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Irrungen und WirrungenEpisode 10 von Tanya Carpenter & Melanie Stone Die Tür wurde mit einer Energie aufgestoßen, die normalerweise im Schloss morgens um sechs Uhr ihresgleichen suchte. Horst, vor seiner ersten Kanne Kaffee und somit noch nicht Herr seines Sprachzentrums, hob müde den Kopf, um dem feindlichen Gute-Laune-Streber mit geballter Morgenmuffligkeit entgegenzublicken, als auch schon der Reihe nach erst seine Lider hoch und dicht gefolgt sein Kiefer herunterklappte. „Donnerlittchennocheinmal“, raunte er in D-Moll und suchte Halt an der Küchentheke. Er hatte im Lauf seines Trolllebens ja schon so einiges zu Gesicht bekommen, aber das vor ihm … das war … ja, was war das eigentlich? Er legte den Kopf schief und versuchte mühsam zu übersetzen, was seine Augen ans entkoffeinierte Hirn funkten. Nach einer gefühlten Ewigkeit des vergeblichen Herumrätselns spuckte es schließlich resigniert die naheliegendste Antwort aus: ein Bilderrätsel. Ja, das musste es sein. Sowas kannte er aus den Zeitschriften seiner Oma. Es mussten dabei meist Dinge gefunden werden, die nicht passen konnten, und wenn er das Bild vor sich betrachtete, fielen ihm auf Anhieb mindestens drei auf. Erstens sah das Etwas vor ihm zwar aus wie O’dol, aber es konnte sich nicht um O’dol handeln. Unmöglich! Der Graskocher, den er kannte, hatte zwar absurd lange Elfenohren, aber auf gar keinen Fall trug er eine Reihe von Piercings an ihnen. Und dann das Outfit (Horst ging nahtlos zu „zweitens“ über). O’dol trug leichte Stoffe aus seiner Heimat, die locker fluffig im Wind flatterten, aber doch kein Lederoutfit, das er aus einem Depeche Mode Fundus geklaut haben musste. Das Brustgeschirr war mindestens drei Nummern zu groß und rasselte bei jedem Schritt wie eine Klapperschlange auf Valium. Horst fuhr sich – von den visuellen Reizen eindeutig überfordert – mit der Hand über die Stirn. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf der Theke ab und wagte einen weiteren Blick auf das Leder-Elfchen. Die dritte Unstimmigkeit war das Messer, mit dem O’dol gerade zu Gange war. Ein Metallmesser. O’dol verabscheute Metall in jeder Variation, vor allem in der Küche. Es zerstörte die Aura seines heißgeliebten Gemüses. Da er – militanter Gemüseaktivist - allerdings gerade anscheinend über Jahre angestaute Aggressionen an einer Rinderhälfte ausließ, die er dem Zusammenbruch nah auf dem Rücken hereingetragen hatte, war die Sorge um O’dols Aura im Moment wohl die geringste. In Gedanken fasste Horst zusammen: Auf unerklärliche Art hatte sich der Elf über Nacht in einen Piercing tragenden Sado-Maso-Leder-Schlumpf verwandelt, der wie ein Irrer mit seinem Messer eine Rinderhälfte punktierte. Aber zu welcher Schlussfolgerung führte das? O’dol hatte seine Tage? Oder ein elfisches Äquivalent zu BSE? Sein Küchenkumpan mutierte von Dr. Jekyll zu Mr Hyde und übte für einen Amoklauf über Mort m’Ardent? Es grauste ihm zwar, die Aufmerksamkeit des Rinderhälftenmeuchlers auf sich zu ziehen, aber wenn er heute den ganzen Tag mit dem Irren eine Küche teilte, wollte er wenigstens wissen, ob er ihm den Rücken zudrehen konnte, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. „Schätzelein“, begann er so schonend wie möglich, um den Elf zu keiner schreckhaften Handlung zu treiben. Seine Sorgen