Anna Achmatowa: Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anna Achmatowa: Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne

Achmatowa/Bauer-Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne

Ich hebe den Telefonhörer, und ich nenne den
aaaaaNamen,
mir antwortet eine Stimme, die nicht von dieser
aaaaaWelt…
Bin also nicht ganz verlassen, es weicht die tödliche
aaaaaKälte,
rings wird alles vom fahlen bläulichen Schein
aaaaaerhellt.
Ich sage: „Mein Gott, ich traue kaum den eigenen
aaaaaOhren,
sind solche Begegnungen möglich im irdischen
aaaaaÄtherfeld?“
Du antwortest: „Unvergessen blieb, was du einst verloren,
noch im Tode vernehm ich deine Stimme, die zu mir hält.“
…………………………………………………………………………………
Mich selber höre ich seufzen, beinah gelähmt vor Angst.

 

 

Hundert Gedichte über die Liebe

Über den Dichter Nikolaj Gumilijow, der ihr erster Ehemann werden sollte, sagte sie:

Ob ich ihn liebe, weiß ich nicht, aber ich glaube es.

Über ihr Heimatland, in dem ihre Gedichte jahrzehntelang nicht gedruckt, ihre Angehörigen verbannt und ermordet wurden, sagte sie:

Ich kenne überhaupt kein Land, in dem man Gedichte mehr lieben würde als in unserem und wo man sie mehr brauchen würde als bei uns.

Anna Achmatowa ist die berühmteste Dichterin der UdSSR und Russlands geworden, verehrt von ihren Lesern, hochgeschätzt von den Kolleginnen und Kollegen. Der vorliegende Band versammelt ihre hundert schönsten Liebesgedichte. Sie handeln von Freude und Leid, Erwartung und Enttäuschung, Erfüllung und Traum:

Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne.

Jutta Bauer hat die Anthologie mit ihren unverwechselbaren Illustrationen zu einem idealen Geschenkbuch für gegenwärtige und zukünftige Liebende gestaltet.

Insel Verlag, Ankündigung

 

Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne.

– Hundert Gedichte über die Liebe. –

Anna Achmatowa gehört in Deutschland – obwohl es seit den 60er Jahren schon einige Ausgaben mit Übersetzungen ihrer Lyrik gibt – etwa im Vergleich zu Majakowski – noch immer zu den weniger bekannten Namen. Deshalb verdient jeder neue Versuch, diese größte russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, die in ihrer Heimat fast sakrale Verehrung genießt, dem deutschen Leser nahezubringen, aufmerksamste Beachtung. Verkörpert Anna Achmatowa doch allein schon mit ihrer erschütternden Biographie das tragische Schicksal Rußlands. Vor der Revolution das angebetete Idol einer kunstbegeisterten Jugend, durchlitt sie in den kommenden Jahrzehnten alle Bitternisse der Geschichte ihres Volkes: 1921 die Erschießung ihres Mannes, des Dichters Nikolaj Gumiljow als Konterrevolutionär, Verhaftung und Verbannung ihres einzigen Sohnes, jahrzehntelanges Druckverbot und ein Leben in Angst und Unbehaustheit, die Höllenerfahrung der Blockade Leningrads, Flüchtlingselend in Taschkent und 1946 der berechtigte ZK-Beschluß zur Literatur, in dem sie „als Dirne und Nonne, bei der sich Unzucht und Gebet verflechten“ öffentlich geschmäht wurde.
All dies ertrug Anna Achmatowa mit unwandelbarer Würde und wachsendem Sendungsbewußtsein als Dichterin. In den Jahren von 1910 bis 1922 war die elegische Liebeslyrik der vergötterten Dichterin in breiten Kreisen populär. Sie war Mitbegründerin des Akmeismus, mit dem die mystische Abstraktheit der symbolistischen Dichtung durch eine neue Sinnlichkeit, Konkretheit und klassische Klarheit überwunden wurde. In ihrer zweiten Schaffensphase, den Jahrzehnten des stalinistischen Terrors und des Kriegs, reift ihr Werk mit den Jahrhundertzyklen Requiem und Poem ohne Held zur grandios komplexen Dichtung des Gedächtnisses, in der das Leid des russischen Volkes bewahrt ist. Bis an ihr Lebensende aber hat Achmatowa auch Liebesgedichte geschrieben.
Der von Olaf Irlenkäuser herausgegebene, schön gemachte Band – mit Modiglianis berühmtem Porträt der jungen Achmatowa auf dem Umschlag bringt nun hundert dieser Gedichte in neuer zum Teil erstmaliger Übersetzung, wobei der Schwerpunkt auf dem Frühwerk liegt. Die Auswahl ist als Ergänzung zu den in deutsch vorliegenden Sammlungen sehr zu begrüßen, denn natürlich wollen wir das Gesamtwerk dieser großen Dichterin kennenlernen, auch wenn ein paar der frühen Texte in ihrer leicht manirierten Erotik – mit Bildern wie „Hermelinmantel“ oder „weißen Pfauen“ – uns heute seltsam fremd und fern erscheinen.
Die meist lakonisch knappen Gedichte und Balladen erzählen in äußerst verdichteter Form – oft enthalten sie den Stoff ganzer Romane – vom überwältigenden Schmerz der Liebe, von Eifersucht, Trennung und Tod. Häufig sind es Rollengedichte, Minidramen, in denen sich das lyrische Ich hinter verschiedenen Masken – Königin, Dienerin, Dichterin – verbirgt.
Achmatowas Verse zeichnen sich aus durch übergenau beobachtete, konkret sinnliche Details: das auf beiden Seiten schon heiße Kissen der Schlaflosen, der Handschuh der linken, der versehentlich auf die rechte Hand gezogen wird, der auf dem Ehering ruhende, trübe Blick des Geliebten. In prägnant erfaßten Dingen oder Gesten sind die überbordenden Gefühle der Liebenden im poetischen Wort aufgehoben.
Das Spezifische und Eigenartige, das Achmatowas Lyrik so unverwechselbar macht, ist ihre syntaktisch völlig natürliche, gesprochene Umgangssprache, die gleichwohl in eine strenge metrische Form mit markanten Reimen gebannt ist. Und genau hier nun liegt auch das große Problem: ihre Gedichte sind in weiten Teilen unübertragbar. Entweder man erhält die selbstverständliche und doch auf geheimnisvolle Weise klingende Leichtigkeit der Alltagssprache, muß dann aber auf den Reim verzichten, wie es etwa Sarah und Rainer Kirsch in vielen ihrer Nachdichtungen getan haben, wodurch aber etwas sehr Wesentliches vom klassischen Klang der Achmatowschen Lyrik verlorengeht. Oder – und diesen Weg geht der junge Lyriker und Übersetzer Alexander Nitzberg – man versucht das fast Unmögliche: eben nicht nur die Klarheit und Einfachheit der Syntax, sondern auch Metrum und Reim zu bewahren.
Manchmal bezahlt er das mit allzu großer Ferne vom Original, mit weit hergehalten, künstlichen Reimwörtern. Das von ihm als wesentlich Erkannte jedoch – der ruhige Fluß der Sätze – wird meist im Deutschen nachvollziehbar. Etwa in der aus nur sieben Doppelzeilen bestehenden, eine dramatische Dreiecksgeschichte von Eifersucht und Tod enthaltenden Ballade vom „grauäugigen König“, der hier allerdings aus metrischen Gründen zum „König mit samtigem Blick“ wird. Manchmal gelingen Alexander Nitzberg wunderbare, überzeugende Lösungen, wie in dem Gedicht von 1917:

Wir müssen den Abschied üben.
Schlendern zu zweit herum.
Es dämmert.
Wir gehn im Trüben.
Du grübelst.
Ich bleibe stumm.

Karla Hielscher, Deutschlandfunk, 18.5.2000 (Rezension einer anderen Ausgabe)

Das Geheule der Eule im Garten

– Warten, Hoffnung, Entsagung, Enttäuschung: Liebesgedichte von Anna Achmatowa. –

Aus der Interjektion „Ach“ erwuchs schließlich alle Lyrik, schreibt Wolfgang Kayser in Das sprachliche Kunstwerk. Ein Satz, der die Auffassung, was Lyrik sei, nachhaltig geprägt hat. Vor allem Liebesgedichte sind Ach-Gedichte. Auch die von Anna Achmatowa. Abschiede, Sehnsucht, Briefe, die nicht kommen, Schwüre, die gebrochen werden, Warten, Hoffnung, Enttäuschung, Entsagung, das ganze Repertoire von erster bis verschmähter Liebe wird aufgeboten, mit allen dazugehörigen Requisiten von Sonne, Mond und Sterne bis zu Friedhof, Grab und Telefon.
In der Mehrzahl versammelt der Band Gedichte einer knapp Zwanzigjährigen, die noch wenig mit der Welt zu schaffen hat. Zu der Achmatowa reift die Dichterin erst Jahrzehnte später, wenn zu Empfindungs- und Sprachmächtigkeit das Gedankliche als Nerv und Rückhalt ihres Werks hinzukommt.
Dem heiligen Hieronymus wird der Satz zugeschrieben, Übersetzer schleppten ihre Bedeutung nach Hause wie Eroberer ihre Gefangenen. Je zarter ihre Beute, je größer die Gefahr, dass sie den Transport nicht übersteht. Immer wird der Urtext durch Übersetzung verletzt. Nur selten gewinnt ein Original, etwa die braven Sonette der Louise Labbe in der berauschenden Übertragung Rilkes. Meist geht der Weg in umgekehrter Richtung. Das Neuartige, Überraschende, Vorrangige wird aufgegeben zu Gunsten des Gewohnten, Herkömmlichen. So auch in diesen Übertragungen. Ein Grund liegt sicher darin, dass der Übersetzer sich entschieden hat, den Reim aufrechtzuerhalten. Dies zwingt dann häufig zu einer Wortwahl und zu Umstellungen, die altbacken wirken, bisweilen lächerlich. „Sonne“ reimt sich auf „Liebesbronne“, „Arroganz“ auf „Engelskranz“, „… am Tore schallte das Gepoch; wie eine Eule / erhob der Garten ein Geheule.“ Der Lyriker Heinz Czechowski übersetzt diese Zeilen:

… Und vor der Türe heulte das Verderben
Wie Eulenruf der Garten, schwarz.

