Leseprobe:
Zu Mittag erhielten wir das billigste Kantinenessen,
das es in der Schule gab. Als Amerika 1945 den Krieg gegen Japan gewann, bekam
die Sheng-Xin-Schule Carepakete aus amerikanischen Armeebeständen: Wir aßen
Dosenschinken, Rindsragout,
steinharte Kekse, Käse und Schokolade,
bis die Vorräte aufgebraucht waren. Vor jeder Mahlzeit beteten wir und dankten
den amerikanischen Alliierten dafür, dass sie den Krieg gewonnen hatten und
uns Carepakete schenkten.
Das Abendessen
war unsere einzige ordentliche Mahlzeit und immer ein beängstigendes Ereignis.
Pünktlich um halb acht Uhr läutete die Glocke; wir gingen hintereinander hinunter
ins Esszimmer und nahmen an dem großen ovalen Tisch die uns zugewiesenen Plätze
ein. Ye Ye, das Scheinoberhaupt der Familie, saß am Kopf des Tisches mit Blick
auf den Garten, rechts neben ihm Tante Baba und links Vater und Niang. Gregory
und Edgar hatten ihre Plätze neben Tante Baba, James und ich am Fußende des Tisches.
Damals in Schanghai aßen Franklin und Susan nicht mit uns.
Wir präsentierten
uns jeden Abend in unseren Schuluniformen, mit ordentlich gekämmten Haaren, geleerten
Blasen und gewaschenen Händen. Aufrecht und steif saßen wir ängstlich aus unseren
Stühlen, in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben. Wir, die Stiefkinder, durften
bei Tisch nicht sprechen, auch nicht miteinander. Wenn mein Name genannt wurde,
durchfuhr mich panische Angst, und ich konnte nicht weiteressen, denn unweigerlich
folgte nun eine äußerst unangenehme Szene.
Es gab immer sechs oder sieben schmackhafte
Gerichte. Zwei Dienstmädchen brachten das Essen herein: Schweinenieren, gebratenes
Huhn, gedämpften
Fisch, Krabben, gebratenes
Gemüse und zum Schluss eine dampfende Suppe. Vater schaute seinen Kindern gern
beim Essen zu und forderte uns immer wieder auf, so oft Reis nachzunehmen, wie
wir wollten. Allerdings mussten wir immer alles aufessen, es durfte nicht ein
Körnchen Reis in der Schale bleiben.
James und ich mochten kein fettes Fleisch.
Wir mussten es trotzdem essen und entwickelten bald alle erdenklichen Methoden,
Fleischbrocken in der Tasche, den Socken oder Hosenfalten zu verstecken oder unter
den Tisch zu kleben. Manchmal eilten wir hastig mit vollem Mund ins Bad, um das
fette Fleisch in die Toilette zu spucken. Wenn nichts half, schluckten wir die
Stücke unzerkaut hinunter.
Nach dem Abendessen wurde frisches Obst serviert.
Wenn Vater Gäste hatte, bekamen wir die Reste; obwohl es dann weniger gab, aßen
wir gern allein. Es erinnerte uns an die schöne Zeit in Tientsin, und wir mussten
das fette Fleisch nicht verstecken. Außerdem konnten wir uns unbeschwert unterhalten
und lachen.
Für Franklin und Susan wurde eine Gouvernante eingestellt, Miss
Jian, eine angeblich gebildete Dame. Das Essen bekamen sie auf dem Zimmer serviert,
und sie durften sich in der Küche bestellen, was sie wollten. Sie bekamen Eier
und Speck, Toast
und Haferflocken, frische Erdbeeren und Melone zum Frühstück. Franklins Haare
wurden vom besten Kinderfriseur in Schanghai geschnitten, Susan trug fröhliche
bunte Kleidchen mit hübschen Bändern und Schleifen. Manchmal waren sie schon aus
ihrer Kleidung gewachsen, bevor sie sie überhaupt getragen hatten. Sie erhielten
Unmengen Spielzeug und verbrachten ihre Zeit auf ihrem eigenen Balkon. Jeden Nachmittag
tranken sie Tee und aßen kleine Sandwiches, Schokoladenkekse, süße
Brötchen ,
Kuchen und Gebäck.
(Aus "Fallende Blätter" von Adeline Yen Mah. ... mehr über dieses Buch ... )