Dämonenfeuer
Der Junge umklammerte den Rosenkranz. Er war warm und bewegte sich leicht, wie eine Schlange. Als er hinabblickte, sah er Blut an seinen Händen, das aus einer gezackten Wunde in der Mitte jeder Handfläche hervortrat.
Stigmata
Schaudernd betrat er das Pfarrhaus und wusste nun mit Sicherheit, dass er als Einziger in der Lage war, die Leben derer zu retten, die noch nicht tot waren.
Ich bin der ohne Sünde
Er folgte dem Flur zum Versammlungsraum und hörte die Schreie, die aus dem Inneren hallten.
In seinem Geist ertönte die Stimme seiner Mutter. Der Rosenkranz wird dich beschützen. Hör auf seine Worte und erfülle deinen Teil, um das Böse zu Fall zu bringen, das der Menschheit das Ende aller Tage verspricht
Er dachte zurück an den Augenblick, in dem die Kiste am Boden der Grube aufbrach. Ein Geräusch wie das eines heftigen Windstoßes war herausgedrungen, dann erhob sich aus der Kiste ein schwarzer Kelch in die Luft und verharrte an einer Stelle über dem Rand des Lochs.
Alle Anwesenden waren auf die Knie gesunken und hatten angesichts des Wunders vor ihren Augen gebetet.
Aber nicht seine Mutter. Sie hatte etwas anderes aus der Kiste fallen gesehen, und während alle Augen auf den schwebenden Kelch geheftet waren, kletterte sie in die Grube hinab und holte den Rosenkranz. Sie hatte ihn ergriffen und zum ersten Mal bemerkt, was sie ihr gesamtes jungfräuliches Leben lang erwartet hatte: den Ring von rubinroten Narben um ihren Finger. Schaudernd hatte sie begriffen, dass sie diese unglaubliche Entdeckung allein ihrem Sohn preisgeben durfte, denn er war derjenige der ohne Sünde , der dazu bestimmt war, den Rosenkranz für seinen wahren Zweck zu verwenden.
Der Junge betrat den Raum.
Und erblickte den Kelch.
Wie zuvor schwebte er über der Mitte der Grube, schwarz und glänzend, überzogen mit Blut und Feuer. Darunter spielte sich eine Szene geradewegs aus der Hölle ab: Die Erbauer der Kirche standen am Rand des Lochs, durchtränkt mit dem Blut derer, die sie geopfert hatten ihrer Frauen, Söhne und Töchter.
In den Händen hielten sie die Werkzeuge, mit denen sie die Kirche errichtet hatten die Waffen, mit denen sie ihre unschuldigen Familien abgeschlachtet hatten.
Stück für Stück, Glied für abgetrenntes Glied fütterten die Arbeiter die Grube mit ihren Opfern. Aus den Tiefen des Lochs wölben sich dünne Blutstrahlen empor und ergossen sich in den Kelch, in dem tosend Feuer und Wind wüteten und die Ohren des Jungen quälten.
Die Arbeiter drehten sich um und sahen ihn an. Ihre Augen waren nach oben gerollt, ihre Gesichter glichen blutigen Masken.
Der Junge streckte den Rosenkranz vor sich.
Die Männer zuckten zusammen und brüllten. Dann stieg aus den Eingeweiden der Grube eine abscheuliche Bestie auf, eine Kreatur aus Blut, Schlamm und den abgetrennten Körperteilen der Abgeschlachteten. Der Schädel, der aus den Köpfen der jüngst Enthaupteten bestand, baumelte auf einem ineinandergeschlungenen Bündel von Rückgraten. Die Münder der menschlichen Köpfe schrien wie aus einer Kehle.
Die Arbeiter flüchteten mit seltsamen, ruckartigen Bewegungen in die Winkel des Raums. Diejenigen, die noch nicht geopfert worden waren, und jene, von denen die Bestie nicht Besitz ergriffen hatte, kreischten hysterisch und huschten durch Pfützen aus Blut und Knorpel davon.
Die Bestie brüllte vor Enttäuschung, vor Erwartung, vor Verwirrung.
Der Junge trat an den Rand der Grube, bis er sich nur wenige Meter von der Bestie entfernt befand, und griff nach dem Kelch.
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