Terézia Mora: "Das Ungeheuer"
Die unbekannte Partnerin
Darius Kopp war bereits in Terézia Moras Roman "Der
einzige Mann auf dem Kontinent" Protagonist, ebenso wie Flora, seine Frau.
In "Der einzige Mann auf dem Kontinent" war Darius Kopp drauf und dran, sich
selbst im Geschäftsrausch seiner IT Consulting-Welt zu verlieren, seine
weltliche Entfremdung stand im Mittelpunkt des Romans, der brillant vor Augen
führte, welche Auswirkungen auf die Psyche das digitale Zeitalter mit sich
bringt. Am Ende des Vorgängerromans findet Darius Kopp zurück zu seiner Frau,
von der er sich im Laufe der Erzählung entfremdet hat, eine Art glückliches Ende
steht im Raum.
"Das Ungeheuer" beginnt mit exakt denselben Worten, mit
denen der Vorgänger begonnen hatte, allerdings entpuppt sich dies als Traum, der
rasch Platz macht für die traurige Wahrheit. Flora hat, offensichtlich knapp
nach dem vermeintlichen glücklichen Ende, im Wald Selbstmord verübt. Darius Kopps
Trauer ist immens, auch seine Wut darüber, offenbar wenig bis gar nichts über
das Innenleben seiner Frau gewusst zu haben. Zehn Monate dauert seine Trauer bis
jetzt, die er in seiner Wohnung verbracht hat, versoffen, verwahrlost, der Welt
entschwunden.
Der Fund ihres Tagebuchs, das er sich übersetzen lässt,
bringt ihn so weit, dass er sich auf die Spurensuche macht. Zusätzlich sucht er
nach dem geeigneten Ort, um die Asche seiner Frau beisetzen zu lassen. Er fährt
zuerst nach Ungarn, von wo aus ihn die Reise über Kroatien, Albanien, die
Türkei, Georgien und Armenien nach Griechenland führt, wo er bei einem alten
Geschäftspartner Unterschlupf findet und seine Trauer aufarbeiten kann.
Terézia Mora hat sich einer Technik bedient, die vor
wenigen Jahren J. M. Coetzee in seinem großartigen Roman
"Tagebuch eine
schlimmen Jahres" angewandt hat. Sie teilt die Seiten in untere und obere Hälfte
(bei Coetzee waren es drei Ebenen) durch einen horizontalen Strich und erzählt
Darius Kopps Reiseroman in der oberen Hälfte. Die untere Hälfte, die nicht immer
bedruckt ist, ist Floras Tagebucheintragungen vorbehalten. Lesen kann man
das entweder Seite für Seite, oder mit Hilfe der beiden Lesebändchen in
abwechselnden Abschnitten.
Diese auf den ersten Blick vielleicht unnötig erscheinende
Gliederungstechnik erweist sich allerdings als absoluter Glücksgriff, vor allem,
wenn man in kleineren Tranchen zwischen den beiden Ebenen wechselt. So beginnen
die beiden Ebenen miteinander zu leben, auf einander zu wirken und die
Beleuchtung des jeweils anderen Textes subtil zu verändern. Gerade das
Fragmentarische der Tagebucheinträge ist im polyphonen Gewebe dieses Romans
besonders stark, schockierend im tragischen Rückzug der Protagonistin.
Während seiner immer absurder werdenden Reise durch den
meisten Lesern wahrscheinlich eher unbekannte Gegenden des östlichen Europas
schweift Darius Kopps Erzählung, die virtuos zwischen innerem Monolog und
Außenperspektive hin und her wechselt, immer wieder in die vergrabenen Regionen
seines Gedächtnisses ab. Durch dieses Koexistieren von Ich-Erzählung und
auktorialer Erzählung, teilweise innerhalb der Sätze, entsteht eine
vielstimmige, differenzierte und facettenreiche Prosa, die unter Anderem
auch das Porträt einer unter schweren Depressionen leidenden Frau ist.
