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Evil
Der amerikanische Originaltitel dieses Buches lautet The Girl next Door. Ein unschuldiger Titel, hinter dem sich eine der unangenehmsten, aber wichtigsten Geschichten Jack Ketchums versteckt.
Evil ein sehr unglücklicher deutscher Titel, der zusammen mit der Subreihe Hardcore den Roman in seiner ganzen Intention entwertet beginnt mit einem Vorwort von Stephen King. Inzwischen ist bekannt, dass King sein Lob im Gegensatz zu seiner exzellenten frühen Arbeit Dance Macabre sehr großzügig verteilt. Dieses Mal geht er nicht nur auf die besondere Stellung von Jack Ketchums in der Horrorgemeinde ein. Er zieht Parallelen zu anderen, eher dem Film Noir zuzurechnenden Krimiautoren wie Jim Thompson, in dessen Bücher der Nihilismus und die Anarchie auf eine pointierte, sarkastische Spitze getrieben worden sind. Außerdem bemüht er sich, die subtilen Züge des folgenden Romans herauszuarbeiten. Mit diesem Schritt versucht er die sensationslüsternen Gewaltjunkie auf den vom Autoren beabsichtigten kritischen Weg zu lenken.
King weiß allerdings im Gegensatz zu vielen Mainstreamkritikern, über was er schreibt. Seit vielen Jahren ist er ein interessierter, wortgewaltiger Kämpfer vergessener literarischer Strömungen in den Bereichen Horror und Thriller. Sein einziger Fehler liegt in der Tatsache begründet, dass er sein eigenes Werk über weite Strecken auf das niedrigste gemeinsame Bestsellerniveau ausgerichtet hat. Damit negiert er einige der hier aufgestellten Thesen. Trotzdem wie kaum ein anderer bekannter Autor Max Allan Collins sei hier noch erwähnt bricht King eine Lanze für fast vergessene Autoren. Sie alle haben gemeinsam, mit unbeugsamen Willen gegen die Konformität der modernen Verlage anzuschreiben. Für ihre literarische Integrität opfern sie gerne hohe Tantiemen und hohle Literaturpreise. Der unter dem Pseudonym Ketchum schreibende Dallas Mayr gehört zu diesen Autoren.
Sein erster Roman Off Season die Geschichte eines Kannibalenclans, der an der Küste Maines lebt erschien auf dem Höhepunkt des Splatterpunks und verkaufte sich nicht zuletzt wegen der schlechten Mainstream, aber guten Insiderpresse mehr als 250.000. Danach folgten eine Handvoll Romane, die auch wenn sie bei großen Verlagen erschienen sind sehr schnell in Vergessenheit gerieten. So kam ein Teil der Auflage dieses Romans 1989 trotz oder wegen eines Hauses wie Time Warner gar nicht in den Verkauf. Die Zeit war noch nicht reif für seine kritischen, unheimlichen und verstörenden Exkursionen.
Nicht umsonst wird der größte Teil Ketchums nicht sonderlich umfangreichen Werkes erst zehn bis fünfzehn Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen in Kleinverlagen oder billigen Paperbacks wiederentdeckt. So erschien The Girl next Door in den Staaten als Taschenbuchausgabe zusammen mit dem ebenfalls sehr guten, aber kaum bekannten Roman She wakes.
Ihr glaubt, ihr wisst, was Schmerz ist? Diese Frage leitet nicht nur den Rahmen des Romans ein, es folgen fast dreihundertfünfzig Seiten, in denen Ketchum jede Facette des Schmerzes untersucht. Es geht im ganzen Roman nur um Schmerz: den Schmerz, den sich Kinder unabsichtlich beim Spielen zufügen, den Schmerz, den lieblose Eltern den Kindern zufügen können, den Schmerz, den sich Ehepartner absichtlich zufügen, wenn ihre Ehen nicht mehr dem Bilderbuchideal entsprechen, den Schmerz, den Menschen sich selbst aus masochistischer Freude zufügen, den Schmerz, den sie anderen Menschen in sadistischer Freude zufügen, weil sie glauben, sie so auf ihr Niveau, auf ihre belanglose Stufe herunterholen zu können und den Schmerz, den eine Kultur anderen Kulturen antut, weil sie sie nicht versteht oder akzeptiert. Geschickt reduziert Ketchum die weltpolitische Bühne auf eine kleine, äußerlich so friedliche Gemeinde. Konsequent mit unglaublicher Präzision reduziert er die globalen Konflikte auf seine überschaubare Welt und macht damit das Geschehen noch unverständlicher und unheimlicher. Wie David Lynch in seinem Film Blue Velvet gibt es keinen Unterschied mehr zwischen den großen, brutalen, gemeinen und menschenverachtenden Großstädten und den friedlichen, beschaulichen Vorstädten. Nicht die Stadt verändert den Menschen, dazu braucht er nicht die entsprechende Umgebung. Er ist selbst für seine Taten verantwortlich.
