Helga M. Novak: Grünheide Grünheide

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Helga M. Novak: Grünheide Grünheide

Novak-Grünheide Grünheide

WIE DER SCHATTEN DES WACHOLDERS

Epilog zu Grünheide Grünheide

es gießt und gießt Friedrichstraße
beiseite in einer Zelle
alles ausziehen nackt bis auf die Haut
in Ordnung anziehen weiter
den Luftdruck nehme ich mit
unter meiner Zunge

aaaaamit der S-Bahn nach Friedrichshagen 30 Pfg.

Ostbahnhof Rummelsburg Karlshorst
Köpenick Hirschgarten
abspringen ohne Bahnsteigkante
und in Fahrtrichtung bleiben?
Bodennebel und kein Tag heute
das Augenmaß zu verlieren

aaaaamit der Straßenbahn über Schöneiche nach Rüdersdorf 40 Pfg.

mir gegenüber die Frau redet von ihrem Sohn
der eine Strafe in den Kalkbergen absitzt
und die Amnestierten verflucht seit Oktober
schicken sie ihn zwölf Stunden täglich ins Werk
anstatt acht wegen der Sollerfüllung
angeblich hat er (und dafür zwei Jahre?)
nur einen Hilfspolizisten vertrimmt

aaaaamit dem Bus über Herzfelde nach Kagel 1 Mark

nie werden die märkischen Dünen verwehn
oder gefangen in den Streusandbüchsen
unserer Soldatenkönige so unberechenbar
die Körner in den Getrieben in den Gebissen
daß der letzte Hund noch im Schlaf
mit den Zähnen knirscht und alle Felle jucken
von dieser dauernden märkischen Wüste
na und die Findlinge mit blanker Stirn
die den Landvermessern im Wege liegen

aaaaamit der Taxe von Kagel nach Altbuchhorst 5 Mark 50

ankommen keiner da ankommen
nichts ist unmöglich bei Besuch
dem schönen Suchen
kleine Zettel
− ich war da
− ich komme nicht wieder
− machs gut
und zu Fuß weiter
und zu Fuß wieder zurück

ich beuge mich über die Ufer von Teich zu Teich
mit einem Fuß im Sand mit einem in den Novemberfluten
beringt die stillen Gewässer über und übereinander
Ketten und Fesseln wenn ich mich bücke ist mein Gesicht
kreisrund und besteht aus vierundvierzig Ringen
mal anständig heulen mit Anstand
aber wo ist der Unterschied für meine Beobachter?
der Wind stellt den Trauerweiden die Ruten auf
oft sträuben sich die Haare bevor sie fallen
bevor ihre doppelten Spitzen einfrieren in den Seen

ich rechnete mit einem grünen Wagen
dafür kommen dreie und hellgrau
die Insassen stecken in Rollkragen
und sind jeweils zu zweit
eure Gelöbnisse immer schon so viel wert
wie die Bauchbinde einer Zigarre heute
könntet ihr sie mir um den Finger wickeln
denn Herrschaften ich sehe nochmal
unsre Bäume in den Himmel wachsen und höher
und höher! Blödsinn das war dreiundfünfzig
der Fliegermarsch im Mai bei Gluthitze
Lieder die es vielleicht gar nicht mehr gibt
flattern durch meinen Schädel Selbstgesänge

wie soll das enden kaum noch was zu erkennen
aber jede abgewaschene Wurzel ein Lesezeichen
in acht Richtungen und fast blind sehe ich
mich außerstande in die Irre zu gehen eine maßlose
Gewißheit sucht mich heim neben dem Fuchs
bauen die wilden Kaninchen und der Hasenfuß
so könnte ich glatt verlorengehen

aaaaavon Alt-Buchhorst nach Grünheide 3 km

kommt nehmt mich mit hier bin ich
ich gehe durch meine Gegend die Stiefel
im Wasser Wasser in den Stiefeln
für immer und nie wieder bei Herbst
packt mich ein behaltet mich da oder hier
die Ufer den Nebel die triefenden Ahorn-
blätter laßt uns verschüttgehen
zerhackt die Kiefern das Himbeergestrüpp
linker Hand die heimliche Badestelle
gesunken
ertrunken
abtransportieren! bei solchem Regen
hören wir eure Reifen eure Schritte nicht
wenn ihr kommt na kommt schon ich warte
ich bin das Graue im Himmel der Rauch
ich bin das Lachgas das Spinnengewebe
vom letzten September der ist vorbei

ein Aufschnellen
ein Pfeifton
die hyperboräischen Frauen?
die Sprungfeder mitten im Wald
ganz unsichtbar und verrostet?

aaaaavon Grünheide nach Fangschleuse 2 km

die Haltestelle wird zu einem Hinterhalt
Eisenzäune Buchsbaum schwarze Beete
Zeit daß sie die Dahlien rausnehmen
Gedränge im Bus dampfende Raglanärmel
es riecht nach angeschoßnem Wild
vorigen Sommer Unsterbliche Opfer!
auf Serbokroatisch vor einem Denkmal wie diesem
vergebliche Opfer vergebliche Liebesmüh
die Melodie hält mich besetzt
die Wörter sind dahingesunken

links verbirgt sich der Wupatzsee
unter Entenfedern rechter Hand der Wacholder
wie ein betrunkener Zimmermann mit Pelerine
gleich falle ich auf die Knie
und bitte die Frau neben mir
bevor sie ganz verdunstet
alle Kleider mit mir zu tauschen
bis runter zum Liebestöter Strumpfhalter
einfach alles zu wechseln
damit ich fürderhin mein Leben friste
in einem Nest wie Fangschleuse z.B.
unauffällig
wie der Schatten des Wacholders bei Nacht?

aaaaamit der S-Bahn von Erkner nach Friedrichstraße 30 Pfg.

es gießt und gießt Niederschlag
wär nicht das richtige Wort ein sanftes
mal gröberes Pladdern naß bis auf die Haut
den Regen nehme ich mit
zwischen Kopf und Kragen

 

 

 

Die mit dem dünnen Fell

Die mit den weichen Augen
Die mit dem derben Maul
Helga M. Novaks Gedichte 1955–1980

Erste Gedichte von Helga Novak las ich im Sommer 71, als ich von der Armee kam. Das Gegröle der Kasernenhöfe lag hinter mir, ich war erleichtert. Ein neues Leben konnte beginnen. Studieren wollte ich, nach vorn sehen. Ulbrichts „Menschengemeinschaft“ ging zu Ende, es gab neue politische Töne, in der Kunst sollte es keine Tabus mehr geben, sagte der Erste Sekretär. Vielleicht wird doch alles anders, besser. Die „Poetenbewegung“ der „Freien Deutschen Jugend“ lud Talente ins Schweriner Schloß ein. Ich war ein Talent und wurde eingeladen. Das blaue Hemd mit dem Emblem ließ ich zu Hause. Ich hätte es auch mitgenommen und angezogen, so war es nicht. Die schlimmen Erlebnisse abstreifen, das Geschrei der Unteroffiziere, das eigene Zielen auf „Pappkameraden“, das Gespitzel und den Druck vergessen. Eine Hoffnung haben… Vielleicht waren es doch bloß „Fehler“. Ich erinnere sehr deutlich die sehnsüchtige Bereitschaft, mich mit dem, was war, zu versöhnen.
Der Schreck, der Zweifel waren zwar tief eingedrungen in den zurückliegenden anderthalb Jahren. Die ständig wiederholten Phrasen von „Frieden“ und „Sozialismus“ waren mir zynisch und böse vorgekommen an den hellen Vormittagen der Appelle und in der nächtlichen, dumpfen Ungewißheit der Wachlokale. Aber das war jetzt vorbei! Ich konnte wieder auf Straßen herumgehen in Zivil, Gedichte schreiben ohne Angst vor Spindkontrollen und hämischen Fragen. Sogar ins Schweriner Schloß wurde ich eingeladen! Angela Davis saß in den USA im Gefängnis, vielleicht fiel mir ein Solidaritätslied ein mit Durchschlag an die Junge Welt. Oder etwas über Liebe und Natur. Über dieses Aufatmen, das in mir war? Aber wie starr saß ich da, etwas stimmte nicht.
In diesen Tagen brachte mir ein Freund kaum lesbare Abschriften mit Gedichten von Helga Novak vorbei, drei, vier, mehr waren es nicht. Das Papier klein zusammengefaltet, so etwas trägt man in Manteltaschen und steckt es hinter Bücherrücken. Was ich da las, warf alles um, was ich mir zusammengezimmert hatte in versöhnlicher Absicht:

POSTWURFSENDUNG

bei Nacht gehen Boten um
erfaßt sind die Bewohner
in Stadtplan und Adreßbuch

Broschüren Statistiken Revuen
verstopfen die Briefkästen
und die Schlitze der Türen

aaaaaein Bergmann lachend mit Blumen
aaaaaein Präsident lachend mit Kindern
aaaaaein Bauer lachend mit Blumen
aaaaaein Nationalsoldat lachend mit Kindern

die Kanonenrohre des Nachbarn,
die Abschußrampen des Gegners
die Düsenjäger des Feindes
die Lunte eines Saboteurs

Diplomatendiener stehlen einander Listen
mit deinen und meinen Namen

bei Nacht gehen Boten um

Die Stasi-Angst, die „Nationale Volksarmee“, die Militarisierung des Lebens, das ganze Üben und Melden, die tägliche triumphalistische Präsentation von Präsidenten und Sekretären im „Zentralorgan“, diese herrschende Lüge, mit der ich gerade meinen kleinen Frieden machen wollte, all das wurde grell beleuchtet. Radikal, geradezu und schön – so kamen die Gedichte von Helga Novak daher auf schlechtem Papier, als Verführung zur Wahrheit, als poetischer Vorschlaghammer.
Die kommt auch aus der DDR, erfuhr ich als der Zwei-Zeilen-Biografie, die handschriftlich, mit Kuli auf der Rückseite zu lesen war: „1935 in Berlin-Köpenick geboren, Studium in Leipzig, ab 61 Island, dann wieder Leipzig, Island, BRD“, stand da. Wie bitte? Wie kommt denn die nach Island? Und zurück, dann wieder weg? Geht denn das? Das begriff ich nicht, erfuhr die Zusammenhänge erst später. Aber ihre Gedichte begriff ich. Konnte nicht mehr an ihnen vorbei. Es ging mir wie mit den Liedern von Wolf Biermann. Sie waren da, ich hatte sie gehört, gelesen, nun gab es keine Ausflüchte mehr. Gerade diese Seite muß ich im Nachdenken über Helga Novaks Gedichte hervorheben: sie verletzte. Ihre Aufrichtigkeit, ihre Direktheit, ihr Schwung, mit dem sie sich nach der Wahrheit umsah, legten sich sofort an mit Halbheiten, Beschwichtigungen und aus Schwäche oder Lauheit kommenden „Kompromissen“ im Leben dessen, der eigentlich nur drei, vier Gedichte durchblättern wollte als interessierter Lyrik-Leser zwischen Armeezeit, Studium und „FDJ-Poetenseminar“. Ich war nicht vorbereitet auf die „Tragoballade vom Spitzel Winfried Schütze in platten Reimen“, der von den Leuten zu hören bekommt:

der schlechtste Mann im ganzen Land
das ist und bleibt der Denunziant.