waren allerdings unnötig. O’dol schüttelte lässig mit dem Handgelenk und wollte offensichtlich das Messer mit angedeuteter Wellen-Wurftechnik in das dunkelrote Fleisch versenken, verfehlte es jedoch und traf stattdessen das massive Holzbrett. Mit hochroten Ohren zerrte der Leder-Elf am Schaft, ohne die Klinge auch nur einen Millimeter zu bewegen. Horst seufzte, trottete zu dem Bild des Grauens, schob O’dol beiseite und zupfte das Messer ohne größere Kraftanstrengung aus dem Holz. „Schätzelein, ich denke, wir sollten reden.“ Er legte die Klinge außerhalb O’dols Reichweichte auf den Tisch. Sicher war sicher! „Hier läuft irgendetwas aus dem Ruder und bevor jemand die Männer mit den Hab-mich-lieb-Jacken ruft, solltest du schleunigst mit der Sprache rausrücken, wieso du diesen Fummel trägst und dich benimmst, als hättest du mit der letzten Freddy Krüger-DVD unterm Kopfkissen geschlafen. Also?“ Ein trotziger Ausdruck erschien auf O’dols Gesicht, ließ ihn die Lippen spitzen und den Versuch starten, seine Arme vor der schmächtigen Brust zu verschränken. Als er sich jedoch dank seines Brustgeschirrs verhedderte und um ein Haar noch einen Abstecher in die weite Welt des Bondage machte, verschwand der trotzige Ausdruck mitsamt den gespitzten Lippen und allem voran seine Elfenwürde. Bevor Horst wusste wie ihm geschah, schoss ihm eine Tränenfontäne dicht gefolgt von einem gepiercten Etwas entgegen. „Ich hahahaaaabe es versucht … wirklich … aber … aber ich schaffe das nicht!“, heulte O’dol dem Trollkoch verzweifelt ins Ohr, dem die abrupten Stimmungsschwankungen allmählich äußerst verdächtig vorkamen. Ob Gerard in seinem unerschöpflichen Fundus wohl einen Schwangerschaftstest für durchgeknallte Elfen hatte? „Du bist meine einzige Hoffnung. Du musst mir helfen, hörst du?“, schniefte O’dol mit tränenerstickter Stimme. Der Trollkoch tätschelte dem Elf gnädig den Rücken. „Sischer datt. Was haste denn uff’em Herzen, Schätzelein?“ „Mach mich zum Mann!“ Horst Augen wurden groß wie Untertassen und er versteifte sich bis in den kleinen Zeh. Also er konnte sich ja viel vorstellen, aber ... „Und vielleicht fragen wir auch gleich Gerard.“ ... hoffentlich war es Elfen-BSE! ![]() „Ich weiß nicht, ob wir wirklich gleich zu dritt …“ „Willst du nun zu einem Mann werden oder nicht?“ „Ja, schon. Aber muss denn Gerard wirklich auch noch mitmachen?“ „Auf jeden Fall! Erstens kam die Idee von dir ...“ „Ja schon, aber das war ja mehr ein Reflex.“ „... und zweitens hat er eine Ausstattung, da träumst du von!“ „Wirklich? Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“ O’dol und Horst spähten über ihre Schultern zu Gerard, der dem Gespräch wie einem Tennismatch gefolgt war und sich nun verlegen räusperte. „Nun, da meine Ausstattung gerade zur Sprache kommt: Ich habe wie versprochen Dr. Lovebones Sonderband Testosteron für Anfänger mitgebracht. Vielleicht könnte mir dafür einer erklären, um welch dringende Angelegenheit in Sachen Entwicklung des männlichen Balzverhaltens es sich hier handelt, für die ich sogar das Pantoffelanwärmen für die Herrschaften unterbrechen musste?“ Der Trollkoch drehte sich um und klopfte dem Butler brüderlich auf die Schulter. „Schätzelein, die Sache ist einfach: Wir müssen O’dol zum Mann machen.“ Gerards Augenbrauen verschwanden im Haaransatz. „Was?