Der Reim fordert seinen Tribut in so neckischen Sentenzen wie:

Bildet wie in diesen Liebesgedichten der Ausdruck von Gemütsbewegungen den Mittelpunkt, kommt alles darauf an, ob es gelingt, dem menschheitsalten Hangen und Bangen noch einmal neue Facetten, neue Töne abzuringen.

Die Qualität steht und fällt mit frischer Sprache, unverbrauchten Bildern, originellen Fügungen. Scheinbar wie nebenher gesprochene Verse fordern allerdings den Übersetzer nicht minder, sondern eher stärker heraus als der Transfer komplexer Gedankengänge. Letztere, traditionell als Gedankenlyrik bezeichnet, verlieren zwar in der Übersetzung oft die dem Denken innewohnende Musik, doch bleibt meist wenigstens die Sichtweise, der Weg des Gedankens erhalten.

„Wir lassen nur die kurzen Treffen zu / und wahren so die gegenseitge Ruh“ oder „Will mein Teuerstes zerstören, / und dein Flehen lässt mich kalt / Wirst du mir nicht ganz gehören, / dann erschlage ich dich halt.“ So etwas sollte „die größte russische Dichterin unseres Jahrhunderts“ (Klappentext) geschrieben haben? Rainer Kirsch übersetzt:

Er flüstert: „Keine Schonung, nichts,
Für das, was ich liebe – du
Wirst bei mir sein, liebst nur mich,
Oder ich: der dich erschlug“.

Ob ein Gedicht gut oder schlecht übersetzt – und damit in der fremden Sprache in gutes oder schlechtes Gedicht – ist, entscheidet, wieweit die Originalität sprachlicher Erfindungen erkannt und gewahrt wird. Dass es letztlich das Unübersetzbare ist, was eine Sprache am Leben hält, muss dabei immer in Kauf genommen werden. Doch sollte sich ein Übersetzer bemühen, in seiner Sprache der fremden das Stück Leben neu einzuhauchen, das sie im Übertragungsprozess notwendig verloren hat. In den Übersetzungen dieser Auswahl wird allzu oft einer konventionellen „poetischen“ Sprache das Wort erteilt, wird geglättet und schöngeschrieben.
Dennoch lösen auch diese Übertragungen die Gedichte aus ihrer Fixierung in Ort und Zeit ihres Erscheinens, schaffen ihnen einen neuen Raum, stellen sie in eine neue Zeit. Das bleibt verdienstvoll. Sicher wäre Alexander Nitzberg Besseres gelungen, hätte er sich nicht an das Prokrustesbett des Reimzwangs gefesselt.

Ulla Hahn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.6.2000 (Rezension einer anderen Ausgabe)

Kein Zugang

Ich weiß: Anna Achmatowa genießt in Russland und darüber hinaus Kultstatus, sie hatte Freundschaften mit zahllosen namhaften KünstlerInnen und wird heute noch rezipiert und (neu) übersetzt, deshalb erwarb ich auch dieses Bändchen (auch weil die Insel-Bücherei für gewöhnlich ungemein schöne Bücher macht) – und dennoch: ich kann mit den Liebesgedichten wenig bis nichts anfangen. Das mag an der eher schlichten Form der Gedichte liegen (meist vierzeilige Strophen, immer gereimt) oder auch an dem klagenden Tonfall, der die Mehrzahl der Gedichte beherrscht. An der Übersetzung dürfte es nicht liegen: auch wenn ich kein Russisch beherrsche, so kann ich zumindest sagen, dass der Übersetzer Alexander Nitzberg – was Rhythmus, Reim und Klang betrifft – sehr gut gearbeitet hat; da gibt es keine halben Sachen, keine Brüche im Tonfall und keine falschen Reime usw.
Was mich hingegen wirklich stört, sind die Illustrationen von Jutta Bauer: in Kinderbüchern mögen die naiv gehaltenen Figuren und Motive hingehen (Bauer hat tatsächlich viele Kinderbücher illustriert), hier sind sie meines Erachtens deplatziert und konterkarieren die Gedichte.
Resümee: Für mich – leider – ein Fehlgriff.

Christoph Janacs, amazon.de, 14.5.2020

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Christine Gölz: Anna Achmatowa
dekoder.org, 23.76.2017

 

Anna Achmatowa

Wenn die Sizilianer ein Fest feiern, bringen sie einen Tag lang die Nöte der Insel zum Schweigen. Dann siegt der Pomp. Nachdem sie beschlossen hatten, einer 75jährigen russischen Dichterin einen Preis zu verleihen, fand die Zeremonie im Teatro Massimo Bellini zu Catania statt, und nicht nur eine Schar von Würdenträgern war anwesend, sondern auch Quasimodo, Ungaretti und Ingeborg Bachmann.
Anna Achmatowa, die unnahbare Königin der russischen Poesie, eine stolze, eher junonische als venusische Schönheit in langer Robe, trug eines Abends im Dezember 1964 zum Dank für den Ätna-Taormina-Preis ein paar ihrer Verse vor, und ich durfte ihr, Gott weiß warum, in einem weinroten Plüschsessel zuhören. Untergebracht war man im San Domenico, einem ehemaligen Dominikanerkloster in Taormina, das zu einem Luxushotel umgebaut war. Ich habe es nicht gewagt, sie beim Diner anzusprechen.
Das war, bevor sie zwei Jahre später unweit von Moskau im Bett gestorben ist.
Es mag ja sein, daß Achmatowa eitel war, überheblich, eifersüchtig, klatschhaft und eigensinnig. Ihre engste Freundin Nadeschda Mandelstam deutet das in ihren Erinnerungen an, aber zugleich betont sie ihren Mut, ihre furchterregende Intelligenz und ihre Unbestechlichkeit.
Ein ruhiges Leben war ihr nie vergönnt, obwohl sie es als Kind gut hatte. Ihr Geburtsname war Anna Andrejewna Gorenko. Die Eltern lebten in Zarskoje Selo, der Sommerresidenz der Zaren, wo es Parks und Pferderennen gab, und den Sommer verbrachte sie auf der Krim. Mit elf Jahren fing sie an, Gedichte zu schreiben, was ihrem Vater nicht gefiel. Deshalb wählte sie von nun an das Pseudonym Achmatowa. Ihr Leitstern war Puschkin.
Nach der Trennung ihrer Eltern studierte sie in Kiew. 1910 heiratete sie Nikolai Gumiljow, das Haupt der Akmeisten, einer Petersburger Dichterschule, die aus einem Triumvirat bestand; der Dritte im Bunde war Ossip Mandelstam. Annas erster Gedichtband, der 1912 erschien, hieß Abend.
Nach der russischen Revolution verdüsterte sich ihr Leben. Sie ließ sich von Gumiljow scheiden, der 1922 wegen „konterrevolutionärer Tätigkeiten“ erschossen wurde. Ihr zweiter Mann, ein Kunsthistoriker, fiel einer Säuberung zum Opfer und starb 1953 in Workuta, einem Arbeitslager.
Jahrzehntelang wurde nichts mehr von ihr gedruckt. Lew, ihr einziger Sohn, wurde mehrmals verhaftet und kehrte erst 1956 aus dem Gulag zurück.
1940 wurde auf persönlichen Befehl Stalins hin, der sie bewunderte und vielleicht beneidete, ihr Band Aus sechs Büchern veröffentlicht. Iossif Dschugaschwili, wie er ursprünglich hieß, hatte schließlich als 16jähriger Student am Tifliser orthodoxen Priesterseminar selber Gedichte verfaßt, die schlecht und bis zur Wehleidigkeit sentimental waren.
1950 mußte Achmatowa einen Zyklus zum „Ruhm des Friedens“ veröffentlichen, darunter auch ein verspätetes Gedicht zum 70. Geburtstag Stalins, in dem es heißt:

Die Legende berichtet von einem weisen Menschen,
der uns alle vom Schrecken des Todes errettet hat.