Und der es nicht mehr aushält, der Selbstmord begeht, aber an der Teppichstangenstütze das Urteil spricht:

der schlechtste Staat auf dieser Welt
ist der der sich die Spitzel hält.

Die Wagen der Staatssicherheit waren bekannt in unserer kleinen Stadt, sie wurden gefürchtet und gehörten dazu. Wie Rolf Hertel aus meiner Klasse, der nicht zur Armee wollte und in einer Wohnstube versprach, Berichte zu schreiben über diesen und jenen. Er saß zwei Bänke hinter mir. Ich wußte, wie viele „angeworben“ wurden. Aber ich war schockiert, damit in Gedichten konfrontiert zu werden ohne zeitliche und örtliche Distanz. Und so offen, so wenig „lyrisch“ in diesem eher zwischen den Zeilen und in der wohlvertrauten Sklavensprache suchenden Sinne.
„einem Funktionär ins Poesiealbum“:

du hast niemals mit mir
elektrische Kabel entjutet
zwischen den Eisenströmen
zwischen den rangierenden Zügen
unter den klappernden Masseln
traf ich dich nicht

[…]

in all den Jahren standest du
auf Tribünen hieltest Reden
über Frieden Schießen Mehrarbeit Normen
auch als ich in die Uniform stieg
marschierte ich vorüber
an deinem weisen politischen Glotzen

Das traut die sich, zu sagen, aufzuschreiben! Im Jahre 1956, da war sie 21, 22, ich rechnete nach, so alt wie ich jetzt… Schriftsteller wollte ich werden. Und komme von der Armee nach Hause und schreibe keine „Unerwünschten Reportagen“, knalle nicht aufs Papier, was sie Jahr für Jahr einer Generation nach der anderen antun an ihren stehenden Heeren. Ich bin hocherfreut über eine Einladung von der FDJ und überlege, ob ich das Blauhemd mitnehmen soll oder nicht. Und plane Gereimtes über Landschaft und Liebe, auch ein wenig „antiimperialistische Solidarität“, hie und da eine kleine Spitze… Und Helga Novak schreibt 56, als das Ende der Stalinzeit in der DDR noch lange nicht in Sicht war, als es Prozesse gab, als der Ungarn-Aufstand mörderisch niedergeschlagen wurde, „einem Funktionär ins Poesiealbum“:

ich habe am Ende
eine Frage:
wem gehört eigentlich
das Volkseigentum?

Westliche Leser werden diese Gedichte möglicherweise interessiert zur Kenntnis nehmen: „Aha, Kritik am real existierenden Sozialismus bereits in den fünfziger und sechziger Jahren, dann war Biermann also nicht der erste und einzige, Diplomarbeiten könnten dieses Thema noch vertiefen…“ Uns traf das alles ins Herz, stellte das eigene Leben in Frage, die Umstände, den Staat, die Zeit, in der wir lebten.
Zwischen schroffer Abwehr, Angst und versuchter Identifikation, ich wage auch das Wort Liebe, schwankte das. Ich wollte kein mieser Funktionär werden, kein „Spitzel Winfried Schütze“, kein „Nationalsoldat lachend mit Kindern“, der ich gerade gewesen war. Helga Novaks politische Gedichte, und ich kann politisch auch weglassen, die von unten auf die Tribünen herabsehen, in denen „elektrische Kabel entjutet“ werden und von „Abgasen“ und „Winderhitzern“ die Rede ist, setzen etwas frei, machen etwas literarisch möglich und fühlbar, sagbar, was viel zu tun hat mit dem Leben der Arbeiter, dieser nach wie vor fast stummen Mehrheit, die auch noch erleben muß, von Leuten beherrscht zu werden, die verkünden, daß alle Werktätigen die Macht errungen haben und frei sind. Als ob die offene, freche Herrschaft der privaten Chefs nicht schon genügen würde.
Diese Gedichte empören sich und sprechen aus, machen deutlich, daß wir täglich gedemütigt werden. Ich sah meinen Vater, den Elektriker, mit anderen Augen. Auch unser Viertel, in dem eine Textilfabrik neben der anderen steht. Hier wurde es ausgesprochen. Das war das Thema. Und kam aus den eigenen Reihen. Nicht aus einheitsparteilich gelenkten „Zirkeln schreibender Arbeiter“, nicht aus schönfärbenden Fernsehschnulzen, auch nicht aus den hochfahrenden, kunstvoll angestrengten, aber doch zahmen Gedichten und Stücken von Volker Braun, der in Braunkohlenrevieren gearbeitet hatte als geexter Student. Diese Frau sprach es aus. Sie mußte es erlebt haben, mußte Fabriken von innen kennen – und nicht aus Besichtigungen, um die „Welt der Arbeit“ kennenzulernen! – und da aufgewachsen sein, wo lange müde Züge aus den Werktoren kommen oder von den Feldern. Fluchend, lachend, mit dem Griff nach der Zigarette und der Bierflasche. Von ihr war kein Buch zu kriegen in Volksbuchhandlungen und Bibliotheken. Vielleicht in Island oder Westdeutschland? Aber wie dorthin kommen?
Als ich einige Jahre später Wolf Biermann und Robert Havemann kennenlernte, erfuhr ich, daß sie mit Helga M. Novak eng befreundet waren. Sie liehen mir Bücher und erzählten von ihr. Ich erfuhr von ihrer Heirat, ihrer Familie in Island, daß sie in Fischfabriken arbeitete, 1965 zurückkehrte nach Leipzig und ans Literaturinstitut Johannes R. Becher ging, dort u.a. Sarah Kirsch traf, mit den Auswirkungen des 11. SED-Plenums konfrontiert wurde, sich herumstritt, Gedichte schrieb, viel rauchte, trinken konnte, intensiv lebte. 1966 wurde ihr die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt. „Ist das Sozialismus“, hörte ich Wolf Biermann in der Chausseestraße sagen, der sich viele Anregungen aus ihren Gedichten nahm und auch Texte vertonte, „wenn so eine nicht hier leben kann?“ In diesem „kann“ schwang mit: Die rausgeschmissen wurde, die es aber auch nicht ausgehalten hat, hier, in dieser bornierten preußischen DDR-Enge. „Untauglich“ heißt ein Gedicht, das 1965 entstand. Helga M. Novak spricht da von einem anderen, nicht von sich. Aber ich beziehe es auch und vor allem auf sie:

der kann die Pisse nicht riechen
die im Bottich gespeichert wartet
daß man bei Lenz die Wolle in ihr wäscht

der kann den Backenstreich
seines Ernährers nicht ertragen
weil seine Haut schneller als anderen platzt

der ist mit dünnem Fell
unter Schreiern geboren
das heißt empfindlich     untauglich

haut ihn
er weiß alles besser
er sieht durch alle durch

haltet seine Finger ans Spinnrad
nein     wartet bis die Flut kommt
die Dürre     das vor den Küsten liegende Packeis

das geht er als Sündenbock auf den Hackstein
der mit den weichen Augen
der mit dem derben Maul

Wir sagten: die ist eine von uns, hat in Leipzig studiert, ist hier zur Schule gegangen, verlegt ihre Gedichte im Westen – klarer Fall, weil sie hier nicht gedruckt wird. Aber etwas blieb irritierend für uns DDR-Kinder mit der Mauer vor Augen und im Hirn, das gab keine Ruhe: „Berlin-Köpenick, Island, Leipzig, BRD…“ Die geht über die Grenze, verläßt das Land, wird dann rausgeschmissen, ja, das ja, aber sieht sich auch um, fährt in der Weltgeschichte herum, beschreibt einen „Reparaturtag am Strand von Eyrarbakki“:

da wo das Land ist
schneiden die wilden Gänse den Himmel auf
zieht der Wind
den Schafen schwarze Scheitel auf die Rücken
da wo das Meer ist
ist Süden
ich spleiße Seile mit euch
und habe den Faden verloren

Diesen Faden wollte ich aufnehmen, wenn ich gedurft, wenn ich gekonnt hätte. Und warum durfte ich nicht? Konnte ich nicht? Wollte ich nicht? In Helga Novaks Büchern las ich die „Ballade von der reisenden Anna“ und einen „Brief an Koladoghbe“. An wen? Und wohin?

eine Snackbar
eine Bar
ein Wodka
und noch ein Wodka
ich bleibe
ich vertreibe den Schießbudenfiguren die Zeit
Coney Island hat Platz
für alle Hunde der Welt

Dort hält sie sich jetzt also auf und erzählt die Geschichte von der „Türkin Nigar“, die aus „einem Dorf bei Afyon“ kommt und in Frankfurt stirbt auf einer Gefängnispritsche, von Wärtern mißhandelt… Das war sehr fern, unfaßbar wie „Die Bohemienne“:

die kommt von weit her
ihr grobwild und gestrobelt Haar
ist grau wie alter Schnee

sie sucht das Land Atlantis
und ist mehr als hundert Jahr
doch als sie einst geboren
da war das Land noch da