“, fiepte er und schüttelte den Kopf. „Horst, die Sache mit Lord Gil und mir in der Nische war nicht so wie es aussah! Ich kann das erklären!“ „Nische?“ O’dol sprang rasselnd von seinem Küchenhocker auf und schaute interessiert zum Butler, der leise stöhnend sein Gesicht in den Händen verbarg. „Das hast du nicht mitbekommen?“, fragte Horst breit grinsend und rieb sich schon die Hände, einen Insider zum Besten geben zu können. „Also das war so …“ „Horst!“, ging Gerard energisch dazwischen. „Wenn ich nicht sofort erfahre, was hier los ist, werden Dr. Lovebone und ich augenblicklich wieder gehen!“ „Na schön.“ Horst fand sich seufzend damit ab, dass Gerard wohl keinen Sinn für Humor hatte, wenn es um die Sache in der Nische ging. Und er brauchte den Butler jetzt, denn allein würde er mit O’dols Ansinnen nicht fertig werden. „Unser gepiercter Jungspargel hier ist verliebt.“ Gerard sah verständnislos von einem Koch zum anderen. „Aber wozu dann …“ „In den Einsamen Nudisten“, ergänzte Horst und genoss sichtlich, wie dem Butler die Kinnlade zu Boden sackte. „Ging mir genauso, altes Haus.“ „Du bist sogar in Ohnmacht gefallen, Horst“, fiepte O’dol dazwischen und startete einen neuen Versuch, die Arme vor der Brust zu verschränken. Als er sich jedoch abermals verhedderte und um ein Haar mit einem seiner Ohrringe zu einem modernen Kunstwerk mutierte, gab er auf. Gerard räusperte sich einige Male, strich seine Fliege glatt und kontrollierte mit geübter Hand, ob sich von dem Schreck auch keine Haarsträhne aus dem Pomadenpanzer befreit hatte. „Nun, meinen Glückwunsch, O’dol. Ich verstehe nur immer noch nicht, wofür du Hilfe brauchst. Wie ich schon erwähnte verfüge ich über keinerlei Expertise bezüglich ... bezüglich ... doppeltem Testosteronaustausches“, brachte er schließlich mühsam hervor und lief dunkelrot an. „Aber du bist ein Kerl!“, stellte Horst klar. „Das will ich wohl meinen!“, unterstrich Gerard. „Ich habe nicht umsonst die ...“ „Ja, ja, schon gut.“ Horst winkte ab, ehe Gerard beginnen konnte, seine Qualifikationen aufzuzählen. Der Troll hatte heute fünf Speisegänge zu servieren und wenn der Butler einmal loslegte, wären sie vor morgen früh nicht fertig. „Dass du der richtige Mann für die Sache bist, liegt auf der Hand. Also ran an den Mann.“ Gerard hielt den Ratgeber von Dr. Lovebone vor sich als sei dies eine Bibel mit der er einen Höllenfürsten in Schach halten wolle. O’dol nutzte die Gelegenheit und krallte sich die Druckware, was ein wahres Konzert von Kettengliederrasseln verursachte, das jedem Schlossgespenst Ehre gemacht hätte. „Das Problem ist“, erklärte Horst, um keine Zeit zu verschwenden. „O’dol ist Jungfrau. Und das im doppelten Sinn.“ „Aber er ist doch im Mai geboren“, warf Gerard ein. „Datt mein ich nicht.“ Horst fuchtelte ungeduldig mit der Hand in der Luft und Gerard ging in Deckung, weil in selbiger ein Schlachtermesser lag, mit dem der Troll während ihrer Krisensitzung bereits den Frühstücksschinken aufschnitt. Multitasking war eben alles. „Er hat noch nie und ist außerdem eher weiblich veranlagt, verstehst?“ Gerard verstand rein gar nichts, nickte aber dennoch. „Fein! Also müssen wir ihn umpolen.“ Die Verwirrung des Butlers erreichte ein bedenkliches Ausmaß und das passierte ihm relativ selten. Wieso sollten sie O’dol umpolen? Und worauf? „Gehe ich recht in der Annahme, dass der Einsame Nudist ihm bereits einen Korb gegeben hat? Dann wäre der Ratgeber über Liebeskummer vielleicht die bessere Wahl“, bot er versuchsweise an, musste aber feststellen, dass er daneben lag. „Rudi liebt mich!