War das eine Konzession, oder war es eine Anspielung auf den „Großen Vaterländischen Krieg“, der das deutsche Dritte Reich besiegt hatte?
Alles umsonst. 1946 erklärte ein gewisser Schdanow, ZK-Sekretär für Kultur und Ideologie:

Die Achmatowa ist eine wildgewordene Salondame, die sich zwischen Boudoir und Betstuhl bewegt… Halb Nonne, halb Dirne, bei der sich Unzucht und Gebet vermischen.

Die Folge war der Ausschluß aus dem Schriftstellerverband, was einem erneuten Schreib- und Publikationsverbot gleichkam. Ihrem Freund Pasternak erging es später ebenso. Anna mußte „von Brot und Tee“ leben. Von da an lernte sie ihre Gedichte auswendig und verbrannte ihre Manuskripte. „Hände, Zündhölzer, ein Aschbecher – ein schönes und bitteres Ritual“, so schildert Lydia Tschukowskaja in ihren Erinnerungen diese Szene.
Aber dann kam plötzlich Isaiah Berlin zu einem denkwürdigen Besuch nach Leningrad, ein jüdischer Philosoph, in Riga geboren, der nicht nur Russisch sprach, sondern die Literatur und das geistige Klima des Landes in- und auswendig kannte. Er war damals Sekretär an der britischen Botschaft in Moskau. Für Achmatowa war das seit über 30 Jahren der erste Mensch aus dem Westen, ein „Gast aus der Zukunft“, dem sie in einer langen Nacht alles erzählte, was sie erlebt hatte. Berlin berichtet von dieser Begegnung in seinen Personal Impressions von 1980. Wer Achmatowa verstehen will, muß zu diesem Buch greifen, von dem auch eine deutsche Übersetzung existiert. Erst nach mehr als 40 Jahren sind Nadeschda Mandelstams verschollen geglaubte Erinnerungen an Anna Achmatowa ans Tageslicht gekommen, weil ein Typoskript bei einer Bekannten erhalten blieb. Die beiden Freundinnen verband nicht allein die Liebe zur Dichtung, die Erfahrung von Krieg, Terror und persönlichen Verlusten, sondern eine leidenschaftliche Beziehung zu Ossip Mandelstam.
Nadeschdas hingehauener Text ist provokant, illusionslos und manchmal geradezu zynisch. Sie sieht die russische Poesie der Moderne von ihrem Ehemann Ossip derartig beherrscht, daß ihm neben Pasternak nur Achmatowa das Wasser reichen könne. Blok, Chlebnikow und Majakowski fertigt sie als Kretins ab. Auch die Frau, mit der sie Verfolgung, Entbehrung und die Querelen der Dreisamkeit durchgestanden hat, schont sie nicht, sondern spricht von den weniger liebenswürdigen Zügen ihrer engsten Freundin, von ihrem Jähzorn, ihrer Rechthaberei und ihrer Unbarmherzigkeit. „Wie konnte es passieren“, fragt sie sich, „daß Anna, Ossip und ich, drei Dickschädel, drei Strohköpfe, drei unglaublich leichtsinnige Menschen, unseren Bund so lange aufrechterhalten haben?“
Wenn diese Vignette ein paar Zeilen länger als die anderen ausfällt, so liegt das daran, daß es hier um eine Frau geht, die das „Jahrhundert der Wölfe“ unbesiegt überstanden hat.

Hans Magnus Enzensberger, aus Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, 2018

Anna Achmatowa

Ellen Hinsey: Wann sind Sie Anna Achmatowa zum ersten Mal begegnet?

Tomas Venclova: Ich denke, es war im Jahr 1963. Unsere Vermieterin Jelena Wassiljewa war mit Achmatowa persönlich bekannt, obwohl sie nicht zu ihrem unmittelbaren Umfeld gehörte. Einmal hatte Achmatowa Jelena darum gebeten, das Manuskript ihres Essays „Puschkin und das Ufer der Newa“ mit der Schreibmaschine abzutippen. Achmatowa hatte Leben und Werk von Alexander Puschkin jahrzehntelang intensiv studiert: Als die sowjetische Zensur in den dreißiger Jahren jegliche Publikation ihrer Gedichte blockierte, wurde sie zu einer professionellen Puschkin-Forscherin. Brodsky hielt sie übrigens für eine der Besten auf diesem Gebiet und für die Einzige, die Puschkin intellektuell und künstlerisch ebenbürtig war.

Hinsey: Welche Gründe hatte Achmatowa, sich mit Puschkin zu beschäftigen?

Venclova: Zum einen konnte sie damit leichter nachweisen, einer „gesellschaftlich nützlichen“ Tätigkeit nachzugehen. Zum anderen schätzte sie Puschkin mehr als jeden anderen russischen (oder fremdsprachigen) Lyriker, und sie hatte einen guten Blick für Analogien zwischen seiner Epoche und ihrer eigenen. Sie hat mich gescholten, als ich mir einmal zu sagen erlaubte, dass Puschkin für meine Generation nicht unbedingt nützlich sei.

Hinsey: Was hatte es mit dem eben erwähnten Essay auf sich?

Venclova: Der Essay „Puschkin und das Ufer der Newa“ war kein Samisdat-Unternehmen im engeren Sinne (er wurde bald darauf publiziert), aber ihm eignete das, was Achmatowa gern als „dreifachen Boden“ bezeichnete, etwas wie die Geheimfächer im Koffer eines Schmugglers. Gegenstand des Essays waren Puschkins einsame Streifzüge durch den Petersburger Stadtbezirk Wassiljeostrowski – auf den damals unbewohnten Inseln in der Newa, wo der Dichter nach den namenlosen Gräbern seiner hingerichteten Freunde suchte, die den niedergeschlagenen Aufstand der Dekabristen angeführt hatten. Genau hundert Jahre nach Puschkin war Achmatowa selbst in jenem Teil der Stadt umhergewandert, weil sie glaubte, dass ihr Ehemann Nikolai Gumiljow, ein großartiger Dichter, den die Bolschewiki hingerichtet hatten, gleichfalls dort begraben war. Diese Parallele erschloss sich nur den wenigen Menschen, die mit Achmatowa eng bekannt waren, den Zensoren musste sie entgehen.
Jelena Wassiljewa bat mich, Achmatowa das abgetippte Manuskript zu überbringen, was ich sehr gern, aber schüchtern tat.

Hinsey: Wo lebte Anna Achmatowa damals?

Venclova: Sie wohnte vornehmlich in Leningrad, zusammen mit der Familie von Nikolai Punin, mit dem sie in den zwanziger und dreißiger Jahren verheiratet gewesen war. Punin war ein avantgardistischer Kunstkritiker, auch er wurde von den sowjetischen Machthabern umgebracht: Er starb in einem Arbeitslager einige Monate nach Stalins Tod. Achmatowa besuchte Moskau regelmäßig und wohnte für gewöhnlich bei ihrer Freundin Nina Olschewskaja, deren Ehemann Wiktor Ardow – ein eher unbedeutender Satiriker, aber geistreich – die Sympathie einer Reihe von nonkonformistischen Schriftstellern, unter anderem von Michail Bulgakow und Boris Pasternak, genoss. Es war Ardow, der empfahl, Achmatowa 1951 wieder in den sowjetischen Schriftstellerverband aufzunehmen. Übrigens durfte Ardows Familie sie wie nur wenige „Akuma“ nennen, was auf Japanisch so viel wie „Hexe“ oder „Megäre“ bedeutet – ein Spitzname, den Punin erfunden hatte. Alle anderen, einschließlich Brodsky und ich selbst, nannten sie „Anna Andrejewna“. Ardows Wohnung in der Ordynka-Straße war im poststalinistischen Moskau eine nahezu legendäre Adresse. Von Jelenas Wohnung zur Ordynka war es nur ein kurzer Weg.

Hinsey: Wie verlief Ihre erste Begegnung?

Venclova: Achmatowa war allein in der ziemlich großen Wohnung der Ardows – eine untersetzte Dame mit aristokratischer Haltung (sie wurde manchmal mit Katharina der Großen verglichen), die ein wenig älter aussah, als sie es damals mit vierundsiebzig Jahren war. Wir unterhielten uns im Flur, vielleicht fünf Minuten lang – sie entschuldigte sich, dass sie mich nicht hereinbitten könne, weil ihr Zimmer nicht aufgeräumt sei. Erst bei unseren späteren Begegnungen lud sie mich in die Zimmer ein, die sie bewohnte. Ganz gleich, ob in Moskau oder Leningrad, die Räume, in denen sie sich aufhielt, glichen sich meist: ein beengtes, überfülltes Zimmer mit einem Schreibtisch und einem Sofa, sonst nichts. An der Wand hingen einige Zeichnungen – vor allem das berühmte Porträt der jungen Achmatowa von Amedeo Modigliani. Ich meine es in beiden Städten gesehen zu haben; vielleicht hat es sie immer begleitet. Aber es kann sein, dass ich mich da irre.