Helga Novak hatte die Welt in ihren Gedichten. Das machte uns, denen sie genommen war, den Verlust bewußt. Das tat weh. Da kamen wieder die richtigen, hier aber durchaus unpassenden Sätze vom „Bleiben“, vom „Standhalten“ und „Nicht-Wegekeln-Lassen“, auch nicht besuchsweise an den Strand von Eyrarbakki. Dann lieber gar nicht. Ein Trotz war dabei, ein Widerstand, der wichtig war, wollte man ankommen gegen Resignation und Stillwerden in dieser umzäunten Provinz. Und doch war es auch das Verinnerlichen der Eingrenzung, das Akzeptieren der geteilten und so besser beherrschbaren Welt. Ich ging auf Distanz zu diesen fremden Orten und Namen, war gekränkt, blätterte weiter. Las lieber von den „schiefen Laternen“, die sich „bogen im Trunk“, von den „vergitterten Fenstern der Backsteinschule“, vom Feuer, vom Maulbeerbaum.

das Maul mit süßen Beeren voll

Sie sollte treu sein.

unter den nackten
Füßen das Gras
entzündet

Es mußte ihr schlecht gehen anderswo.

zwischen fünf Pfählen
hängen meine Tage
der letzte heißt Warten

Oder sie soll von der „Oder bei Kunitz“ erzählen. Oder von den Kosaken, die kamen

auf kleinen schwarzen Steppenpferden
und haben bloß gelacht

Bei uns sollte Helga Novak bleiben, auch in unserer gemeinsamen Geschichte. In der sie blieb, überall blieb. Und zurückkehrte und weiterging. Und alles sah, aber nichts vergaß. Aber das begriff ich erst später. Erst als ich auch im Westen landete und sie traf, begriff ich das. Als ich selber getrennt war und in der Fremde, begann ich zu ahnen, woran sie gedacht hatte am Strand von Eyrarbakki. „meine Sprache“ nennt sie ein Gedicht:

du bist uns gefolgt
in die Freiheit der Neonstadt
in die Freiheit der heißen Straßenbahnen
in die dreidimensionale Buntheit der Schaufenster

du hast den Wickelrock der Lügen
gesprengt mit einem Witz
aber unsere Seufzer Flüche Schreie
trugen deinen Mantel
und glitten im Zickzack an den Häuserwänden hoch

und folgten mir
in die Freiheit eines Hinterhofs
bestirnt von einem Mandelbaum

Und in dieser Freiheit kann es auch passieren, daß sie kommen

„früh um fünf
und trommeln dich aus dem Bett raus
und ziehen dich bis aufs Hemd aus
[…]
denk daran wenn es klopft
sie werden dich noch oft
mit geladenen Maschinenpistolen
und nicht nur aus dem Bett
und nicht nur ins Präsidium holen

Helga Novak im Westen. In einer Fremde, die ihre Sprache spricht und vielleicht wenig versteht von dem, was sie sagt. Sie wohnt in Frankfurt im Jahr 68, ist mittendrin in den Wirren und Kämpfen, die aus Berlin, Paris, Prag und Tokio gemeldet werden. Sie ist befreundet mit denen, die hier aufgewachsen sind und anrennen gegen die Hierarchie und Kaltschnäuzigkeit dieser Geldwelt. Sie bleibt nicht am Schreibtisch sitzen und fährt nach Portugal, arbeitet auf dem Lande, als der Faschismus gestürzt wird. Und ist verbunden mit der tschechoslowakischen Opposition, mit der Revolution in Polen. Aber sie wird keine Politikerin, keine Parteigängerin. Sie besteht auf dem Schreiben von Gedichten. Und darauf, das zu tun, was sie will.

soll ich sterben
wenn gar kein Krieg ist

es ist Krieg

vom Dachboden des Himmels
regnet der Krieg

Und sie ist „Margarete mit dem Schrank“, die von Dorf zu Dorf zieht und Westen strickt für ihren Geliebten:

welche Ruhe ist über mir es fallen
überhaupt keine abgenützten Wörter mehr
ich gehe nur immer weiter und weiter

Und sie vergißt den nicht, „nach dem kein Hahn kräht“:

am letzten Samstag ließ Franco
den Studenten Puig Antich ermorden
und einen anderen
nach dem kein Hahn kräht
Heinz Chez hieß er und war Pole

Dann erzählt sie seine Geschichte, was er in Spanien getan hat und wie er im Tode und danach auch von seiner polnischen Obrigkeit im Stich gelassen wird. Solche läßt Helga Novak nicht im Stich. Sie denkt an sie. Und nicht im Plural. Sie ist solidarisch im guten, wirklichen Wortsinn. Und aufsässig, allein mit dem, was sie kann. Sie lebt das anarchistische, rebellische Element, das immer wieder unter die Stiefel der Marschierer gerät. Und sich immer wieder aufrichtet. Die Dichterin Helga Novak ist stolz und wie besessen auf Wahrheit. Nach ihrer eigenen, nach der unseres Landes, nach der dieser Welt. Sie will nicht, daß die Lüge gewinnt. Immer wenn ich sie treffe, bereitet sie gerade eine Reise vor, liest, diskutiert heftig, schreibt, organisiert Geld, trinkt, trinkt keinen Tropfen, liebt, schreit heraus, was zu sagen ist. Die mit dem dünnen Fell. Die mit den weichen Augen. Die mit dem derben Maul. Romane schreibt sie, autobiographische Prosa, dicke Bücher, die verrissen werden oder auf den Bestsellerlisten stehen, aber was besagt das schon. Und immer wieder Gedichte. Sie ist nicht berechenbar, nicht im Gleichgewicht mit Kunst, Kritik und Obrigkeit wie andere. Sie brennt, gibt sich ganz hin. Man muß Angst um sie haben.
Helga Novak lebt jetzt in Westberlin. Bei Regen will sie über die Grenze gehen („Grünheide Grünheide“):

Löcknitz Werlsee Peetzsee Möllensee
[…]
alles taucht wieder auf
wie mir die Fußsohlen brennen
[…]
es gießt und gießt Friedrichstraße
beiseite in einer Zelle
alles ausziehen nackt bis auf die Haut
in Ordnung anziehen weiter
den Luftdruck nehme ich mit
unter meiner Zunge
[…]
[…] und fast blind sehe ich
mich außerstande in die Irre zu gehen eine maßlose
Gewißheit sucht mich heim
[…]

Die genannten Flüsse, Orte und Seen liegen in der DDR, bei Ostberlin, bei Erkner. Und sind ihre Heimat, ihr erstes Zuhause, das sie zur Zeit nicht besuchen darf. (Was sie gelegentlich einem Grenzer ins Poesiealbum schreiben wird, läßt sich denken.)
Ich kenne keinen, der so sehr unterwegs ist und sich so sehr zurücksehnt. Der weggeht, um wiederzukommen, aber nicht auf der Knien.

Jürgen Fuchs, Vorwort

Grünheide Grünheide sammelt Gedichte,

die Helga M. Novak zwischen 1955 und 1980 geschrieben hat. Ausgewählt wurde von der Autorin aus den Bänden Balladen von der reisenden Anna (1965), Colloquium mit vier Häuten (1967), Balladen vom kurzen Prozeß (1975), Die Landnahme von Torre Bela (1976) und Margarete mit dem Schrank (1978); bisher nur in Zeitschriften veröffentlichte Gedichte beschließen den Band.

„Es ist an der Zeit, herauszufinden, warum diese DDR- (und Ex-DDR-) Schriftstellerinnen an Sprachvermögen, intellektueller Kraft und Sinnlichkeit alles in den Schatten stellen, was hier geschrieben wird. Ein neues Beispiel für diese Behauptung: Helga Novak.“ Emma

Luchterhand Verlag, Klappentext, 1983

Beiträge zu diesem Buch:

Jochen Hieber: Anrufung der verlorenen Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1983

Jürgen P. Wallmann: Schatten des Wacholders
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 21.8.1983

Johann Keckeis: Leben wird Gedicht
Zürichsee-Zeitung, 6.1.1984

Jürgen P. Wallmann: Wie besessen nach Wahrheit
Deutschland Archiv, Heft 21, 1984

 

Grünheide, Grünheide. Helga M. Novak und Robert Havemann

1
Als Novak das berühmte Gruppenfoto von Roger Melis, das sie mit Robert Havemann in Wolf Biermanns Wohnung zeigt, in ihrem Erinnerungsbuch Im Schwanenhals wägt, nennt sie nicht nur die Personen, sondern fixiert mit Naturwissenschaft und Weltanschauung den geistigen Raum, in den sie getreten waren, der sie, vielleicht, verband. Es war der Untertitel von Havemanns Dialektik ohne Dogma, das Juni 1964 in der von Fritz J. Raddatz herausgegebenen Reihe rororo aktuell erschienen war. Der Umschlag auf dem Taschenbuch zeigte den 53-jährigen Robert Havemann, der, unter dem NS-Regime zum Tode verurteilt, in der DDR eine politische und eine Universitätskarriere gemacht hatte, als Vortragenden und verwies damit auf die Textgattung des Drucks: Vorlesungen. Ein Vorwort, im Band als Faksimile des maschinenschriftlichen und eigenhändig unterzeichneten Schreibens vom Autor, gibt genauere Auskunft. Es handele sich um die Vorlesung „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“, die der Verfasser „im Herbst/Winter-Semester 1963/64 an der Humboldt-Universität zu Berlin für Hörer aller Fakultäten gehalten, und zwar in freier Rede unter Zuhilfenahme einiger vorbereiteter Notizen.“ Als Novak, weit weg von diesem universitären Ort im isländischen Laugarvatn, etwa 80 Kilometer nördlich von Reykjavik, das Büchlein in die Hand bekam, musste sie sich nicht sorgen, einen gänzlich anderen Text als die Zuhörerschaft zu lesen. Havemann hatte sich entschlossen, den „unbearbeitete[n] Originaltext“1 drucken zu lassen. Es kursierten, schrieb er im Vorwort, viele entstellende und fehlerhafte Auszüge, so dass ihm an der Dokumentation des tatsächlich Vorgetragenen liege. Konzeptionell rahmte er das Vorwort einerseits mit dem Bekenntnis, es sei „ein kommunistisches Buch“, und andererseits mit der Adressierung, sich an „Menschen jedweden Glaubens und jedweder politischer Richtung“ zu wenden. Es lud ein zu Kritik, Widerspruch und Zweifel – am Alten wie am Neuen. Helga M. Novak und ihr isländischer Gefährte lasen das Buch, ja sie buchstabierten seinen Inhalt gleichsam Zeile für Zeile durch. „Mitten im Winter“ zwischen „weißbeladenen Kiefern“ und dem „teilweise gefrorenen stäubenden See […] packten uns Sätze aus der DDR.“2 Das Signal war ein doppeltes: Havemanns Kapitalismus-Kritik der Warenwirtschaft, seine Apotheose der Freiheit „über alle Schätze der Welt“, die den Sozialismus als Zwischenstadium und den Kommunismus als zu erstrebende Utopie des Unerreichbaren begriffen, markierten die eigenen Denkbilder – und dass diese Denkbilder aus der DDR herüber spiegelten in einer verständigen wie verständlichen Sprache, nicht im Fachjargon, konnte nur bedeuten, dass „dort etwas [geschah], was ich miterleben wollte.“ Der bereits gehegte und gepflegte Gedanke, in die DDR, deren Staatsbürgerin Novak ja noch war, zurückzukehren und sich dort „von der Existenz des Literaturinstituts Johannes R. Becher in Leipzig“3 am eigenen Leibe einen Begriff zu verschaffen, erhielt den letzten Anstoß.