Jack Ketchums Roman ist mehr als eine sensationelle Story. Das Buch ist eine Beichte. Der zwölfjährige David erzählt seine persönliche Geschichte, viele Jahre später als Erwachsener. Inzwischen ein erfolgreicher Wall Street Makler, gutes Einkommen, zweimal verheiratet und kurz vor der dritten Eheschließung sucht er mit seiner Geschichte inneren Frieden. Er verfolgt den Spuren der Täter, um diese zu verstehen. Es bleibt nicht aus, dass er sich seinen inneren Ängsten stellen muss: die Konfrontation mit seiner eigenen Feigheit und das er über weite Strecken nicht weggeschaut damit hätte er vielleicht leben können sondern hingeschaut hat. Er gehört damit zum Heer der stummen Mittäter. Und so sehr er sich bemüht, die Erinnerungen zu verdrängen und sein Handeln zu verstehen, er kann es nicht. Sein Gewissen gibt ihm keine Ruhe.
Seine Geschichte spielt in einer kleinen Stadt in New Jersey in den fünfziger Jahren. Eine Idylle, bis in das Haus von Davids Nachbarn eine allein stehende Mutter von drei Söhnen zwei junge Mädchen einziehen. Die beiden Schwestern haben bei einem Verkehrsunfall ihre Eltern verloren und Ruth ist die einzige entfernte Verwandte, die sich ihrer erbarmt. Während die jüngere Schwester Susan noch durch ihre Verletzungen behindert wird, bemüht sich die ältere Meg ihrer neuen Stiefmutter zur Hand zu gehen. Doch was die hübsche Vierzehnjährige auch anpackt, sie kann es Ruth nicht recht machen. Aus kleinen Bestrafungen wird ein immer sadistischeres Spiel. Susan ist das Pfand. Ruth sucht ein Ventil. Sie schwärmt immer von ihrer Vergangenheit, als sie im Beruf erfolgreich gewesen ist. Bevor ihr nutzloser Mann sie verlassen hat. Sie ist sich bewusst, dass sie ihr Leben aus ihrer eingeschränkten Sicht verpfuscht hat. Und diese Aggressionen lässt sie mehr und mehr an Meg ab. Sie empfindet das junge aufblühende Mädchen als Bedrohung. Für die immer geschlechtsloser werdende Ruth stellt Meg als die Chancen dar, die sie als junges Mädchen nicht ergriffen hat. Darum versucht sie deren Körper und Geist zu brechen. Mit sadistischer Freude beteiligen sich nicht nur ihre drei Söhne, sondern einige Nachbarsjungen. Was mit körperlicher Züchtigung beginnt, artet schnell aus. Ruth beginnt nicht nur die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, ihr körperlicher Verfall geht einher mit dem immer brutaler werdenden Spielen Meg gegenüber, auch das Spiel entgleitet ihr und kumuliert schließlich in einem Ausbruch brutaler Gewalt.