Hinsey: Brodsky hat gesagt, dass er erst nach den ersten drei oder vier Begegnungen mit Achmatowa wirklich verstanden habe, mit wem er es zu tun hatte. Ihnen erging es anders…

Venclova: Mir war voll und ganz bewusst, mit wem ich mich unterhielt. Unnötig zu erwähnen, dass ich überaus befangen, ja nahezu gelähmt war vor Scheu. Für mich war es, als würde ich Puschkin besuchen oder Shakespeare. Im Übrigen war Achmatowa viel weniger freundlich und kommunikativ als Pasternak, jedenfalls am Anfang. Sie wahrte Distanz, war jedoch sehr höflich.

Hinsey: Sie hatten andere Lyriker des Silbernen Zeitalters durch die Bibliothek Ihres Vaters und durch Ihre Beschäftigung mit Majakowski kennengelernt – wann hörten Sie Achmatowas Namen zum ersten Mal?

Venclova: Die ersten Verse von Anna Achmatowa, die ich gelesen habe, waren jene, die Schdanow in seiner berüchtigten Rede zitiert hat: Er bezeichnete sie als „Hure und Nonne zugleich“ – Worte, die jedes Schulkind in der Sowjetunion auswendig lernen musste. Sie waren übrigens ein Plagiat und entstammten einer Enzyklopädie aus der Vorkriegszeit. Nach dem Angriff von Schdanow, also in den späten Vierzigern, habe ich einiges von Achmatowa gelesen, weil mich, wie viele andere auch, seine herabsetzenden Worte neugierig gemacht hatten. Eine verbotene Frucht erregt Aufmerksamkeit. An der Universität gelang es mir dann, ein oder zwei Lyriksammlungen von Achmatowa in die Finger zu bekommen, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg gedruckt worden waren: kleinformatige Ausgaben, abgegriffen von Generationen von Lesern. Mein Vater jedenfalls hat seine Bewunderung für das Werk von Achmatowa im Familienkreis nie verhehlt. Manchmal las er frühe Gedichte von ihr laut vor, in seiner Bibliothek gab es eine alte Anthologie, in der viele von Achmatowas Gedichten zu finden waren. Er begrüßte es, als Schdanows Verdikt aufgehoben und 1961 ein neuer Band von ihr – wenngleich schmal und stark zensiert – publiziert wurde. Im Jahre 1963 war ich mit ihrem Werk bereits gut vertraut – zum Teil durch den Samisdat.

Hinsey: Während dieses ersten Besuchs bei ihr haben Sie sich über das Übersetzen unterhalten, Achmatowa vertrat hier einige sehr entschiedene Ansichten.

Venclova: Jelena Wassiljewa hatte Achmatowa am Telefon von mir und meinen Interessen erzählt. Nachdem Achmatowa das Manuskript an sich genommen hatte, sagte sie zu mir: „Ich habe gehört, Sie übersetzen Pasternak. Das ist zweifellos schwer, er ist so überraschend. Grundsätzlich sollte man, wenn man selbst Gedichte schreiben kann, das Übersetzen meiden. Doch es mag vorkommen, dass ein Dichter darin seine Berufung findet – Schukowski, zum Beispiel. Oder Schengeli, dessen Übertragung von Byrons Don Juan für mich besser klingt als das Original. Aber Byron ist meiner Meinung nach auch nicht der beste Dichter.“
Achmatowa selbst konnte das Übersetzen nicht vermeiden, weil es viele Jahre lang die einzige Möglichkeit war, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Gegensatz zu Pasternak war sie dieser Tätigkeit ziemlich abgeneigt. Einen Großteil übersetzte sie anhand von wörtlichen Interlinear-Übersetzungen, die andere angefertigt hatten. Übrigens hat sie, mit Hilfe der entsprechenden Philologen, sogar an chinesischen und koreanischen Klassikern gearbeitet – akademische Projekte, auf die sie stolz sein konnte. In anderen Fällen hingegen war sie ein wenig nachlässig und gab ihren Namen für Übersetzungen von Anfängern her, die sonst nicht publiziert worden wären. Achmatowa unterschrieb einfach und leitete die Honorare an die tatsächlichen Übersetzer weiter.

Hinsey: Unter Achmatowas Auftragsarbeiten waren auch Übertragungen aus dem Litauischen.

Venclova: Achmatowa sagte zu mir: „Ich habe auch Dichter Ihres Landes übersetzt.“ Ich antwortete: „Ja, Sie haben an Salomėja Nėris gearbeitet.“ Darauf waren die Litauer sehr stolz, Achmatowas Freundin Lidija Tschukowskaja hat in ihrem Tagebuch vermerkt, dass Achmatowa einmal ein bewegendes Gedicht von Nėris rezitiert hat. „Aber nicht nur sie“, sagte Achmatowa, „sondern auch eine Lyrikerin des neunzehnten Jahrhunderts.“ Sie meinte Eglė, eine eher unbedeutende Autorin – und, wie es der Zufall wollte, eine enge Freundin meines Großonkels Karolis. Ich vermute, dass die Übersetzungen von Eglės altmodischen Balladen zu jenen karitativen Gesten Achmatowas zählten – also eigentlich von jemand anderem stammten.

Hinsey: Haben Sie sich über andere litauische Angelegenheiten unterhalten? Hatte sie Litauen vor oder nach der Revolution besucht?

Venclova: Später, als ich Achmatowa regelmäßig traf, sagte sie zu mir: „Sie sind der zweite Litauer in meinem Leben.“ Der erste war Wladimir Schileiko, den sie nach Gumiljows Tod geheiratet hatte. Schilejko, ein Dichter und brillanter Assyrologe, der sumerische Texte ins Russische übertragen hat, starb – glücklicherweise – eines natürlichen Todes in der Stalin-Zeit. Er war tatsächlich litauischer Abstammung, jedoch aus einer russifizierten Familie und sprach kein Litauisch. Achmatowa bezeichnete ihn bisweilen als „Desaster von einem Ehemann“.
Vilnius hatte sie nur einmal besucht, und zwar 1914, mit fünfundzwanzig Jahren. Es war zu Weihnachten, sie begleitete Gumiljow, der in die Armee einberufen worden war und an die russisch-deutsche Front geschickt werden sollte. Sie wohnten in einem Hotel neben dem Aušra-Tor, das die Ikone der Madonna beherbergt, die als wundertätig galt – und noch immer gilt. Achmatowa betete an dieser Ikone für den Schutz ihres Mannes im Krieg. Gumiljow blieb der Tod an der Front tatsächlich erspart, es waren nicht deutsche Kugeln, die ihn umbringen sollten, sondern eine sowjetische im Jahre 1921.

Hinsey: Haben Sie mit Achmatowa über Ihren Vater gesprochen? Kannten sich die beiden?

Venclova: Wir haben nie über meinen Vater gesprochen. Sein Name war ihr wahrscheinlich nicht unbekannt, weil er ein exponierter Literat war. Sie sind sich nie begegnet, aber als mein Vater von unserer Bekanntschaft erfuhr, schickte er ihr ein Geschenk – seinen Lyrikband über Italien mit modernistischen Zeichnungen von einem jungen litauischen Künstler, Stasys Krasauskas, der zu jener Zeit in der ganzen Sowjetunion bekannt war. Vielleicht steht das Buch noch heute in ihrem Archiv.

Hinsey: Achmatowa wurde 1889 geboren. Als die russische Revolution ausbrach, waren ihre ethischen und ästhetischen Anschauungen bereits gefestigt.

Venclova: Sie war das menschliche Bindeglied zu einer anderen Ära, nicht nur zum Silbernen Zeitalter, sondern zur gesamten Tradition der russischen Kultur. In erster Linie repräsentierte sie Sankt Petersburg und sein Erbe, das zurückgeht bis zu Puschkin, sogar zu Kantemir, dem ersten professionellen russischen Dichter, der zu Zeiten von Peter dem Großen gelebt hat. Es war ein poetisches Erbe, aber auch ein ethisches: Dieses bestand in der Loyalität zu den eigenen Freunden, dem beharrlichen, doch ruhigen Widerstand gegen die Brutalität des Staates und, last but not least, in Ironie und Selbstironie. Man könnte sogar noch weiter gehen – zu dem Protopopen Awwakum und seiner Anhängerin Morosowa, jenen beiden Märtyrern des siebzehnten Jahrhunderts, die Achmatowa bisweilen erwähnt hat. Kurz, sie repräsentierte den festen Glauben an eine Wertehierarchie: Gut und Böse mussten beim Namen genannt werden. Im Gespräch mit ihr erwachte ein Bewusstsein dafür, dass diese Wertehierarchie und authentische Dichtung aufs engste – wenn gleich nicht unbedingt direkt – miteinander verbunden waren. Ein wirksames Gegengift gegen den Zusammenbruch der Moral in der Sowjetzeit und auch gegen die sowjetische oder semisowjetische Literatur.