2
Havemann selbst war für Novak ein unbeschriebenes Blatt, ein Niemand, der aus dem Nichts auftauchte, das ihr die DDR zu werden drohte. Keine Ahnung hatte sie von den Vorgängen, über die Der Spiegel in seiner Ausgabe vom 18. März 1964 berichtet hatte: dass jener Professor nämlich seinen Lehrstuhl eingebüßt hatte, als im Hamburger SPD-Blatt Echo am Abend ein journalistisch aufbereitetes Gespräch mit ihm erschienen war, das seine sozialpolitischen und philosophischen Überlegungen kolportiert hatte. Den DDR-Bürgern müsse mehr Freiheit als denen in westlichen Ländern gewährt werden, und das, was er, Havemann, hier vortrage, sei unter den Kommunisten im In- und Ausland weitgehend Konsens.4 Damit nicht genug, war diesem Bericht O-Ton Havemann im nächsten Spiegel-Heft gefolgt – gedruckt wurden unter dem Titel „,Das Denken entzieht sich dem Befehl‘. Professor Havemann über Sozialismus und Freiheit“ pointiert bearbeitete Passagen aus den besagten Vorlesungen. Da wurde die „Information aller Mitglieder der Gesellschaft“ gefordert, da wurden Regime, die das Volk in Dummheit hielten, als reaktionär klassifiziert, da wurde gegen konfektionierte Menschen gewettert, die sich „behördlich genehmigten Ansichten unterwerfen“, und da wurde, neben der Sentenz, dass die Freiheit „für die Menschheit von fundamentaler Bedeutung“ sei, eine These aufgestellt, die nicht anders als ungeheuerlich genannt werden musste. Havemann hatte den Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus relativiert und ihm Gemeinsames, ja eine Einheit attestiert:

[…] dort eine Welt im Untergang und hier eine im Aufstieg. Nein, beide Teile dieser Welt beeinflussen einander – nicht nur durch Störung –, in gewissem Sinne bedürfen sie einander, sind voneinander historisch nicht nur abhängig, sondern ihre Entwicklung, ihre weitere Umwandlung ist ein einheitlicher Gesamtprozeß5/footnote]

Das war gewagt, und zwar ein Wagnis in jedem Sinne – ein Salto mortale über ideologischen Abgründen, ohne Netz und Seil. Havemann sprang und stürzte im freien Fall. Der Karl Marx „neue Ideen einverleiben“ wollte und die „schärfste Kampfansage an jede Form des Dogmatismus“[footnote]In: Der Spiegel 51/1964 vom 16.12.1964, S. 47–48 verkündete, fiel in kräftigen Rückzügen aus dem DDR-Sicherheits- und Sicherungssystem, das er für unzerreißbar gehalten hatte. Spätestens als sein Konterfei das 13. Heft des Spiegel 1964 mit dem Titel „SED und Freiheit“ zierte, formierte sich eine parteipolitische Gegenfront, der es nicht länger auf der Seele lag, in Havemann einen Verfolgten des Naziregimes zum Angriffsobjekt zu haben. Die Hand dieser Front lag auf allen entscheidenden Hebeln, er hätte es wissen müssen. Wusste er es?
Als Novak sich, in Decken gemummelt, auf Island an Dialektik ohne Dogma? delektierte, öffnete der Spiegel seine Spalten für Havemanns Feststellung, der Marxismus leide an Sklerose. Der Text basierte auf einem Gespräch mit Werner G. Knop, einem deutschstämmigen englischen Journalisten, der mit dem Vorurteil, in ein überdimensionales Konzentrationslager zu fahren, elf Wochen die DDR bereist hatte, überrascht vom dortigen Lebensstandard war und „Tendenzen der Auflockerung, ich möchte fast sagen Liberalisierung“,6 registriert hatte. Knop hatte Havemanns Äußerungen zusammengeschnitten. Herausgekommen war für westliche Augen ein besänftigendes DDR-Bild, für östliche ein unverhohlen kritisches, das einen erst begonnenen Demokratisierungs- und Entstalinisierungsprozess und die deutsche Teilung als die größte Last beklagte:

Für die Dogmatiker auf dem Gebiete der marxistischen Theorie und Philosophie sind wir Revisionisten. Wir wollen dem Marxismus neue Ideen einverleiben, wir wollen uns mit den Ideen des Westens konfrontieren, wir wollen etwas, was den Dogmatikern als ganz verwerflich erscheint, wir wollen die ideologische Koexistenz. […]7/footnote]

Von all dem wusste Novak nichts. Mit ihrem in einem isländischen Selbstverlag gedruckten Band ostdeutsch war sie im Herbst 1965 in Leipzig angekommen, wo sie ihr isländischer Freund Örn aus der Ferne über weitere Havemann-Konflikte aus dem Spiegel unterrichtete. Er fragte:

Sind die Leute interessant, die Du triffst? Ich meine Havemann und so?[footnote]Novak: Im Schwanenhals, S. 294

Was antwortete Novak ihm und wann? Als Novaks Kommilitone Andreas Reimann „beiläufig“ fragte, „Willst du Havemann kennenlernen?“, bot er eine Tür an, die Novak gesucht hatte und ohne Bedenken öffnete. Wohin führte sie?

3
Auf welchen Tag die erste Begegnung der beiden fiel, ist nicht bekannt. Verlässliche Quellen fehlen. Das früheste Zeugnis im Nachlass Novaks ist ein Telegramm von Havemann, datiert auf den 26. November 1965. Noch steht er in Lohn und Brot der Akademie der Wissenschaften, noch im familiären Kreis, doch schon auch mit „Helga“ auf dem Duzfuß. Am selben Tag erreicht ihn von Novak ein Brief mit Bild, auf den er sich „gestürzt habe“. Geschickt hat Novak auch ihren ersten im Luchterhand gerade veröffentlichten Gedicht-Band Ballade von der reisenden Anna. Sie will ins Gespräch kommen, die Gedichte sind nicht Vehikel, sondern Wort- und Gesprächsangebote. Der Band wird zum Faden, aus dem Havemann ein Netz knüpft:

[…] Ich habe auch schon verschiedenen Freunden daraus vorgelesen und heute hat mein Freund Wolf [Biermann – R. B.] mit Dir Bekanntschaft gemacht. Er sagte ohne Neid und ohne jede versteckte reservatio noch gar auf Widerrede hoffend, daß Du besser bist als er.8

Damit ist aus den beiden klangvollen Namen für Novak die Wirklichkeit geworden, die sie gewünscht hat: Robert Havemann und Wolf Biermann. Eine andere „DDR“ tritt in ihr Leben, und der Weg zu ihr führt zurück an die märkischen Orte, denen Novak Heimrecht in ihrer Seelenlandschaft zubilligt. Das ist merkwürdig, und wird merkwürdig bleiben bis zum Schluss. Just ein Tag vor dem Telegramm, am 25. November 1965 hatte der Vorsitzende des Staatsrats, Walter Ulbricht, Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu sich geladen. Es war der Machtauftakt, allem Liberalisieren und Demokratisieren einen Riegel vorzuschieben.
Novak ist vor Ort, sie ist Augenzeuge und misst die Ereignisse mit ihrer Elle. An Örn in Island schreibt sie schon am 21. November 1965, in Leipzig werde „nur gerüstet und gehetzt“, Havemann aber habe sie „so auf Trab gebracht“, dass sie wieder optimistisch sei und „mehr als je zuvor gegen den Staatsapparat und den großen WU opponiere.“ Und sie schreibt auch:

Meine Gedichte gefallen ihm, und ich selber auch. Ja, wir lieben uns auch, sei mir nicht böse! Es ist eben so gekommen […]9

In diesem Spätherbst 1965 liest Novak, wieder und fast schon wieder noch Literaturstudentin in Leipzig, von Havemann Zeilen wie diese, Er freue sich „sehr sehr, daß es Dich gibt und wir müssen unbedingt ganz bald und ganz oft zusammen kommen.“ Am liebsten „schon morgen“.10 Am 1. Dezember 1965 setzt Havemann gar ein Brieflein auf, dessen Stil deutlich wird, zitiert man die Satzanfänge:

ich wünsche […] Ich freue mich, […] Ich warte […] Ich sitze hier […] Ich wollte ich habe […]

So schreibt ein Liebender, der um keinen Preis „weh“ und um jeden Preis „wohl“11 tun möchte: auch und vor allem sich selbst. Es sind Liebesbriefe, sie zu zitieren über dies wenige hinaus ist indiskret. Havemann will begreifen, wer ihn hier in diesem Maße ergreift – und was.

Ich möchte sehr gerne lesen, was Du schreibst.

Überhaupt, solche Leute wie „[w]ir müssen uns ganz mit Absicht nahe sein. Wir leben davon. […]“ Er sei, schreibt Havemann, ihr zugefallen, und:

Ich weiß nicht, wer Du bist.12

Novak nimmt das ernst. Sie möchte wissen, welche Texte Havemann gelesen hat. Wir können, wie sie, nur mutmaßen: vielleicht „Unterm Maulbeerbaum“,13 dieses große Kriegsnachkriegsunfriedensgedicht, oder „Meine Sprache“ mit den Versen „[…] unsere Seufzer Flüche Schreie / […] folgten mir / in die Freiheit eines Hinterhofs […]“.14 Oder ist schon „Mein Staat – Der heilige Martin“ dabei gewesen, in dessen Gedankengang sich Havemanns politische Polemik spiegelt wie der Mond in einem der nächtlichen Seen in märkischer Landschaft?