Mitten im Geschehen steht der Nachbarsjunge David. Bei seiner ersten Begegnung mit der aus seinen Augen für ein Mädchen patenten Meg empfindet er zum ersten Mal Gefühle für das junge Mädchen. Scheu kommen sie sich näher. Dabei verschieben sich beim unerfahrenen David die Perspektiven. Von ihrer schrecklichen Vergangenheit gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert, erkennt er relativ schnell die Hintergründe von Ruths sadistischem Verhalten. Für ihn wird das Zusehen zu einer Droge. Obwohl er sich ekelt, kann er nicht aufhören. Mehrmals wird er eingeladen, mit zu spielen. Diese Grenze kann er nicht überschreiten. Doch ist ein unbeteiligter Zuschauer wirklich unschuldig? Diese Frage ist eines der Schlüsselelemente des Buches. Jack Ketchum ist viel zu klug, um seinen Lesern eine Antwort auf diese komplizierte Frage anzubieten. Für David ist das Geschehen erst wie Fernsehen: Unreal, aber aufregend. Er ist sich darüber im Klaren, dass Meg leidet und wie sie gequält wird. Aber er ist außer Stande, die Folgen zu erfassen. Seine Position und damit auch die Schlüsselposition des übergeordneten Lesers ändert sich, als sich sein moralisches Dilemma verstärkt. Im Grunde reduziert Jack Ketchum auf eine Familientragödie die Geschichte der Menschheit. Er stellt immer wieder die gleiche Frage, egal wo wir als Zuschauer und nicht als Täter!!! Das wird oft bei der Betrachtung des Buches übersehen Gewalt in jeglicher Form begegnen. Plötzliches, schreckliches Eindringen von Gewalt in unsere sicheren, beschaulichen Lebensräume. Sie gehört leider zur menschlichen Natur dazu. Darum untersucht Ketchum auch nicht die Ursachen dieser Gewalt, sondern konzentriert sich auf die Folgen. Er verfällt nicht auf reinen Sensationsjournalismus. Bei der schrecklichsten Szene des Romans blendet David stellvertretend für den Leser aus. Er weigert sich, diese Szene noch einmal in seinem Tagebuch zu rekapitulieren. Er kapituliert selbst und sieht als einzigen Ausweg, auf die Gewalt zurückzugreifen, die Meg gegenüber angewandt wird.
Jack Ketchum erzählt diese Geschichte in kurzen, sehr präzise formulierten Sätzen. Konsequent baut er zu Beginn eine beschauliche Atmosphäre auf. Das erste störende Element ist der ehemalige Bunker unter Ruths aus. Ein Hinweis auf die krankhafte Angst vor dem atomaren Angriff durch die Fremden jeder Eindringling in diese beschauliche Kleinstadt ist ein Fremder. Das schreckliche Geschehen spielt sich ausschließlich im Bunker ab. Separiert von der sauberen Kleinstadt. Ob Ketchum ganz bewusst diese Trennung vollzogen hat, kann nicht festgestellt werden. Der Bunker trägt zur surrealistischen Atmosphäre der Geschehnisse bei. Der Plot wird sehr geradlinig erzählt, kein Raum für Ausweichmöglichkeiten. Wie bei einem Sog wird der Leser durch den übergeordneten Erzähler David in das Geschehen hineingezogen. Diese eingeschränkte Perspektive und die fast fehlende Charakterisierung der einzelnen Protagonisten macht Evil zu einer sehr intensiven Lektüre. Ketchum hat ausreichend Erfahrung, um seine Leser zu manipulieren. Im Gegensatz zu seinen oft expliziert splatterartigen anderen Texten beschreibt er zwar Gewalt psychologische und körperliche Folter -, die unangenehmen Details gehören aber zur Geschichte und wirken nicht aufgesetzt.
Evil ist eine unangenehme Geschichte zu nahe an unserer gegenwärtigen Realität. Jack Ketchum fasst die oft unbegreiflichen Ereignisse in Worte. Sein Roman ist unangenehm, berührt die Leser und zerstört jegliche Illusion, dass das Wegsehen eine Alternative ist. Es ist ein Plädoyer für Zivilcourage, keine brutale, sensationslüsterne Story. Es ist ein wichtiges Buch eines unterschätzten Autors. Es ist brandaktuell. Es ist wichtig.
Jack Ketchum: "Evil"
Roman, Softcover, 335 Seiten
Heyne 2006
ISBN 3-4536-7502-9
12. Jan. 2007 - Thomas Harbach
http://www.sf-radio.net/buchecke/horror/isbn3-4536...
Der Rezensent
Thomas Harbach

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