Hinsey: Nadeschda Mandelstam sagt, Achmatowa und sie hätten sich sehr dafür interessiert, „was Tapferkeit ist“. Sie seien zu dem Schluss gelangt, dass „Tapferkeit, Mut und Kühnheit keine Synonyme sind“. Aus welcher Quelle, glauben Sie, hat Achmatowa ihre Kraft geschöpft?

Venclova: Es war die Tapferkeit, würde ich sagen. Mut und Kühnheit sind moralisch neutral – Charakterzüge, die typisch waren für viele Revolutionäre, deren Handeln letztlich das Böse befördert hat. Tapferkeit hingegen ist gewöhnlich ein Zeichen moralischer Stärke. Sowjetische Dissidenten waren grundsätzlich mutig und meist auch kühn, doch mangelte es vielen von ihnen an Tapferkeit, was ihre Ziele bisweilen in Misskredit brachte. Auf die beiden alten Frauen trifft das nicht zu, die in der vorrevolutionären Tradition mit ihren jüdisch-christlichen Wurzeln erzogen wurden. Brodsky hat einmal über Nadeschda Mandelstam gesagt, sie sei eine von nur sehr wenigen Personen im Land, für die die zehn Gebote noch immer Geltung hätten. Achmatowa übertraf sie in dieser Hinsicht vielleicht sogar.

Hinsey: Sie haben sich viele Jahre mit diesem Thema beschäftigt. Warum, glauben Sie, wurde Achmatowa selbst nie verhaftet?

Venclova: Der stalinistische Terror glich einer Lotterie. Man konnte völlig loyal sein und trotzdem umkommen, man konnte als „Volksfeind“ gelten und überleben. Ich glaube, dass diese Willkür Methode hatte: Niemand konnte sich seines Schicksals sicher sein, was Stalin sehr zum Vorteil gereichte. Im Übrigen hat sich Stalin in der Literatur ziemlich gut ausgekannt und die Bedeutung von Autoren regelmäßig richtig eingeschätzt: Pasternak, Bulgakow oder Platonow waren wertvoller als Schmierfinken besonders, wenn sie sich in Lobsänger des Regimes verwandeln ließen (im Falle von Bulgakow und Pasternak war Stalin dem Erfolg nahe). Drittens spielte vielleicht auch ein sadistisches Element eine Rolle: Achmatowa hatte ihren Ehemann und mehrere andere Menschen verloren, die sie liebte. Ihr Sohn wurde verhaftet, entlassen, erneut verhaftet. Sie selbst wurde von der offiziellen Presse verunglimpft, in Schulbüchern als Hure beschimpft, ihr Werk jahrzehntelang unterdrückt. Und das war vielleicht schlimmer als die Hinrichtung oder ein Straflager, wo man unter Umständen schneller von seinem Leid befreit worden wäre.

Hinsey: Achmatowa wurde von jüngeren Lyrikern immer wieder um Ratschläge gebeten, und sie war immer sehr taktvoll. Später zeigte sich, dass sie für solche Erwiderungen eine Reihe von vorgefertigten Antworten parat hielt. Können Sie erklären, wie das funktioniert hat?

Venclova: Achmatowa war eine gute Erzählerin und verfügte über zahlreiche Anekdoten aus dem wahren Leben, die sie wortwörtlich rezitierte. Sie bezeichnete sie gern als ihre „Grammophon-Aufzeichnungen“. In den Sechzigern wurde sie von jungen Leuten geradezu belagert, die sich von ihr Ermutigung für ihre Schreibereien erhofften. (Einmal wurde ihr mein Freund Jewgeni Lewitin, ein Kunstkritiker, vorgestellt. Nach einigen einführenden Höflichkeiten sagte Achmatowa: „Nun denn, beginnen Sie mit dem Vortrag Ihrer Gedichte.“ – „Welche Gedichte?“, erwiderte Lewitin. „Ich habe in meinem Leben noch keinen einzigen Vers geschrieben!“ – „Gelobt sei der Allmächtige!“, rief sie aus. „Endlich ein normaler Mensch!“) Aber sie empfand Mitleid mit jungen Künstlern und hatte ein feststehendes Reservoir von höflichen Antworten, mit denen sie auf die Versuche der jungen Leute reagierte – auch eine Art von „Grammophon-Aufzeichnungen“. Wenn sie zum Beispiel sagte: „Ihre Reime sind erstaunlich“ oder: „Sie sind ein Meister der Metapher“, dann bedeutete dies, dass die Gedichte zu wünschen übrig ließen, woraufhin man erwägen würde, sich in die Newa zu stürzen. Wenn die Texte jedoch gut waren, bemerkte sie: „Diese Gedichte haben etwas Geheimnisvolles.“ Das war es, was sie dem jungen Brodsky sagte und auch Natascha Gorbanewskaja.

Hinsey: Es gibt diese berühmte Anekdote über Solschenizyn, der ihr einige seiner Gedichte gezeigt hat.

Venclova: Solschenizyn hatte im Gulag begonnen, Gedichte zu schreiben – seine Verse (von denen einige inzwischen veröffentlicht wurden) waren direkt und prinzipiell politisch. Er war bereits berühmt, als er Achmatowa besuchte. Sie schätzte seine Prosa sehr, konnte aber ihre Enttäuschung über seine Lyrik nicht verhehlen. Sie sagte: „Nun ja, Ihren Gedichten mangelt es etwas an Geheimnis.“ – Solschenizyn entgegnete: „Nun ja, Anna Andrejewna, vielleicht haben Ihre Gedichte ja zu viel Geheimnis.“

Hinsey: Im Frühling 1964 haben Sie mit Judita Vaičiūnaitė zusammen an Gedichtübersetzungen für einen Achmatowa-Band gearbeitet. Wie ist es zu diesem Buch gekommen?

Venclova: Nach 1961 war Achmatowas lyrisches Werk nicht mehr vollständig verboten – jener schmale Band, den ich bereits erwähnt habe, war erschienen, eine größere Auswahl in Vorbereitung. Damals begann der Vilniuser Staatsverlag, eine Reihe von Büchern sowjetrussischer Autoren in litauischer Übersetzung herauszubringen. Das entsprach durchaus der offiziellen Politik der „Völkerfreundschaft“, hatte aber dennoch eine liberale Note: Einige der ausgewählten Lyriker, wie zum Beispiel Sabolozki, vertraten nicht unbedingt sowjetische Ansichten, und die Bücher (gewöhnlich fünf Bände in einem Schuber) wurden sorgfältig hergestellt. Meine langjährige Freundin Judita Vaičiūnaitė, eine bereits bekannte und publizierte Lyrikerin, bot sich als Kandidatin für Nachdichtungen von Achmatowa schon deshalb an, weil die litauische Kritik beide miteinander verglich. Viel später, unter Gorbatschow, hat Judita auch das Requiem übertragen. Der überwiegende Teil der Übertragungen war von ihr; ich erhielt die Möglichkeit, achtzehn Gedichte zu übersetzen – vielleicht eine Geste von Seiten des Verlages, dass ich kein unverbesserlicher Feind sei und unter Umständen noch ein normaler sowjetischer Literat werden könnte.
Dieser Auftrag war mein erstes großes literarisches Projekt, eine Aufgabe, die ich sehr ernst genommen habe. Ich kannte Achmatowas Werk auswendig und übersetzte sie auf meinen Spaziergängen durch die Gassen von Vilnius, indem ich die Bewegung ihrer Lyrik mit dem Rhythmus meiner Schritte in Übereinstimmung zu bringen suchte. Erst später brachte ich die Übertragungen zu Papier. Als ich mit dem ersten Gedicht fertig war, blieb ich in einem Innenhof, der am Weg lag, stehen und wurde mit einer unwahrscheinlich schönen Aussicht auf die Kirchtürme von Vilnius belohnt, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Es ist bis heute einer der denkwürdigsten Augenblicke meines Lebens.

Hinsey: Sie haben Achmatowa diese Übersetzungen nach Moskau gebracht.

Venclova: Als das Buch erschien, habe ich der Autorin das erste Exemplar als Geschenk von Judita und mir überreicht (Judita ist Achmatowa leider nie begegnet, sie verließ ihre Vilniuser Wohnung selten). Zu dieser Zeit war ich der Dichterin bereits zum zweiten Mal vorgestellt worden – Andrei Sergejew, der zu ihrem engsten Kreis gehörte, nahm mich einmal zu einem Besuch bei ihr mit. Ich saß mehrere Stunden da und lauschte ihrem Gespräch, wieder nahezu gelähmt.
Wie war Achmatowas erste Reaktion auf Ihre Übertragungen? Achmatowa begann mit den Worten: „Litauisch ist außergewöhnlich – ich bin stolz darauf, dass meine Gedichte in dieser Sprache publiziert worden sind. Bitte lesen Sie mir ein oder zwei Gedichte vor.“ Ich war ziemlich aufgeregt, aber ich las. Nach dem zweiten Gedicht sagte sie: „Sie haben die Intonation richtig übertragen.“ Da ich von Sergejew über Achmatowas „Grammophon-Aufzeichnungen“ informiert war, verstand ich sehr gut, dass sie die Übertragungen für misslungen hielt. Ich murmelte irgendwas, ließ das Buch auf ihrem Schreibtisch liegen und verabschiedete mich schnell. Als jungen Dichter hat mich das in einen fast suizidalen Zustand versetzt.