[…]
mein Staat gleicht dem heiligen Martin
der seinen Mantel zerschlitzt
was soll ich denn mit dem halben Lumpen
dem einen Ärmel anfangen
[…]
mein Staat verlangt daß ich ihn heilige
und drückt sich beiseite
um den andern halben Lumpen
in den Abort zu stopfen
15

Nein, sagt Novak zu Havemann, so dichte sie nicht mehr, und erzählt, sie habe ihrem Verlag im Sommer „ein Manuskript abgegeben mit vielen Liebesgeschichten.“ Jetzt, fährt sie fort, komme es ihr vor, „als hätte ich sie alle nur für Dich geschrieben“.16 Eine Wiederliebende antwortet. Aber das, was man ,das Leben‘ nennt, wirtschaftet in diesen Begegnungssonntag hinein und verwandelt ihn umstandslos in Alltag. Am Institut sei, meldet Novak Anfang Dezember 1965 nach Grünheide, „die politische Hölle ausgebrochen“. Die selige Zeit der Freiheit sei vergangen.

Freunde sind Illusion. Partei ist Wirklichkeit.17

Man sieht sich in diesen Dezembertagen, und man sieht die deutsche wie die DDR-Wirklichkeit. Der Ulbricht-Autoren-Konferenz folgt das 11. Plenum des ZK der SED (16.–18. Dezember 1965) mit gefährlichen Vorwürfen, es formiere sich innerhalb der Schriftstellerkreise eine Art konterrevolutionärer Petöfi-Klub, und mit einer Verbotsliste von Büchern und Filmen, wie sie es nach 1945 nicht mehr gegeben hat.18 Im Deutschen Bundestag erklärt der Fraktionsführer der CDU/CSU, Dr. Rainer Barzel, die „Periode des Wiederaufbaus“ für beendet, stellt fest, dass die fortdauernde „russische Besetzung der SBZ“ die Fortdauer „eines strengen Antikommunismus“ erfordere und warnt vor den Gefahren einer „falsche[n] Handels- und Kreditpolitik“, die der „Zone“19 helfe. In diesen Machtdiskursen ist kein Platz für jene vage Freiheit, die Havemann meint, und schon gar nicht auf Augenhöhe, die beiden politischen Seiten ein abstruses Gebot ist. Worüber sprechen Novak und Havemann in diesen intensiven Begegnungswochen? Havemann weiß DDR-Bilder zu geben, die Novak braucht, Novak weiß Welt zu geben – sie ist gerade in Barcelona gewesen –, die Havemann verliert. Man redet politisch, weil das Politische das Ferment ihrer Liebe ist. Je mehr man in die Zeit gerät, umso zeitloser wird das Band, das sie bindet. „Wir vertrauten einander sofort“, erinnert sich Novak, „und waren miteinander vertraut, ohne uns kennenlernen zu müssen, kannten wir einander bereits. […] Wir waren beieinander, lange vorher.“20
In beängstigender Parallelität hebelt es beide aus ihren so unterschiedlichen Lebensbefestigungen, politisch. Ein Tag bevor das 11. Plenum sein politisch-kulturelles Reinigungsgeschäft aufnimmt, am 14. Dezember 1965 also, befreit sich das Literaturinstitut von seiner nicht einzubindenden Studentin Novak. Als Punkt 3 in der Novak nur mündlich mitgeteilten Begründungsliste zur Exmatrikulation „wurde mir meine Verbindung zu Havemann angelastet und dass ich Schriften von ihm weitergab.21 In wenigen Wochen bröselt das DDR-Existenzgerüst, das sich Novak, mit Havemann-Hoffnungen im Kopf, ein Jahr zuvor auf isländischem Boden konstruiert hatte.
Als am 22. Dezember 1965 in den westdeutschen Zeitungskiosken der 52. Spiegel des Jahres ausliegt, bestimmen zwei Reformer das Heft: einerseits Papst Paul VI. als Vollender des Zweiten Vatikanischen Konzils, ein Jahrhundertereignis, und andererseits – Havemanns „Plädoyer für eine neue KPD“. Was der Verfasser taktierend auf westdeutsche Gegebenheiten bezieht, münzt die Leserschaft strategisch auf die ostdeutschen. Die Gelassenheit, mit der hier Sätze stehen wie „Es muß klar sein, daß die neue KP einen Sozialismus erstrebt, der die demokratischen Errungenschaften der Bourgeoisie nicht zerstört, sondern sichert und ihnen neue hinzufügt“, verblüfft. Havemann sieht eine solche neue KPD als potentielles „gesamtdeutsche[s] Bindeglied“ und fragt, ob über die Alternative Sozialismus oder Kapitalismus „in Deutschland nicht doch einmal durch den Volkswillen, also durch Wahlen entschieden werden“22 solle. Das ist beispiellos. So augenscheinlich heute das Gefälle zwischen beiden Diskurssystemen, so blind ist die DDR-Macht dafür. Sie sieht, was sie sehen will – und das will sie nicht. Postwendend, am 23. Dezember 1965, ausgehändigt gegen Quittung, legt die Leitung der Akademie Havemann den fristlosen Entlassungsbescheid auf den Weihnachtsgabentisch. Unterzeichner ist die Kündigung von Werner Hartke, ehemaliges NSDAP-Mitglied, SED-Funktionär, „Geheimer Mitarbeiter Sicherheit“ unter dem Decknamen „Heide“ und Präsident der Akademie der Wissenschaften. Wenn es einmal einen Kredit für den NS-Zuchthaushäftling gegeben hat, er ist verbraucht. Die neue Frontenlage, sie ist die alte.
Dieses Klima lässt nicht unberührt, was Novak und Havemann leben. Die Briefe zeugen von verunglückten Situationen, „Du weißt“, schreibt er, „daß ich auf den Knacks, den wir hatten, nichts gebe.“ Er gibt seiner „bis zur unteren Grenze ermatteten Verfassung“23 die Schuld, sie ihrer existentiellen Unsicherheit. Dazu eine „so scheußliche Langweile“, die er ausgeströmt habe… „[L]iebst Du mich?“, fragt sie, und gibt gleich die Antwort:

ja! schön dumm.24

Der Boden ist dünn, brüchig, nichts, was Halt gibt, „[…], der Trennung von Anfang an gewiss.25 Die Bindungen des bisherigen Daseins entgleiten Havemann, und er entgleitet ihnen. Stabil und verlässlich allein ist der Ort, an dem er lebt, von dem er nicht fort will („[w] arum und wozu auch, wo es hier so schön ist?“):26 Grünheide. Der Gedanke, dass Novak ihn verlässt, dass sie so plötzlich fort ist, wie sie da war, bedrängt ihn nicht.

Ich habe schon gedacht, Du wärst längst über alle Berge.27

Doch auf die Erinnerung an eine „schwarze wilde Frau in dem dicken Mantel“28 lagern sich neue Bilder. Novak lebt Unabhängigkeit. Sie ist Havemann mit ihrem Leben, das beständig aus Bindungen gerät, Entscheidendes voraus. Ihre Freiheit ist erfahren, ist Praxis, seine noch theoretisch, noch bürgerlich tapeziert. „Komm doch“, schreibt er ihr, als ihm zunehmend bewusst wird, dass sein bisheriges Leben vorbei ist, „Du bist so wunderbar einfach Du“.29 Aber dieses „Du“ entzieht sich immer wieder, es bleibt aus – Novak weiß, wie viel wert die Freiheit ist, Abstand halten zu können. Als Havemann letzte Zeilen schreibt, hat Novak schon nach Island gemeldet, dass sie „nicht länger in Ostdeutschland bleiben“ könne. Sie sei „viel mit Robert zusammen“ gewesen. Seit Mitte Februar sei es verboten, „mit ihm zu sprechen und ihn zu besuchen. Er ist nun deren [gemeint ist die DDR – R. B.] Volksfeind Nr. eins“.30 Und als am 31. März 1966 das Präsidium der Akademie der Wissenschaften beschließt, das Mitglied Robert Günther Havemann aus ihren Listen zu streichen, da ist Novak bereits in Westberlin. Die Ausreise Helga M. Novaks spiegelt doppeltes Scheitern: das der Dichterin, es noch einmal mit der DDR zu versuchen, und das des Philosophen, dieser DDR ein Reformpotential einzureden. „Jetzt gehst Du, so bald ist es geworden“, schreibt Havemann Ende Februar 1966.

Ich mag jetzt nichts mehr schreiben, alles Scheiße. […]31

Erst Ende der siebziger Jahre trafen sich Novak und Havemann wieder, er verwurzelt in Grünheide, zwangsweise, sie entwurzelt, wahlweise. In seinem Zwang lag eine Wahl, in ihrer Wahl ein Zwang.

[…]
ich träumte den Untergang meiner Kulissen
und ging über Scherben davon
ich träumte den Untergang der Farbe grau
und die Begrabene war ich auch
32

Mit einer neuen Familie lebte er in der Grünheider Burgwallstraße 4, observiert von 0 bis 24 Uhr,33 sie nun bald, als wolle sie sich langsam dem gemeinsamen topographischen Terrain nähern, in West-Berlin. Nichts hatte sich geändert, die Magie wirkte fort, man war sich treu geblieben.