“, erklärte O’dol und brachte Gerard damit vollends aus dem Konzept. „Rudi? Ich dachte, es ginge um den Einsamen Nudisten! Oder um ein Eifersuchtsdrama? Dazu empfehle ich die Lektüre…“ „Ahhhhhhrggggghhhhh!!!!!!“ Zum ersten Mal passte das Aussehen des Elfen mit seinem Verhalten zusammen, was das erneute Kettenrasseln deutlich bedrohlich klingen ließ. „Ihr habt überhaupt keinen Respekt!“, warf er Gerard vor und ballte die Hände zu Fäusten. „Niemand hier. Deshalb ist Rudi ja auch so mürrisch. Er hat eine äußerst sensible Seele, die permanent mit Füßen getreten wird. Das hält er einfach nicht aus.“ Allmählich dämmerte es Gerard, während Horst immer noch mit hochgezogenen Brauen am Frühstück arbeitete und wortlos der Szenerie folgte. „Niemand hat sich je die Mühe gemacht, ihn zu fragen“, setzte O’dol mit schmollend vorgeschobener Unterlippe nach und kratzte mit dem Fuß über die blankgewienerten Küchenfließen. Gerard war peinlich berührt. Wie konnte ihm ein solcher Fauxpas unterlaufen? Auf der Butlerschule hatte man ihm doch eindringlich eingetrichtert, dass jedes Individuum mit angemessenem Respekt zu behandeln sei. Das fing bei der korrekten Anrede an. Aber hatte er jemals überhaupt irgendeine Anrede beim Einsamen Nu... – Rudi! – verwendet? Nein! Vor Gram schrumpfte er zwei Zentimeter in sich zusammen. Das musste er unbedingt wieder gutmachen. Nur wie? Ein Geistesblitz zuckte durch ihn hindurch und er sah O’dol mit leuchtenden Augen an, was Horst ein verwirrtes: „Äh!? Wie jetzt?!“ entlockte. „Ich helfe dir! Also euch! Wo genau liegt euer Problem?“ Damit legte er O’dol freundschaftlich den Arm um die Schulter und führte ihn aus der Küche heraus, da sich in seinen Augen ja bereits gezeigt hatte, dass Horst nur für Verwirrung sorgte und wenig hilfreich war. Dieser blieb verständnislos in seinem Refugium zurück, zuckte schließlich die Schultern und machte sich daran, die fünf Mahlzeiten für diesen Tag herzurichten. Einer musste in diesem Liebestollhaus schließlich seinen Job machen. Sonst wären die Herrschaften am Ende auch noch unfreiwillig auf Diät. Das ging mal gar nicht. ![]() „Und gleich noch mal. Ein, zwei, rechts, links, Griff ... nein, nein, nein, doch nicht so. Kneten oder kratzen, O’dol. Das muss ...“ „Was macht ihr beiden denn hier?“ Natascha betrachtete sich das Durcheinander von diversen Herrenoutfits, Lovebone’schen Ratgebern und einigen undefinierbaren Accessoires. Über allem lag der Duft von Ambra und Moschus. Nein, Duft war eigentlich der falsche Ausdruck. Es stank wie in einem Auerochsenstall! Umwerfende Note, da war jedes Narkotikum unnötig. Und die Krönung war der Elfenkoch im Spagat, der sich offenbar das Gehänge im Schritt eingeklemmt hatte, oder was sollte der verzerrte Gesichtsausdruck und der panische Griff in die Zwölf? Gerard räusperte sich leicht verlegen. „Also, das ist nicht, wonach es aussieht“, begann er. „Es sieht nach Chaos aus“, stellte die Restaurantleiterin fest. „Gerard, so habe ich dein Zimmer noch nie gesehen. Und was macht O’dol da für Verrenkungen?“ Sie hob mit spitzen Fingern einen Lederschlips und eine gepunktete Boxershorts hoch. „Nette Kombi! Übt ihr für den nächsten Maskenball?