Hinsey: Am selben Tag ist dann auch noch der russische Philologe Wjatscheslaw Iwanow bei ihr gewesen.

Venclova: Damals war Wjatscheslaw Iwanow noch ein relativ junger Mann und galt schon als einer der gebildetsten und klügsten Menschen in Russland – jetzt ist er ein berühmter Gelehrter, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, ein Mensch mit strengen, unerschütterlichen liberalen Ansichten und dem Milieu der Dissidenten verbunden. Nadeschda Mandelstam pflegte zu sagen, dass seine gute Bildung auf glückliche Umstände zurückzuführen sei – aus gesundheitlichen Gründen hatte er nie eine sowjetische Schule besucht und deshalb lesen dürfen, was ihm gefiel. Er war der Sohn des bekannten Prosaikers Wsewolod Iwanow, von Kindheit an mit Pasternak und Achmatowa bekannt und ein enger Freund und Vertrauter von ihnen. Er wurde „Koma“ genannt- zur Unterscheidung von dem anderen Wjatscheslaw Iwanow, dem symbolistischen Dichter und Philosophen, der 1949 als Emigrant in Rom gestorben war.
Koma Iwanow hat Achmatowa häufig besucht und schaute zufällig kurz nachdem ich gegangen war bei ihr vorbei. Das Buch lag noch auf ihrem Schreibtisch und war auf der Seite mit meiner Übersetzung geöffnet. Koma beherrscht ungefähr fünfzig Sprachen fließend, einschließlich Hethitisch und Ainu, sein Litauisch ist so gut wie meines. Er las die Übersetzung und sagte Achmatowa, dass er sie für ziemlich gelungen halte. Daraufhin rief Achmatowa Jelena an und lud mich ein, sie zu besuchen, „sooft ich möchte“. In ihr zweites Exemplar des litauischen Buches schrieb sie die folgende Widmung: „Für Tomas Venclova – meine eigenen Verse, die für mich trotzdem ein Geheimnis bleiben.“ Achmatowas Schlüsselwort, „Geheimnis“, stand da, zu meiner großen Freude.

Hinsey: Danach sind Sie sich immer wieder begegnet. Wie sind diese Treffen für gewöhnlich abgelaufen?

Venclova: Ich habe Achmatowa von Zeit zu Zeit angerufen, und wir haben Tag und Uhrzeit verabredet. Manchmal habe ich Wein oder sogar Wodka mitgebracht. Sie hatte nichts gegen ein oder zwei Gläser und war der Ansicht, dass Wodka in ihrem Alter besser sei als Wein, weil er die Gefäße erweitert. Oft waren auch andere anwesend: Anatoli Naiman, eine Art persönlicher Sekretär von ihr, Punins Enkeltochter Anja Kaminskaja oder mein alter Freund Dmitri Seseman, den Achmatowa sehr schätzte. Wir sprachen über alles Mögliche, von Puschkin über das Silberne Zeitalter bis hin zu aktuellen Ereignissen. Sie war sehr au courant, was die literarische und politische Szene betraf, und vertrat entschiedene Meinungen. Sie hegte keinerlei Illusionen über das Regime, aber gelegentlich konnte sie auch ein gutes Wort für Chruschtschow aufbringen: „Man kann sagen, was man will, er hat Millionen von Häftlingen freigelassen.“ In unsere Gespräche mischten sich bald Humor und Verspieltheit. Einmal erschien Natascha Gorbanewskaja in Achmatowas Wohnung, unangemeldet wie meistens. Achmatowa sagte mit einem verschmitzten Lächeln zu Anja: „Bitte sage Natascha, dass ich sie nicht gleich empfangen kann – ich bin mit einem jungen Mann beschäftigt.“

Hinsey: Achmatowa wusste, dass sie unter Beobachtung des KGB stand, und befürchtete, dass ihre Wohnung umfassend abgehört würde. Ist seit dem Ende der Sowjetunion etwas darüber bekannt geworden, welches Ausmaß diese Überwachung hatte?

Venclova: Es besteht kein Zweifel daran, dass sie überwacht wurde. In welchem Umfang, das aber ist nicht bekannt; die gesamte russische Intelligenzija neigte ja zu einer Art Verfolgungswahn, während die jüngere Generation diesen Dingen insgesamt weniger Aufmerksamkeit schenkte. Ich denke, der KGB hat traditionellere Methoden bevorzugt: etwa die Beschattung von Achmatowa und vielen anderen. Einige ihrer Freundinnen waren tatsächlich Informantinnen des KGB, wie sich herausstellte, als nach dem Zusammenbruch des Regimes bestimmte Archive geöffnet wurden.

Hinsey: Hat Achmatowa Ihnen ihre Gedichte vorgetragen oder Verse von anderen Lyrikern, die sie mochte?

Venclova: Ja, wenn auch nicht oft. Einmal war ich bei einem besonderen Ereignis zugegen – Radio Moskau kam zu ihr nach Hause, um fünf oder sechs Gedichte aufzuzeichnen. Sie rezitierte mit der tiefen, intensiven Stimme einer tragischen Schauspielerin. Ein anderes Mal trug sie mir mehrere, bis dahin unbekannte Gedichte von Mandelstam vor, die Freunde in Archiven gefunden hatten, danach gab sie mir die Texte. Einer der Dichter, die sie öfter erwähnt und zitiert hat, war Gumiljow: Achmatowa fand, er würde unterschätzt und sei weder von den Lesern noch von der Kritik jemals wirklich verstanden worden. Sie schätzte Blok sehr, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung („er hatte keine wirkliche Anhängerschaft“). Über Pasternak sprach sie freundlich und nannte ihn stets „Boris“, aber Doktor Schiwago und seine Gedichte der dreißiger und vierziger Jahre haben ihr offenkundig nicht behagt.

Hinsey: Achmatowa las fließend Italienisch, Französisch, Deutsch und Englisch. Shakespeare hatte sie als junges Mädchen zu lesen begonnen, auch die großen Werke des Modernismus waren ihr vertraut. Haben Sie über ihre Lektüre gesprochen?

Venclova: Ja. Sie bewunderte Kafka und fand, dass ihr eigenes und sein Werk viel gemeinsam hätten. Es war ihr nicht gelungen, in der UdSSR ein Exemplar von Das Schloss aufzutreiben: Ich gab ihr eine Zusammenfassung, weil ich es auf Polnisch gelesen hatte. Anders als die meisten ihrer Zeitgenossen war sie nicht frankophil, sondern anglophil: Ich denke, Joseph Brodsky hat diese Vorliebe von ihr geerbt. Sie behauptete oft, dass die modernistische französische Malerei die französische Lyrik der Moderne verdrängt habe, und sie war auch keine Anhängerin von Surrealisten wie Max Jacob oder Paul Eluard: „Das ist nicht Freiheit, sondern Willkür.“ Aber sie wusste außerordentlich viel über Shakespeare und Shelley. Ulysses hatte sie vier- oder fünfmal im Original gelesen und bekannte, dass sie das Werk erst während der letzten Lektüre vollständig verstanden habe. Diese Beschäftigung hatte ihr geholfen, die schlimmsten Zeiten des Stalinismus zu überstehen. Auch an T.S. Eliot war sie sehr interessiert, sie kannte sein gesamtes Werk, manche Teile sogar auswendig. Hemingway hielt sie, mit Nadeschda Mandelstam und anders als Pasternak, für nichtssagend und gab entschieden William Faulkner den Vorzug.

Hinsey: Achmatowa war über Irrtümer in der Forschung über ihr Leben ziemlich beunruhigt.

Venclova: In den sechziger Jahren begannen die Memoiren von Emigranten in die UdSSR einzusickern, in denen Achmatowa eine Rolle spielte. Sie missfielen ihr zutiefst, vor allem die Erinnerungen ihrer Bekannten aus der Zeit vor der Revolution, zum Beispiel von Georgi Iwanow und Sergei Makowski, die sie für besonders verleumderisch hielt. Ich habe oft harte Worte von ihr über die beiden gehört. Andrei Sergejew versuchte, sie mit Iwanow auszusöhnen, indem er sagte, es handele sich bei dessen Buch streng genommen nicht um Memoiren, sondern eher um eine epische Saga über russische Schriftsteller, die gegen den Bolschewismus opponierten. Aber Sergejew hatte keinen Erfolg mit diesen Versuchen. Achmatowa arbeitete mit der jungen britischen Forscherin Amanda Haight an einem Versuch, auf diese Memoiren zu antworten. Das Ergebnis war ein gutes, wenn auch bescheidenes und fragmentarisches Buch mit dem Titel Anna Akhmatova: A Poetic Pilgrimage, das nach Achmatowas Tod erschien.1 Es präsentiert ein Bild von Achmatowa, das die Dichterin im Wesentlichen selbst geschaffen hat.