Da war er wieder, der Mensch, der mir von Anfang an so vertraut war.34

Ein Gedichtzyklus, den Novak in ihrem 1978 bei Rotbuch herausgekommenen Band Margarete mit dem Schrank als vierten Block veröffentlichte, getitelt „Grünheide Grünheide“, legt gültige poetische Rechenschaft des Erfahrenen ab – er ist Robert Havemann zugeeignet. Er umfasst neun Gedichte, in die hinein „Grünheide“ gewoben ist, Grünheide und Orte, Seen und Landschaften seiner Umgebung. Alle Gedichte dieses Zyklus’ bewegen sich auf betörend drängende Weise in Kindheits- und Jugendwelten eines Ich, das so zwingend zu vergegenwärtigen weiß, dass kein Raum für Gnade bleibt. Das Kern- und Keimgedicht „Eislaufen“ setzt, wie ein Stakkato, unter jede Strophe ein zweimaliges „Grünheide Grünheide“. Schlag auf Schlag hämmern kompakte Wortgruppen Erinnertes an eine imaginierte Pinnwand. Und diese Pinnwand markiert in Schärfe die Trennung von jenem Damals, auf das kein Licht fällt, gehüllt in bleibendes Dunkel, Klarheit statt Verklärung.
Diesen Zyklus erwähnt Novak in Im Schwanenhals nicht. Anders ihr Lektorat, um das Havemann sie offenbar bei einer ihrer Begegnungen Ende 1979 gebeten hatte! Es galt seinem 1980 im Münchner Piper-Verlag erscheinenden Buch Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie und war ihr des Erinnerns wert. Begonnen 1976, hatte Havemann das Manuskript in den unruhigen Monaten, die Biermanns Ausbürgerung gefolgt waren und in seinem totalen Hausarrest gipfelten, liegen lassen. Trotz Aufhebung des Arrestes Mai 1979 – „Die Burgwallstraße in Grünheide wurde über Nacht ein Symbol erfolgreichen Widerstands gegen Unrecht und Behördenwillkür“35 – hatte eine Hausdurchsuchung zu Manuskripteinbußen geführt. Havemann war der Gestus des Gelassenen geglückt. Unverdrossen hatte er die Schreibarbeit fortgesetzt, nun lag ein erster Packen bei Novak auf dem Tisch. „Liebster“, schreibt sie am 8. März 1980 nach Durchsicht der utopischen Erzählung (VI. Die Reise in das Land unserer Hoffnungen), „[a]lle Kommentare sind spontan, […]“, aber auch:

Denke bitte mal über Deine elitäre Denkweise nach.36

Das Manuskript interessierte sie, begeistert oder fasziniert war sie von ihm nicht. Sie irritierte die Mischform des Textes, unklar blieb ihr der Adressatenbezug, Nachlässigkeiten wie viele Tippfehler störten sie, und die Tendenz zu Phrase und Floskel entging ihr nicht:

[…]
17) […] Dein Text ist irgendwie ,von oben‘ gedacht, […]
36) ,im Sinne unserer Großen‘ kannst Du streichen; hör auf mit den dauernden Bekenntnissen zu den Großen: wir sind doch selber wer – Du besonders!!

[…]
46) ,Schwerenöter‘ ist ein Scheißwort
[…]
! hüte Dich vor Kleinbürgerlichkeit! irgendwie fehlt das große Kollektive!
[…]
59) in Deinem Buch ,funktioniert‘ alles so, daß meine Fantasie richtig rebelliert […]37

Das Dilettantische dieser Zukunftsvision, modisch getönt und männlich grundiert, es war zu augenfällig, um der kritischen Leserin nicht ins Auge zu stechen. Glücklich wird Havemann mit diesen Monita nicht gewesen sein. Beklagt hat er sie nicht, aber behoben – so ein erster Befund – auch nicht. „[…] Freundschaft ist eben Auseinandersetzung“, schreibt Novak, „alles andere ist Schmus!“38

5
Dem Gruppenbild aus Biermanns Wohnung 1967 ist eine Gruppenaufnahme aus dem Jahr 1980 zur Seite zu stellen. Es zeigt Helga M. Novak im Kreis von Gästen in Havemanns Wohnzimmer am 11. März 1980, Havemann war 70 geworden. Allein: Das Bild existiert nur in der Imagination. Novak hat es verweigert. Kein reales Bildnis sollte überlagern, was dem poetischen Wort vorbehalten blieb. Das Gedicht erschien im Druck in der Zeitschrift Demokratie und Sozialismus L’80 und siegelte gültig die singuläre Beziehung zwischen Novak und Havemann. Sein Untertitel schlug die Brücke zum Widmungszyklus und wies den Text als „Epilog zu Grünheide Grünheide“ aus – weniger bezugsstark der Haupttitel: „wie der Schatten des Wacholders“. War der Zyklus ganz versunken in vergangenen Bildwelten, vergegenwärtigt der Nachtrag ein Jetzt, das nicht vergehen sollte. Das Präsens führt Regie, der diaristische Zug hält das Zepter. Der Text gibt sich, als sei er Tagebuchnotiz, kein Fakt soll verlorengehen von dieser Reise – und es ist die Reise zu jener Geburtstagsfeier nach Grünheide. Alles scheint wichtig, alles von Gewicht: das Nacktausziehen bei der Grenzkontrolle, der Preis für die S-Bahnfahrkarte, die Umsteigebahnhöfe, die historischen Segmente, die sich bei diesen Orten einstellen und zu ihnen gehören, als seien sie miteinander verwachsen – eingepfercht in semantische Felder, die Wörter besiedeln wie „Strafe“, „Ketten und Fesseln“.39 In ihnen versinkt das Ich. Die Landschaft wird Körper, der Körper Landschaft. Er nimmt von ihr Besitz und wird in Besitz genommen. Getrennt in Einem, eins im Trennenden. Aus dem Faktischen wächst Fiktionales, aus der Version einer Erfahrung ihre Vision, in der Bedrohung und Betörung verschmelzen. Die Wortsinnlichkeit jedes Versblockes spiegelt die extrem beanspruchten Sinne, die keine Erinnerung domestiziert. Das Ureigenste einer Landschaft, die als „meine Gegend“ begehbar bleibt und eindringend sich wieder holt, was ihr gehört, kontrastieren drei „grüne[] Wagen“ – statt des erwarteten einen – mit bedrohlichen „Insassen“ in hellgrauen „Rollkragen“. Intime Selbstsicht wird indiskreter Aufsicht gewahr. Die um Selbstkontrolle ringt, ist umringt von fremder Kontrolle.

[…]
kommt nehmt mich mit hier bin ich
ich gehe durch meine Gegend die Stiefel
im Wasser Wasser in den Stiefeln
für immer und nie wieder bei Herbst
packe mich ein behaltet mich da oder hier
die Ufer den Nebel die triefenden Ahorn-
blätter laßt uns verschüttgehen
zerhacke die Kiefern das Himbeergestrüpp
linker Hand die heimliche Badestelle
gesunken
ertrunken
abtransportieren!
[…]
40

Dieses Gedicht, das hier nur aufgerufen, nicht ausgelegt werden kann, sucht in der deutschen Lyrik, die sich mit „DDR“ befasst, seinesgleichen. Grünheide und seine Umgebung erscheinen als Heterotopien, wie sie der frühe Foucault fixiert hat: als „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hinein gezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, […], gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können […].41 Novak sichert jenen Lebensorten, unerschütterlich und erschüttert, ihre Einzigartigkeit und verleiht ihnen, ohne Havemanns Namen zu nennen, mythische Dimension. Das Reale, poetisch aufbereitet, verortet Utopie. Deren Wesen ist gespannt zwischen Fessel und Freiheit, zwischen Selbstfindung und Selbstverlust, zwischen Bergen und Geborgenheit. Ursprüngliche Übereinkünfte der beiden Liebenden von einst verkehren sich im Vers in archaische Ursprungsbilder. Diese Erfahrung existentieller Ab- und Auflösung sozialer Verwurzelung habe Havemann, so sieht es Novak, zu einer geistigen Größe gemacht, die Grünheide in ein DDR-Niemandsland verwandle. Dort werde Unmögliches möglich, man erkenne einander, man vertraue einander, alle Zwänge fallen ab und das Licht einer Zukunft, an die man nicht mehr zu glauben wage, breite sich aus. Die Person, der alle sozialen Seile gekappt wurden und die nicht daran denkt, sie behelfsmäßig zu flicken, gibt dem Ort neuen Sinn – und mit dieser Sinnstiftung Novak die Idee einer Kindheit und Jugend, die nicht verloren ist und die ihre verlorenen Orte wiederfindet. Die große Welt menschheitlicher Träume vereint sich, für Augenblicke nur gewiss, mit der kleinen, der eigenen Lebensgeschichte. Dieser Gedanke ließ Novak nicht los. Er kam, kurz vor ihrem Tod, noch einmal und ein letztes Mal aufs Papier:

„Grünheide“ – das ist ein Ortsname, den kennt die ganze Welt. Zu dem geächteten und belagerten Professor, der dort wohnte, sind im Laufe vieler Jahre hunderte von jungen und älteren Dichtern, Schriftstellern, Malern, Liedermachern, Studenten, ausländischen Professoren und Politikern zu Besuch gekommen. […] Der Staat, der jene kulturvolle Adresse Tag und Nacht mit einem Dutzend bühnenreifer Scheinwerfer bestrahlte, existiert nicht mehr. Aber Grünheide […] gibt es noch. Ein Ort, […] dessen Name die Welt kennt. Ich meine die Welt da draußen.42

Roland Berbig, in Marion Brandt (Hrsg.): Unterwegs und zurückgesehnt. Studien zum Werk von Helga M. Novak. Mit Erinnerungen an die Dichterin, Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, 2017

Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie

– Laudatio von Rita Jorek zum 10. Christian-Wagner-Preis. –

Hundert Jahre liegen zwischen den Lebensläufen von Helga M. Novak und Christian Wagner. Es lässt sich trotzdem Vergleichbares finden in Werk und Wesen der beiden. Als Dichter müssen wir sie begreifen, als Dichter betrachten sie sich selbst.
Gedichte schreiben können viele, vielmehr lassen die Kunst unbeachtet, schilpen wie die Spatzen daher, für die das Lied der wenigen Lerchen fremd bleibt. Dazu passt ein sarkastischer Kommentar Wilhelm Raabes, der vor hundert Jahren starb. „Was wirklich was taugt, kauft kein Mensch“. Und wenn Kurt Tucholsky zu Hermann Hesses Auswahl von Gedichten des von diesem verehrten Christian Wagner anmerkt: „Nur, die Deutschen lesen solche deutschen Gedichte nicht“, so wünschen und hoffen wir, dass es heute anders sei.

