöflich war", entschuldigte sich Anwar. "Ich hege keinen Groll gegen dich, sondern gegen mich selbst. Ich gebe es ungern zu, aber ich war in den vergangenen Monaten eigennützig und habe nur für mein privates Glück gelebt. Das steht einem normalen Bat Man zu, nicht jedoch einem Fürsten."
"Geh nicht zu hart mit dir ins Gericht", antwortete der Medizinmann. "Jeder hat Liebe verdient. Ausnahmslos. Und sei beruhigt: Du hast deine Pflichten als Herrscher erfüllt. Solltest du dennoch Zweifel hegen und glauben, dass du die Bat People vernachlässigt hast, bietet sich dir jetzt die Gelegenheit, Versäumtes wiedergutzumachen." Der Alte deutete mit einer Kopfbewegung zum Eingang des Schwitzzeltes.
Anwar schlug die Lederhäute zurück, die das Tipi verschlossen. In einiger Entfernung näherten sich Natassja und Batur dem Adobe und Saunazelt des Schamanen. Beim unerwarteten Anblick Tassjas jagte eine Welle aus Liebe, Leidenschaft und Angst um sie durch Anwar. Er bekam eine Gänsehaut, der kalte Schauer kroch bis in die Spitzen seiner Flügel. Ein leichtes Vibrieren seiner Schwingen verriet seine Gefühle. Ein verträumtes Lächeln spielte um seine Lippen und erstarb, als er den blutverschmierten Bat Man sah, den seine Geliebte und sein Vertrauter stützten.
Der Fürst sprang auf und verließ ungeachtet seines nackten, verschwitzten Oberkörpers das Zelt. Zwei kräftige Flügelschläge, und er landete vor Natassja, Batur und ihrem verletzten Begleiter.
Der Fledermausmann hing leblos zwischen Natassjas und Baturs Armen. Seine Augen waren geschlossen, seine Fledermausschwingen hingen schlaff herab. Der rechte war gebrochen. Er hatte zerzaustes schwarzes Haar und trug einen bodenlangen schwarzen Mantel. An seiner linken Seite baumelte eine Streitaxt im Gürtel. Er hätte einer von Anwars Untergebenen sein können. Aber zwei Merkmale unterschieden ihn von den Fledermausmenschen New Mexicos: Er war kleinwüchsig, kaum über ein Meter sechzig groß, und er besaß im Gegensatz zur schneeweißen Haut der Cibolaner einen olivfarbenen Teint.
Das war der Bote aus Feuerland! Der Unheilüberbringer aus Joshuas Traum!
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