Hinsey: Einige Werke von Achmatowa haben sich nicht erhalten, wie zum Beispiel ihr Versdrama Enuma Elisch. Es entstand 1942 in Taschkent, wohin sie während des Krieges evakuiert worden war.

Venclova: In den Sechzigern, als ich sie häufiger besuchte, war sie intensiv mit diesem Versdrama beschäftigt, vor allem weil sich ein Theater in Düsseldorf mit der Absicht an sie gewandt hatte, es aufzuführen. Das Drama – das sie lieber als Tragödie bezeichnete – war ein kompliziertes, teilweise satirisches Werk über ihre Erfahrung mit dem totalitären Universum – eine Art Vorwegnahme von Schdanows Angriff und allem, was folgen sollte. Den exotischen Titel hatte sie einer babylonischen Dichtung entnommen, dem ältesten erhalten gebliebenen kosmologischen Text der Menschheit, der noch vor der Genesis entstanden war. Er bedeutet „Als droben…“ Achmatowas Interesse an solchen Texten kam von Schilejko. Sie hat das Manuskript vermutlich 1944 vernichtet, wohl eher aus privaten als aus politischen Gründen. Etwa 1964 begann sie, Enuma Elisch aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, und veränderte es dabei. Vollendet hat sie es nie.
Sie hat mir und anderen des öfteren Auszüge aus Enuma Elisch vorgelesen – Monologe oder Dialoge in Versen, die auch als eigenständige Gedichte angesehen werden konnten – einige glichen poetischen Texten, die ich bereits kannte. Es ging um den Prozess gegen eine Dichterin und erinnerte ein wenig an Kafka. Sie sprach auch gern davon, dass ihre Kontakte mit dem Theater in Deutschland ihren Niederschlag im Text finden und ein Teil von ihm werden sollten. Das Theater erkannte die große Bedeutung der erhaltenen Fragmente: Sie seien, so schrieb das Theater, „jedem anderen Stück von heute um zehn Schritte voraus“.

Hinsey: 1963 wurde Requiem in russischer Sprache in Westdeutschland publiziert. Unter welchen Bedingungen haben Sie es zum ersten Mal lesen können?

Venclova: Ich habe es in einer Samisdat-Version gelesen, bevor es gedruckt wurde. Die Münchner Ausgabe von 1963 lag auf Achmatowas Schreibtisch, als ich sie zum zweiten Mal besuchte, also noch vor Erscheinen der litauischen Ausgabe. Die sowjetischen Machthaber hatten beschlossen, sich jeglicher Reaktion auf die „kriminelle“ Publikation zu enthalten. Nach der Affäre Pasternak waren sie bemüht, Skandale um berühmte Autoren zu vermeiden. Achmatowa war sichtlich zufrieden, sowohl damit, dass das Buch nun endlich auch einem breiteren Publikum zugänglich wurde, als auch mit dem Ausbleiben einer Reaktion von Seiten der Regierung – obwohl sie ihre Situation weiterhin für heikel hielt. Einzig ihr Porträt auf dem Einband – eine Zeichnung von Saweli Sorin – missfiel ihr.

Hinsey: Welche Einblicke in ihr Verständnis von der Dichtkunst hat sie Ihnen gewährt?

Venclova: Es widerstrebte ihr, viel darüber zu sprechen: Für sie gehörte dies zum Bereich des Sakralen und Rätselhaften, das am besten mit Schweigen übergangen wurde. Doch aus ihren Bemerkungen über einzelne Autoren und Gedichte konnte man einige ihrer Ansichten erahnen. Sie hielt das traditionelle dichterische Verfahren, das auf Puschkin zurückgeht, für einen integralen Bestandteil jedes wertvollen Werks. Dies hing für sie mit einem Sinn für Harmonie und Ordnung zusammen – und mit Geschmack. Guter Geschmack wiederum ließ sich für Achmatowa nicht von Ethik trennen. Aus diesem Grunde musste man ein Meister des Handwerks sein, bewandert in allem, was Rhythmus, Klangmuster und so weiter betrifft, aber das war gewissermaßen nur die Grundlage: Die Dichter sollten sich von der Sprache selbst leiten lassen. In einem höheren Sinne wird das Gedicht von einer gewissen unbeschreiblichen Macht diktiert – vielleicht von Gott (Achmatowa war gläubig, doch niemals demonstrativ) oder vom Geist eines ganzen Volkes. Der Part der Inspiration war das schwierigste – man musste mit der Möglichkeit des Scheiterns rechnen, also damit, dass aus einem Gedicht nicht mehr als eine – vielleicht sogar brillante – technische Übung wurde. Für Achmatowa war die Dichtung auch eine Angelegenheit von Tapferkeit und Stoizismus. Den gefeierten Lyrikern der „Tauwettergeneration“ wie Jewtuschenko, Wosnessenski und Achmadulina stand sie äußerst skeptisch gegenüber: Aus ihrer Sicht waren sie oberflächlich, allzu sehr an unmittelbarem Erfolg und übertriebener Innovation interessiert, ihnen fehlte das ethische Rückgrat. In diesem Zusammenhang erwähnte sie oft Balmont und Sewerjanin – zwei Lyriker des Silbernen Zeitalters, die unvergleichlich populärer gewesen waren als Mandelstam oder Zwetajewa, sich aber auf lange Sicht als zweitrangige Dichter erwiesen hatten.

Hinsey: Über dem Tor des Hauses an der Fontanka in Leningrad, wo Achmatowa gelebt hat, stand die Inschrift „Deus conservat omnia“, die in Ihrem Gedicht „Nach der Vorlesung“ zitiert wird – eine vielschichtige Reverenz an die Dichterin.

Venclova: Dieses Gedicht ist der Versuch, etwas von Achmatowas Auffassung der künstlerischen Arbeit zu vermitteln. Ihren Monolog habe ich erfunden, aber ich hoffe, dass sie die Aussagen akzeptabel gefunden hätte.
Die Worte „Deus conservat omnia“ stehen in Einklang mit Achmatowas fester Überzeugung, dass das Gedächtnis eine Form von höherer Gerechtigkeit sei, fähig, alles – Gutes wie Böses – zu vergelten. Das Gedächtnis war der rote Faden ihrer Philosophie. Durch die Bewahrung der Welt – oder wenigstens ihrer Fragmente – in Versen konnte ein Mensch ihrer Ansicht nach Gott ebenbürtig werden.

Hinsey: Achmatowa glaubte, dass alle Dichter in gewisser Weise Hellseher sein müssen, und neigte dazu, mit ihnen „über den Äther“ zu kommunizieren. Hat dies auch Ihre Beziehung berührt?

Venclova: Nein, aber wir sprachen manchmal darüber. Einmal habe ich gesagt, dass Gumiljow in seinen späten Werken ein mystischer Dichter gewesen sei. „Nun ja, jeder Dichter ist ein Mystiker“, hatte Achmatowa erwidert, „aber Gumiljow war auch ein Hellseher, er hat im wahrsten Sinne des Wortes die Zukunft gesehen. Er hat zum Beispiel gewusst, dass Flugzeuge sehr schwer werden würden, was sie heute auch sind, obwohl sie zu seiner Zeit noch leicht und wenig leistungsstark waren.“

Hinsey: Achmatowa ist für ihre tiefgründige und meisterhafte Lyrik berühmt, doch waren die Menschen, die ihr begegneten, von ihrem wunderbaren Sinn für Humor und für das Absurde begeistert. Einmal besuchte sie ein schwedischer Professor, der über ihre Lyrik arbeitete. Was sie an diesem Treffen am stärksten beeindruckte, war sein weißes Hemd. „Wir haben die Revolution, Kriege und Blutvergießen aller Art erlebt“, sagte sie, „während die Schweden dieses Hemd gewaschen und gebügelt haben…“

Venclova: Viele ihrer geistreichen Bemerkungen sind in Michail Ardows Buch festgehalten – Michail, Wiktor Ardows Sohn, ist später ein russisch-orthodoxer Priester geworden. Einige ihrer Bonmots aber sind seiner Aufmerksamkeit entgangen. Da gab es zum Beispiel die Geschichte über einen sowjetischen Redakteur, der verlangte, sie solle das Wort „Engel“ aus einem ihrer Gedichte streichen. Er begründete seine Forderung mit der vollkommen marxistischen Aussage: „Engel existieren nicht.“ – „Nun, was existiert denn dann?“, fragte Achmatowa. Eine andere Geschichte, die nur wenigen bekannt ist, betrifft ihre Beziehung zu Pasternak. Eines Abends gingen sie zusammen durch die Straßen von Moskau und unterhielten sich über den eher zweitrangigen Schriftsteller Sergei Spasski, dessen Gedichte Pasternak über Gebühr lobte. Plötzlich fiel Pasternak auf die Knie und machte Achmatowa einen Heiratsantrag. „Lieber Boris“, sagte sie sanft, „ich bin nicht Spasski.“

Hinsey: Im Dezember 1964 erhielt Achmatowa die Erlaubnis, nach Italien zu reisen, um den Ätna-Taormina-Preis anzunehmen, am 4. Juni 1965 wurde ihr in Oxford die Ehrendoktorwürde verliehen. Hat sie mit Ihnen über diese Reisen gesprochen? Wie hat sie ihren Ruhm aufgenommen?