Eine dichterische Existenz wagen, sich dem Leben aussetzen, das ist ein existentieller Drahtseilakt. „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ (Rilke), darf der Wissende, der Fühlende, der Mitfühlende nicht schweigen und hat die Worte zu wägen, zu finden, neu zu finden und zu vertiefen, in Urgründe zu tauchen. Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie.
„Ja, für den Rest meiner Zeit gestatt ich mir eigens die Freiheit / Wahr, aufrichtig zu sein bis zur Schroffheit“, verkündete trotzig Christian Wagner, eine Maxime, die Helga M. Novaks Schaffen bestimmt wie kaum das eines anderen, es deshalb in seiner ganzen Ausdrucksstärke zu einem bedeutenden Zeitzeugnis gerinnen lässt. Sie ist für Wolf Biermann „die zärtlich-schroffeste Dichterin“. Die Begriffe Freiheit und Schroffheit tragen ihr Werk.
Nicht nur Widerspruch, auch Verzweiflung und Enttäuschung bedingen das Aufbegehren und die Wut über herzlose Bürokratie, die den Menschen hinter die Paragraphen setzt. „ich bin frei“, schleudert uns, im Tiefsten und Innersten verletzt, aber auch stolz Helga M. Novak entgegen:

bloß weg von Provinz Terrain und Tümpel
ich bin frei
mein Status nun verbrieft und besiegelt
als „erwerbslose Ausländerin“ verwirkt
mein Aufenthalt im heimatlichen Distrikt
ich bin frei

Um 2004/05 geschrieben, sind das die letzten Verse der zweibändigen Ausgabe ihrer Gesammelten Gedichte und die Quintessenz ihrer Bemühungen, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen, die mit Ablehnungen endeten. 
Ein Treppenwitz der Weltgeschichte: eine deutsche Dichterin, als eine der bedeutendsten erkannt, muss als Ausländerin, als Heimatlose ihre Existenz irgendwie bewerkstelligen.

ich war frei
über Land zu fahren
durch Gegenden vieler Länder
ich war frei
jetzt haben sie mich von meinem
eigenen Land befreit

Dazu passt die bittere Erkenntnis Christian Wagners: „Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande.“
Die Situation ist fast ausweglos, wie so oft in diesem Leben. Da beruft sie sich auf das Meer, dem sie manchmal nahe war und deutet an, was ihr noch bleibt: 
„die hohe See kennt mich sie wartet“
Der Freitod, von Christian Wagner bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Ausdruck des eigenen Willens und der Freiheit, des Lossagens von jeder Knebelung und jedem Joch besungen, verbindet sich für Helga M. Novak ebenfalls mit dem Begriff der Freiheit, nämlich bereits in der Erzählung „In einem irren Haus“.
„Nach einem kurzen Ausflug in den Himmel aus allen Wolken gefallen und hier gelandet“, heißt es da, gelandet in einer Anstalt, wo jegliches Nachdenken verboten und die Auseinandersetzung mit dem Thema tabuisiert wurde. Als eine der ersten nahm sie sich dieses Themas an und anderer, wie das Wirken der Staatssicherheit in der DDR und die Situation von Opfer und Täter. Und so fordert sie „das Recht… sich selbst den Hals umzudrehen“.

Dichter sind Visionäre. In dem frühen Band mit dem Titel Balladen von der reisenden Anna, 1965 bei Luchterhand erschienen, – das meiste davon bereits in dem vorher in Island im Selbstverlag als Ostdeutsch herausgegeben – dort verdichten sich bereits Leben, Selbsterfahrung , Beobachtung, Erzählungen und Schicksale anderer nicht nur mit Fragen und Protest, sondern auch mit Empathie für Betroffene und dem Vorausahnen des eigenen Schicksals, das beispielsweise im „Traum des Emigranten“ alle Trostlosigkeit der Welt evoziert:

Der Emigrant
schreibt Gedichte und macht
Weltverbesserungspläne

das Vaterland winkt schon.

„Das Vaterland winkt schon“ – eine zweideutige Aussage: Will es ihn und seine Weltverbesserungspläne wiederhaben? oder winkt es ab: Brauchen wir nicht! oder will es ihn vernichten?
Wir kannten ja die Emigranten und wussten aus ihren Büchern: Viele Schriftsteller waren darunter, die zur Zeit des „Dritten Reiches“ aus Deutschland flohen – nach Westen (England, USA) die einen, nach Osten (Sowjetunion) die anderen. Von der Rolle, die sie spielten, den Auseinandersetzungen erfuhren wir ebenfalls. Da gab es die Kontroverse zwischen Johannes R. Becher, aus Moskau zurückgekehrt, Kulturminister geworden und Bert Brecht, der aus den USA in die DDR kam. Es war 1956, Brecht starb bald danach, daran, und in Ungarn gingen die Menschen auf die Straße und wurden zusammengeschlagen.
„Das Exil ist eine Wüste, wenn es keine Alternative gibt“. Von Per Olov Enquist stammt diese Feststellung, einem Autor, der wie viele aus Island und Skandinavien, zu den Geistesverwandten Helga M. Novaks gehört.
Bertolt Brechts Lyrik und seine Theaterstücke, die wir im Berliner Ensemble oder wie die Oper „Die Verurteilung des Lucullus“ in Leipzig sahen, übten großen Einfluss auf die aufsteigende Dichtergeneration aus. Und getrost dürfen wir in Novaks alter Bohemienne eine Schwester von Brechts Mutter Courage sehen.
Nebenbei bemerkt, Brecht könnte auch als Zwischenglied zu Christian Wagner führen;
denn dessen Vierzeiler „Winternacht“ erscheint in Versmaß und -melodie, aber auch inhaltlich Brechts „Von der Freundlichkeit der Welt“ vorausgegangen: 
Christian Wagner:

WINTERNACHT

Kalt und strahlend stehet Stern an Stern:
Fremde Augen, doch unsagbar fern;
Teilnahmslos und ohne Liebespflicht
Steht des Himmels Funkenangesicht.

Bertolt Brecht:

VON DER FREUNDLICHKEIT DER WELT

Auf die Erde voller kalten Wind
Kamt ihr alle als ein nacktes Kind.
Frierend lagt ihr ohne alle Hab
Als ein Weib euch eine Windel gab.

Und wenn Helga M. Novak „von sehr großer Not“ berichtet, geht es ebenfalls um menschliches Schicksal, um das Ausgeliefertsein, das bei Wagner ganz allgemein und universell bleibt, während Brecht den Menschen, Kind und Weib, betrachtet. Die Dichterin artikuliert spezielle Frauenqual:

der Spätsonne sag ich dem Aar
dem Ren dem eisigen Wind
zweimal verschenkte ich ein Kind
das ich aus meinem Schoß gebar

In dem frühen Trinklied von der alten Bohemienne, die das Land Atlantis umsonst sucht, spiegelt sich das eigene antizipierte Leben. Im Galgenhumor endet es mit der Apotheose:

und wenn sie einst gestorben ist
macht sie den Himmel hell
sie wird die erste Lady sein
im göttlichen Bordell.

Jahre um Jahre später lesen wir in Silvatica:

die Rumtreiberin hat ihre Laubhütte
verlassen zieht Leine und hängt Netze auf
mit Federn getarnte und extragrüne Lappen
rund um ihren Jagen flattert das Blendzeug
bis sie selber verblendet geblendet
einer Meute auf den Leim gegangen ist

Silvatica, diese Sammlung von Wald- und Jagdgedichten wird zur Metapher eines Außenseitertums eines melancholischen, desillusionierten Rückzuges aus der Gesellschaft in die Natur und zum verkappten Hymnus einer späten Liebe. Zauberhaft verwunschen und doch zeitnah stellt diese Dichtung westliche Zivilisation in Frage.
Heimatlosigkeit, Leben in der Fremde, im Exil durchziehen das ganze Werk.

ich schrei es in die Tagfrüh ich bin
in sehr großer Not und kein Weg
führt daraus trennt das Geheg
und heilt meinen verworrnen Sinn

zweimal verließ ich mein Land zu Fuß
Abzeichen von Belang vermochten nicht
mich zu beugen mein Gesicht
versagte Götzendienst und ehrvoll Gruß

seitdem beherbergt mich kein eigen Dach
die Sprache meiner Leute klingt fern
fremd Schulterzucken salzt das Brot

mein Kleid erregt Spott und Gelach
mich bedecken Nordlicht und Stern
ich bin in sehr großer Not

Nicht weniger erschüttert die „Bittschrift an Sarah“, in den 70er Jahren die Freundin Sarah Kirsch beschwörend, Nachricht über Bekannte und heimische Orte zu geben. Die elfte, die letzte Strophe endet:

Sarah geht los – schaut ob ich noch Freunde habe
sagt ihnen – ich lebe ich sterbe ich lebe
um Himmels Willen
schreibt mir einen Brief von zu Hause

Die Sehnsucht durch die Welt zu reisen, die in unseren DDR-Jugendjahren Utopie bedeutete, transportierte Helga Novak damals in die Begegnung mit einem ihr wichtigen Dichter, der an Deutschland litt, wie kaum einer. Wieder ist es kalt und alles hoffnungslos „an einem deutschen Wintertag“:

ich sagt ich hätt einen deutschen Pass
und könnte doch nicht reisen
da hatt er mich nur ausgelacht
sein Blick ließ mich vereisen

dann meinte er nebenbei zu mir
– sei nur ein Narr und weine
wie ichs vor hundert Jahren tat
ich heiße Heinrich Heine –