“ „Ich muss ein Mann werden.“ O’dol ließ sich auf Gerards Bett sinken und die Schultern hängen. „Aber das wird wohl nichts.“ Natascha blickte von Gerard zu O’dol und wieder zurück. „Wozu und wozu?“, wollte sie wissen. „Bitte wie?“, hakte Gerard nach. „Na, wozu muss er ein Mann werden und wozu dieses ganze Zeugs? Ich meine, O’dol ist doch ein Kerl. Er benutzt die Herrentoilette, hat keinen Busen. Also wenn da tatsächlich was zwischen den Schenkeln baumelt, das du dir beim Spagat gerade halb verbogen hast, weiß ich nicht, wo das Problem sein soll. Und wozu ist es gerade jetzt so wichtig?“ Gerard hielt der verwirrten Natascha das aufgeschlagene Buch von Dr. Lovebone über „Testosteron für Anfänger“ unter die Nase. Dort war bildlich der „männliche Griff in den Schritt“ dargestellt, der als ultimativ maskulines Signal an die Umwelt erläutert wurde. Natascha wusste nicht, worüber sie mehr lachen sollte. Über den Ratgeber oder Gerards Versuch, es stilecht zu imitieren, der gründlich in die Hose ging. Wortwörtlich. „O’dol ist in unseren Einsamen Nud...“ Ein Räuspern vom Bett erklang und Gerard holte tief Luft. „... in Rudi verliebt.“ Er ignorierte Nataschas fragenden Gesichtsausdruck. „Da aber allein das rosa Batikbettlaken für sich spricht, von der weiblichen Empfindsamkeit seines Gemütes ganz zu schweigen, muss davon ausgegangen werden, dass Rudi auf jeden Fall die weibliche Seite der Gemeinschaft verkörpert. Für eine glückliche Beziehung ist es somit unerlässlich, dass O’dol den Gegenpart übernimmt. Und das üben wir jetzt.“ „Was für ein Blödsinn“, war alles, was Natascha dazu einfiel, auch wenn sie Gerard damit in seiner Ehre kränkte. Sie packte O’dol bei den Schultern und drehte ihn einmal um die eigene Achse. „Also, mein Hübscher. Erstmal wischst du dir den schwarzen Lidschatten von den Wangen. Das sieht nicht nach Dreitagebart, sondern nach Kohlengrube aus. Dann tauschen wir die Latzhose wieder mit deiner Küchenschürze und du erklärst mir mal genau, wo euer Problem liegt. Wenn ihr euch liebt, ist es doch völlig wurscht, wer welche Rolle übernimmt.“ Gerard wollte schon einwenden, dass dies Männersache sei, die sie aufgrund ihres Geschlechtes nicht recht verstehen könne, doch Natascha hörte ihm gar nicht zu. „Lady Lucy und Lord Gil warten seit einer Stunde auf ihr Frühstück. Deshalb bin ich überhaupt hier. Die beiden haben sich Sorgen gemacht, du könntest das erste Mal in einhundertfünfzehn Butlerdienstjahren krank geworden sein.“ In Gerards Gesichtszüge trat Panik. Vor lauter Helfersyndrom hatte er seine Pflichten vergessen. Mit wehenden Frackschößen stürmte er Richtung Küche. „Ach und Gerard“, rief Natascha ihm noch hinterher. Er wirbelte in gekonnter Pirouette zu ihr herum. Gelernt war eben gelernt. „Für so ein stattliches Alter hast du dich super gehalten.“ Sie zwinkerte, was ihm verlegene Röte in die Wangen trieb. Beseelt von Glückseligkeit setzte er seinen Weg fort, um Lord und Lady das Frühstück zu bringen. ![]() Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu, das spürte Lucy schon den ganzen Morgen. Erst wurde sie durch Kettenrasseln und zugeschlagene Türen aus dem Schlummer gerissen, als würde Poldi seine neueste Spuknummer einstudieren, der jedoch stattdessen mit neuen floralen Blutmustern an den Tapeten experimentierte. Dann fand sie die Küche leer vor, von einer übel