Venclova: Als Dmitri Seseman sie fragte: „Wie hat Ihnen Italien gefallen, Anna Andrejewna?“, erwiderte sie: „Es war zu spät.“ Sie hatte Norditalien – überhaupt Westeuropa – als junges Mädchen besucht, vor der Revolution. Doch die Reisen nach Taormina und Oxford gehörten zu ihren Lieblingsthemen. Sie war glücklich, Rom gesehen zu haben (ich glaube, sie war nie zuvor dort gewesen), sprach aber von der „verdächtigen Stadt, in der Gott höchstwahrscheinlich mit Satan konkurrierte“. Andererseits hat sie es nicht geschafft, Venedig zu sehen, und mit einem Anflug von Humor berichtete sie, das Wasser, das im Bahnhof an die Räder ihres Zuges spritzte, sei ihr einziger Eindruck von Venedig gewesen. Sie war sich durchaus bewusst, dass der Ätna-Taormina-Preis eine Art Generalprobe für den Nobelpreis war, und das erfüllte sie zweifellos mit Stolz, trotzdem nahm sie es unbeschwert.

Hinsey: Im Jahre 1961 wurde ein Gesetz gegen das Schmarotzertum verabschiedet, mit der Absicht, Künstler und Freigeister ohne festes Arbeitsverhältnis unter Kontrolle zu bringen. Im November 1963 erschien in der Zeitung Wetscherni Leningrad ein Artikel, der Brodsky beschuldigte, ein literarischer Parasit zu sein. Am 13. Februar 1964 wurde Joseph Brodsky verhaftet, fünf Tage später begann sein Prozess. Achmatowa hat Brodsky sehr nahegestanden. Hat sie mit Ihnen über diese Ereignisse gesprochen?

Venclova: Den Namen Brodsky hatte ich, wie schon erwähnt, zum ersten Mal 1960 gehört, an dem Tag, an dem Pasternak starb. Begegnet bin ich ihm erst 1966, aber ich kannte und schätzte viele seiner Samisdat-Gedichte, die ich von Andrei Sergejew und anderen bekam. Sein Prozess war ein schockierendes Ereignis, das in Moskau und Leningrad, aber auch in Litauen sehr breit diskutiert wurde. Achmatowa hat Brodsky bei jedem erdenklichen Anlass erwähnt – sein Schicksal gehörte damals zu ihren vordringlichsten Interessen.

Hinsey: Sie hat versucht, Brodsky zu unterstützen…

Venclova: Ja, sie hat ihr Möglichstes getan, Petitionen vorbereitet und einflussreiche Leute des öffentlichen Lebens als Fürsprecher gewonnen, wie Dmitri Schostakowitsch, Samuil Marschak und Alexander Twardowski. Sie hat auch versucht, Alexander Prokofjew zu beschwichtigen, einen einflussreichen Leningrader Literaten und Erzfeind Brodskys. In unseren Gesprächen nannten wir ihn stets „Prokop“. Einmal hatte Achmatowa ein kleines Fest ausgerichtet, wo wir auf Brodskys Freiheit und „Prokops“ Untergang anstießen. (Auch Anatoli Naiman, damals sehr eng mit Brodsky befreundet, war an diesem Abend anwesend: Ihm gelang es, Brodsky an seinem Verbannungsort, in einem Dorf in Nordrussland, zu besuchen, das Fest hat wahrscheinlich vor seiner Reise stattgefunden.) Übrigens hatte Achmatowa Gewissensbisse wegen Brodsky, weil sie – völlig grundlos – glaubte, er sei in erster Linie wegen seiner Freundschaft zu ihr, einer allgemein bekannten „Volksfeindin“, verhaftet worden.
Brodsky seinerseits hatte kaum eine Ahnung von Achmatowas Versuchen, ihm zu helfen, und fühlte sich ein wenig im Stich gelassen. Doch kehrte er nach Leningrad zurück, als sie noch am Leben war, und erfuhr dort die Wahrheit.

Hinsey: Hat sie über Gedichte von Brodsky gesprochen?

Venclova: Sie hat mir ein bekanntes Gedicht von Brodsky vorgetragen, das ihr gewidmet war, „Hähne werden krähend sich regen“, und es als „wunderbar“ bezeichnet. Brodsky selbst hielt es für misslungen. Sie hat mir auch einige seiner im Gefängnis entstandenen Gedichte gegeben, die auf unbekannte Weise aus seiner Zelle geschmuggelt worden waren.

Hinsey: Wann haben Sie Achmatowa zum letzten Mal gesehen?

Venclova: Es war wahrscheinlich im Herbst oder Winter 1965. Ich habe sie zur Wohnung von Andrei Sergejew begleitet. Er lebte am Stadtrand von Moskau in einem viergeschossigen Wohnblock, der sich von anderen, gleichartigen, die in langen Reihen standen und keine Hausnummern trugen, durch absolut nichts unterschied. Diese Wohnblocks wurden meistens als Chruschtschoby bezeichnet, Chruschtschow-Slums. Wie zu erwarten war, brachte ich sie zur falschen Wohnung im falschen Haus. Einen Fahrstuhl gab es nicht in diesen Gebäuden, das Treppensteigen fiel ihr wegen ihrer Herzprobleme schwer. Gott sei Dank mussten wir nur in die erste Etage. Achmatowa war nicht besonders begeistert, doch schließlich haben wir Sergejew gefunden und einen langen Abend zusammen verbracht. Danach habe ich sie wieder zurück nach Moskau begleitet, zu ihrer alten Freundin Ljuba Stenitsch, die leider in der fünften Etage wohnte und ebenfalls keinen Fahrstuhl hatte. Wir haben eine halbe Stunde oder mehr mit Treppensteigen zugebracht. Am nächsten Tag rief mich Ljuba an und teilte mir mit, Achmatowa habe mir meinen Irrtum bei Sergejew verziehen und ich sei ihr auch weiterhin willkommen. Nach diesem Abend habe ich Anna Achmatowa nie wiedergesehen: Kurz darauf fuhr ich nach Vilnius und kehrte erst Anfang März nach Moskau zurück.

Hinsey: Anna Achmatowa ist am 5. März 1966 in einem Sanatorium außerhalb von Moskau gestorben. Es gab eine Reihe von Gedenkveranstaltungen für sie, unter anderem im Sklifossowski-Institut in Moskau und in der Nikolaus-Marine-Kathedrale in Leningrad; es gab einen Gottesdienst in Komarowo, wo sie ihre kleine Datscha hatte. Dort liegt sie auch begraben. Haben Sie an einer dieser Veranstaltungen teilgenommen?

Venclova: Wie damals, als Pasternak starb, war ich auch diesmal zufällig in Moskau; jemand rief mich an und teilte mir mit, dass Anna Andrejewna gestorben sei. Am 9. März war ich bei der Trauerfeier in der Leichenhalle des Sklifossowski-Instituts, einem heruntergekommenen Ort, der von Hunderten, vielleicht auch Tausenden Menschen belagert wurde. Ich glaube, es waren Andrei Sergejew und seine Frau Ljuda, dank deren ich überhaupt bis zum Sarg vordringen konnte. Ich habe keine offiziellen Reden gehört, vermutlich wurden welche gehalten. Zu jener Zeit war mein Privatleben in völliger Auflösung begriffen, ich dachte an Selbstmord. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass Achmatowa auf mich aufpasste und von meinen Sorgen wusste, und das war mir ein Trost. Weder in Leningrad beim Gottesdienst in der Nikolaus-Marine-Kathedrale noch an ihrem Grab in Komarowo, wo Brodsky und seine Freunde sich von ihr verabschiedeten, bin ich dabei gewesen. Ihr Tod war das wahre Ende des Silbernen Zeitalters.

aus Tomas Venclova: Der magnetische Norden. Gespräche mit Ellen Hinsey. Erinnerungen, Suhrkamp Verlag, 2018

 

AN DIE ACHMATOWA 

In Moskau war der letzte Zar
bereits vergessen, aber nicht
die Verse der um Hilfe Flehenden,
die sie ihrem Henker entgegen-
jaulte, um seine Hand aufzuhalten,
die auf Kosten des Lebens wucherte
und an die niemand je zurückdenken
wird, bis heute sind ihre knappen
Zeilen gültig und sie erlangen
ihren klassischen Status zurück. 

Rafael Cadenas
Übersetzung: Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff

 

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Zum 2. Todestag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

Fakten und Vermutungen zur Autorin + dekoder
shi 詩 yan 言 kou 口
Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Moritz Fehrle im Gespräch mit dem Schriftsteller und Übersetzer Alexander Nitzberg: Man muß Sprache Gewalt antun.

Anne-Cathrine Simon und Eduard Steiner im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Ich übersetze lieber politisch unkorrekt“.

Michael Wurmitzer im Gespräch mit Alexander Nitzberg: „Sprache hat viele Schatzkammern“.

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer

 

Anna Achmatowa Begräbnis.

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