Als dieses lapidare Gedicht um 1956 wohl entstand, dessen tragische Aspekte sich aus dem liedhaften Singsang der Reime erst nach und nach ganz erschließen – wie ja viele der Werke von Helga M. Novak einen doppelten und dreifachen Boden besitzen – lag die Zukunft noch vor ihr. Sie studierte an der Fakultät für Journalistik der Leipziger Universität – Kaderschmiede der SED, Rotes Kloster genannt, und wollte – wie ich auch, wir lernten uns dort kennen – Kulturredakteurin / Kunstkritikerin werden.
Es sollte anders kommen. Die Staatssicherheit (Stasi) versuchte sie zu erpressen, weil sie mehr oder weniger vogelfrei zu sein schien. (Aus ihren autobiographischen Romanen Die Eisheiligen und Vogel Federlos ist bekannt, wie es einem Adoptivkind erging, das sich von den Stiefeltern lossagte, um studieren zu können.) 
Nach einem großen Autodafé, das sie bedrohlich an den Pranger stellte, flüchtete sie mit ihrem isländischen Freund auf seine nordische Insel – es war wie jetzt Ende November und dort sehr kalt und dunkel.
Mit der baldigen Heimkehr nach Berlin war sie zur Arbeit in einer Fabrik verdonnert. Das konnte auch nicht von Dauer sein. Die nächste Ausreise, wieder nach Island war 1961, Jahr des Mauerbaus. In kurzen knappen Erzählungen – zusammengestellt in dem Band mit dem Titel In einem irren Haus, findet sich die Quintessenz von Situationen, die zu meistern waren, von Begegnungen und Reisen. Sie war weit herumgekommen in Europa, von Nord nach Süd gefahren bis nach Palermo, von Island bis Barcelona getrampt, viele Stecken zu Fuß gegangen. So bewarb sie sich dann mit jenem Band Ballade von der reisenden Anna, der bei Luchterhand in Vorbereitung war, am Leipziger Literatur-Institut „Johannes R. Becher“ und wurde angenommen, trotz Gedichten wie „Faustregel“, das den Widerspruch zur Lebensmaxime erklärt, oder solchen. die den „Kehricht im Lande Sta“ aufdecken, in der großen Ballade über Annas Schicksal in sibirischer Verbannung oder durch die provokative Frage: „wem gehört eigentlich das Volkseigentum“.
Es war – wie wir sagten – mal wieder „Tauwetterzeit“ in der DDR.
Wir trafen uns auf Leipzigs Straßen. Ich war Redakteurin bei der Leipziger Volkszeitung, freute mich über die Wiederbegegnung und bot ihr an, bei uns zu wohnen. Wir hatten drei kleine Kinder, der jüngste kein Jahr alt und vier kleine Räume, davon bekam sie einen.
Aber auf Tauwetter folgten Regen, Schnee und Eis, ein berüchtigtes Parteiplenum rechnete mit Künstlern, Schriftstellern, Kulturschaffenden ab; Helga M. Novak, die Weitgereiste, Aufmüpfige mit ihrer Freundschaft zu Robert Havemann und Wolf Biermann, kam wieder in die Bredouille, was vielleicht ein zu leichtfertiges Wort ist für die Situation. Vom Staatssicherheitsdienst beobachtet und verfolgt, wurde sie genötigt, die DDR im Frühjahr 1966 zu verlassen und die isländische Staatsbürgerschaft anzunehmen. (Sie war unterdessen mit einem Isländer verheiratet). Aber ihre Heimat war nicht jene ferne, kalte Insel, ihre Heimat – und auf allen Wanderungen zog es sie dorthin zurück – blieben immer Berlin und seine Umgebung, diese Märkischen Wälder und Seen, wo sie als Kind zu Hause herumstöberte. Immer und immer hat sie davon ergreifend geschrieben, ob in den Eisheiligen, in Vogel federlos, in dem Gedichtszyklus „Grünheide, Grünheide“, in „Märkische Feemorgana“ – hier in archäologischen Tiefen grabend – und vor allem in Silvatica. Das von Ulrich Keicher so einfühlsam gestalteten Heft mit dem Prosastück „Lebendiger Fund“ bietet einen kleinen Einblick in die Schreibwerkstatt der Dichterin. Entstand es doch aus Notizen, aus Versuchen auf Zetteln verteilt, in eine Mappe verbannt, Fingerübungen gleichsam zu den Silvatica-Gedichten.
 Groß war die Sehnsucht nach dem Osten. Als Ausgebürgerte durfte Novak die DDR nicht mehr betreten, erhielt deshalb auch kein Transitvisum, um ihren Traum zu verwirklichen, einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren. Imagination und Phantasie beflügelten ihre Fingerreise über Landkarten, die das Versepos „Legende Transsip“ entstehen ließ, um mehr und Eindringliches über russische und sibirische Weiten mitzuteilen als manch tatsächlich Gereiste erfahren können.
Dichtung ist viel mehr als Autobiographie. Auch wenn rücksichtslos aufrichtig um äußerste Wahrhaftigkeit gerungen wird, das Leben, selbst das bittere, besitzt allemal eine poetische Seite. Schon als Kind beschrieb Helga Novak „die roten Ränder der Abendwolken, den Kiefernwald, meine Lieblingsplätze und die Stelle mit den unbekannten Pflanzen“. Die ersten Gedichte verbrannte die Stiefmutter – Kaltesophie in den Eisheiligen genannt. Die über Zeiten sich hinspannende Verwandtschaft zu Christian Wagner, den Dichter der Landschaft, der Blumen und Schmetterlinge zeigt sich in diesem Hinwenden zum Alltäglichen, zum Wald, zum Wacholder, zur Kaiserkrone oder zum weißen Alttier mit roten Augen und deshalb verstoßen, denn „ein jedes soll seine Farbe tragen / wer keine hat ist dem Tode geweiht“.

Den Dichter unterscheidet vom Literaten die Konzentration auf Geist und Form. In den gelungensten Stücken bildet Reife des Ausdrucks die Vollkommenheit des Gedankens. Aus einer Frage von Gustave Flaubert eine Behauptung aufstellend, konstatieren wir: Wer sein Denken zusammenpresst, gelangt immer zum Vers. Und Dichterin ist Helga M. Novak auch in ihren prosaischen Werken. So gehört sie zu jenen, von denen Hermann Hesse in einem seiner Aufsätze über Christian Wagner sagt: „Manche sehen wir in der Flamme verbrennen und verloren gehen.“ 
Um das Verlorengehen von Dichtern, von Künstlern zu verhindern, sind alle – zuförderst die Kundigen, die Fühlenden, die Mitfühlenden – aufgerufen. Die Christian-Wagner-Gesellschaft und die Christian-Wagner-Stiftung, die ohne begeistert engagierte Mitstreitende nicht existieren würden, machten sich das zur Aufgabe. Dass der Preis, der den Namen des eigenwilligen Dichters aus Warmbronn trägt, in diesem Jahr Helga M. Novak zugedacht ist, gereicht allen Beteiligten zur Ehre; denn auf beider Werk fällt dadurch das Licht der Erkenntnis und lässt ihre Bedeutung einmal mehr in das öffentliche Bewusstsein steigen.
Hier ist es denn Zeit, den Dank der Jury und den Preisstiftern von der mit dem Christian-Wagner-Preis geehrten Dichterin Helga M. Novak zu überbringen. Gern wäre sie selbst anwesend, ist aber sehr, sehr krank.
Christian Wagner, der an die Wiedergeburt glaubte und dabei in Tier, Mensch, Pflanze und Unbelebtem gleichberechtigte Wesenheiten erkannte, wünschte am Ende „Lichtwellen neu zu werfen in den Tag, / Lichtsonnen neu zu streuen in das Nichts.“
Ironisch hält Helga M. Novak, ganz Mensch unserer aufgeklärten Zeit, dagegen, indem sie unsentimental feststellt:

nach meinem Tod die Seele
von der ich nicht weiß
wo sie sich augenblicklich befindet
(ich habe sie noch nie gesehen)
wohin sollte sie sich wenden wohin
wenn ich sterbe wenn ich umfalle
dass mein Herz aufhört zu schlagen
ist gewiss auch dass es zu Erde wird
wieviel Herzen habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual eine Art Herberge
meiner Seele später zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient
mein Herz aber wird zerfallen schade

Solche Gedanken münden bei Christian Wagners in verwandtschaftliche, doch hoffnungsvollere Fragen:

Und wer wir künftig, wann dereinst ich sterbe,
Als neues Ich wohl sein mein Geisteserbe?
Wer in der Fernzeit, wenn das Grab mich schattet,
Erstehn, mit meinen Liedern ausgestattet?

Christian Wagner, dem es nur selten vergönnt war, aus der Fron des Warmbronner Landlebens auszusteigen – gleich Helga M. Novak war er allerdings auch in Italien und beide schrieben ihre Gedichte über die Stätten, an denen sie sich aufhielten – versuchte von hier aus den Weltgeist zu erhaschen. Helga M. Novak setzte sich ganz und gar dem Zeitgeist aus, diesem 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen und der Teilung Deutschlands. Früh schon begriff sie die Divergenz zwischen sozialistischer Theorie und Realität, stellte sie in Frage. Zwischen Ost und West wandelnd, schrieb sie ein gewichtiges Stück deutscher Literatur.

Rita Jorek, 2010

 

Lebenswege

Die Dichterin Helga M. Novak. Ein Feature von J. Monika Walther

Die verlorene Tochter. Ein Skandal: Helga M. Novak darf nicht nach Deutschland

Ulrich Schäfer-Newiger: Sprache. Freiheit. MelancholieÜber Helga M. Novak als Dichterin.

Utz Rachowski: Wie ich die große Dichterin Helga M. Novak verpasste

Bernd Markowsky: „Wenige haben so viele Grenzen hinter sich gelassen wie wir“

Andreas Reimann: DDR ausprobieren

Hannes Schwenger: „Ich wohne bei der Eule“

Hans Altenhein: Transsibirische Reise

 

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Michael Braun: Schöne Verwilde­rung
Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2005

Fries, Fritz Rudolf: Versuch einer Liebeserklärung
Neues Deutschland, 8.9.2005

Thomas Poiss: Dichtermut, Dichterjubel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2005

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Ulf Heise: Anarchin in polnischer Klausur
Märkische Allgemeine Zeitung, 7.9.2010

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1 Antwort : Helga M. Novak: Grünheide Grünheide”

  1. Jana Hampel sagt:

    Vielen Dank für die verschiedenen Nachdenkereien über Helga M. Novak.
    Ihre Gedanken und ihre Sprache in ihren Gedichten und Büchern liebe ich sehr.
    Das Buch „Vogel Federlos“ spielt in dem Gebäude, dass ich seid 7 Jahren mit Freunden in der märkischen Schweiz- Waldsieversdorf bewohne.
    Wir möchten nun ein Stipendium für Schriftsteller in Erinnerung an Helga M. Novak ins leben rufen. Wer kann mir dabei dienlich sein?
    Herzlichen Gruss von Jana Hampel

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