zugerichteten Rinderhälfte abgesehen. Ihr Frühstück wurde über eine Stunde zu spät serviert, weil Gerard spurlos verschwunden war und dann bestand das erste Menü des Tages nicht aus der gewohnten von O’dol liebevoll zubereiteten Beeren-Mousse auf frischen Brötchen, sondern aus Horsts Alternative von rohem Schinken an Knochenmarkpürree. Sie verzog angewidert den Mund. Gil hatte ebenfalls beschlossen, lieber Diät zu halten. Nun ging Gerard zwar wohlauf wieder seinen Pflichten nach und war gerade mit Waldis Milch im Kinderzimmer verschwunden, dafür fehlte von Natascha jede Spur und O’dol war angeblich gestern Abend zum letzten Mal gesehen worden, wenn man den Aussagen von Gerard und Horst glauben schenken wollte. Die allerdings beide sehr nervös gewirkt hatten, als Lucy sie auf den Elfen ansprach. Da war doch hoffentlich kein Komplott im Spiel? Oder noch schlimmer: Ein Verbrechen! Sie fügte die malträtierte Rinderhälfte mit dem Verschwinden ihres Koches und dem Anschlag auf ihre Geschmacksnerven zusammen und kam zu dem Schluss: Jemand hatte Stichübungen an dem wehrlosen Fleischstück vollführt, um dann souverän O’dol zu töten. Wer besaß ein Motiv? Ganz klar Horst, denn O’dol und er waren ja so was wie Konkurrenten. Und wenn Gerard ihn deckte, war er entweder Komplize oder wurde von Horst erpresst. Lucy wurde noch eine Spur blasser als gewöhnlich. „Ich lebe mit Mördern unter einem Dach.“ Die Erkenntnis war so erschreckend, dass sie sie unbedingt mit jemandem teilen wollte, doch Gil war leider außer Haus, da ihm nach dem missratenen Frühstück doch der Magen geknurrt hatte. Also machte sich Lucy auf die Suche nach Natascha, weil Gerard offenbar gerade den Tarnkappenmodus für sich entdeckt hatte und jedes Mal unsichtbar wurde, wenn Lucy in seine Nähe kam. Inklusive klein Waldemar, der Versteckspielen ohnehin so sehr liebte, dass er darin Perfektionist war. Horst wollte sie nicht über den Weg laufen, solange sie ihn im Verdacht hatte und O’dol ... oh je, hoffentlich hatte er nicht allzu sehr leiden müssen. Was der Troll wohl mit ihm gemacht hatte? Völlig in Gedanken versunken, rannte sie in den Einsamen Nudisten hinein. „Können Sie denn nicht aufpassen!“, schimpfte es unter dem rosa Batikdruck-Bettlaken hervor. „Oh Entschuldigung. Ich habe dich gar nicht gesehen.“ „Wundert mich nicht. Jeder übersieht ein Bettlaken. Davon, dass mein Genie der Haute Couture verkannt wird, will ich gar nicht reden.“ Lucy blinzelte, entschied aber, dass sie gerade wichtigere Dinge zu tun hatte, als sich um die Gemütsverfassung des Hausgeistes zu kümmern, als dieser mit tränenerstickter Stimme wisperte. „Und jetzt ist auch noch O’dol verschwunden. Der Einzige, der mich versteht.“ Lucy bekam große Augen und legte dem Bettlaken tröstend die Hand auf die Schulter, was gar nicht so leicht war, wenn man nicht erahnen konnte, wo sich da eine Schulter befinden sollte. „Ich wusste gar nicht, dass ihr beide befreundet sein.“ „Befreundet?“ Der Einsame Nudist schniefte und ein wenig kleidsamer feuchter Fleck erschien im Batikmuster. Keine Spur mehr von seiner Mürrischkeit oder seinem gewohnten Zickengehabe. Vor sich sah die Herrin von Mort m’Ardent einen zutiefst traurigen Hinterbliebenen. „Er ist meine Muse, meine Sonne, mein Adonis.“ Lucy schluckte. „Dann wart ihr also ... ein Liebespaar?“ „Wir sind ein Liebespaar! Schon seit zwei Monaten. Gestern sollte die Nacht der Nächte werden. Aber er ist nicht gekommen und jetzt ist er verschwunden.“ Ein Schauder rann durch Lucys Leib. Wie tragisch. Ob es am Ende gar ein Eifersuchtsdrama war, womit sie es zu tun hatte? Egal, ihr kam nun die traurige Pflicht zu, die schlimme Botschaft zu überbringen. Gerade als sie anhob, mit möglichst würdevollen Worten den Tod des Verblichenen zu erklären und dass sie dem Mörder bereits auf der Spur war, stieß der Einsame Nudist einen markerschütternden spitzen Schrei aus, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie wirbelte herum in die Richtung, in die er starrte. Lag dort die Leiche? Oder kam der eifersüchtige Kontrahent mit gezückten Waffen auf sie zugerast, um Amok zu laufen? Der Anblick raubte ihr den Atem, brachte sie dem Rand einer Ohnmacht nah. „O’dol!“, hauchte der Einsame Nudist mit zitternder Stimme. „Rudi!“, kam die deutlich entschlossenere Antwort, bei der sich Lucy nur kurz fragte, wer und wo hier ein Rudi sein mochte. In formvollendeter Verbeugung ging der Elfenkoch, gekleidet in seine jungfräulich weiße Kochschürze, die heute modisch gerafft und mit zartgrüner Borte besetzt worden war, vor dem Einsamen Nudisten auf die Knie. In der Hand einen Strauß rosa Rosen. Rot hätte sich zu sehr mit dem Bettlaken gebissen. „Ich muss dir ein Geständnis machen“, erklärte O’dol und schien weder Lucy, noch das Quartett aus Natascha, Gerard, Horst und Waldi zu bemerken, das im Hintergrund mit angehaltenem Atem stand und die Szenerie verfolgte. Dabei verwirrten die Utensilien in ihren Händen Lucy noch mehr als die Romeo-und-Julia-Szene zu ihren Füßen. Natascha zwirbelte Nadel und Faden zwischen ihren Fingern, Gerard hielt einen Ratgeber über „Ehrlichkeit – die Basis jeder guten Beziehung“ von Dr. Lovebone in den Händen, Horst eine Rosenschere und Waldi seine Milchflasche an der er zufrieden nuckelte. „Kann mir mal einer erklären, was ...“ „Scht! Nicht jetzt!“, unterbrach Natascha sie, blickte mit verklärtem Blick auf das Liebespaar und hakte sich bei Gerard unter. O’dol hingegen sammelte sich, während der Einsame Nudist die Rosen behutsam in seinem Laken zurechtschob. „Ich war nicht ehrlich zu dir, Rudi. Ich bin nicht der Draufgänger für den du mich hältst. Aber ich liebe dich aus tiefstem Herzen und schenke dir ... meine Unschuld.“ So, nun war es raus. Entweder schlug er im die Rosen jetzt über den Schädel, oder er gab ihm eine faire Chance. Alles hielt den Atem an. Man hätte fast eine Stecknadel fallen hören, wenn nicht Waldis monotones Nuckeln gewesen wäre. „Ach, O’dol“, schniefte der Einsame Nudist. „Und ich hatte schon Angst, dass ich bei deinen ganzen Erfahrungen nicht mithalten könnte und du von mir enttäuscht wärst. Als du nicht gekommen bist, dachte ich, du hättest mich verlassen.“ „Aber ... aber Rudi! Das würde ich niemals. Dann macht es dir nichts aus, dass ich jungfräulich in unsere Liebe gehe?“ Die Antwort ging im Applaus der anwesenden Zuschauer unter, doch die stürmische Umarmung des Bettlakens und der daraus resultierende Rosenregen sprachen wohl für sich. „Er ist schon ein ganzer Kerl“, sagte Horst zufrieden. „Richtig! Und ganze Kerle scheuen sich nie, die Wahrheit zu sagen“, pflichtete Natascha ihm bei. ![]() LITERRA-ONLINE-SERIE: Tot aber feurig.
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