Irgendwie sind alle Figuren in diesem Roman Vertriebene und
Suchende, Kopp aus der DDR stammend, Flora aus Ungarn, die Autostopperin Oda die
Tochter von Eltern, die Albanien in Richtung Italien verlassen haben, selbst auf
der ständigen Reiseflucht, der englische Reisepartner, den Darius Kopp in
Istanbul aufgabelt, die verschiedenen Mitglieder der georgischen Familie, bei
der Darius in Tiflis Unterschlupf findet, aber auch der armenische Mafioso, den
er offensichtlich am Sewan-See in einem bordell-ähnlichen Hotel kennenlernt;
alles sind sie Vertriebene, Zurückgekehrte, Nichtsesshafte, Getriebene.
Menschen, in deren Gegenwart Kopp lernt, mit seinem Zustand und dem Gefühl der
Schuld an Floras Tod (hätte er nicht merken müssen, wie es um sie steht?) fertig
zu werden.
Die Richtungslosigkeit der Reise Kopps, die ihn mit der
Urne seiner Frau am Ende an ganz andere Orte als geplant führt, die scheinbar
beliebige Auswahl seiner Reisepartner und die Interaktion mit diesen ist
glänzender Kern dieses fast 700 Seiten langen Romans, der keine Sekunde lang an
Spannung und Qualität verliert.
Während Darius Kopp, der eigentlich ein absoluter Antiheld
ist, auf der Suche nach Antworten über Flora ist, ist er in Wahrheit dabei, sich
selbst zu finden (nein, Kerouac stand hier nicht Pate). Frappierend die Wirkung
der beiden so weit auseinander gehenden Stimmungskurven der beiden Texte, die
aus dieser Fortsetzung einen Kommentar, eine andere Interpretation, eine
Ergänzung oder auch eine andere Stellungnahme zum vorigen Roman machen, der allerdings
nie erahnen ließ, dass eine derart starke Variation folgen würde. Terézia Moras
Prosa trifft genau, ist abwechslungsreich und fordernd, sie weiß genau, wie sie
ihre Leser fesselt und bis zum Ende führt. Es ist definitiv eine Seltenheit, dass
ein Text dieser Länge keinen einzigen Durchhänger hat.
Terézia Mora hat mit ihrem Roman "Das Ungeheuer" einen
großen Wurf gelandet, einen Roman, der mehr als verdient auf der sogenannten "Shortlist" des "Deutschen Buchpreises" zu finden ist, und dem der Rezensent wünschen würde, als
Sieger hervorzugehen. Ein Roman, der für den Rezensenten einen der stärksten
deutschsprachigen Romane der letzten Jahre darstellt.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 09/2013)
Terézia Mora: "Das Ungeheuer"
Luchterhand Literaturverlag, 2013. 683 Seiten.
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Weiterer Literaturtipp:
Olaf Kühl: "Der wahre Sohn"
Zunächst ist es für Krynitzki ein ganz normaler Auftrag: Er
soll eine verschwundene Luxuslimousine ausfindig machen und von Kiew
nach Deutschland zurückbringen.
Mit solchen Missionen verdient der Enddreißiger seinen
Lebensunterhalt, Versicherungen bezahlen ihn, und auch in diesem Fall
scheint der Betrug auf der Hand zu liegen. Halb unbewusst vor seiner
Familie und seiner zerrütteten Beziehung aus Berlin
flüchtend, fährt Krynitzki nach Kiew -
und stellt fest, dass der dortige Halter des Fahrzeugs ein hoher
Beamter war, der vor wenigen Monaten gestorben ist. Krynitzki lernt die
rätselhafte, eigentümlich anziehende Witwe Svetlana
kennen - und ihren Sohn Arkadij, ein hochbegabter Geist, der in
einer psychiatrischen Anstalt lebt und sich obsessiv mit der
gewaltreichen ukrainischen Geschichte sowie mit dem Schicksal seiner
vor Jahrzehnten verschwundenen Kinderfrau Olga befasst.
Krynitzki erkennt, dass die Spuren zu der unauffindbar bleibenden
Limousine wie zu Olga im Dunkel der Familiengeschichte zusammenlaufen,
merkt aber nicht, dass er längst in einen gefährlichen
Strudel geraten ist. Denn er wird selbst verfolgt ...
Olaf Kühls großartig gezeichnete Figuren lavieren zwischen Sehnsucht
und den Schatten der Vergangenheit, Betrug und Selbstbetrug. Ein
hochliterarischer Roman über die schmerzhafte Suche nach der
Wahrheit.
Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische
Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin und
ist vor allem als Übersetzer
aus dem Polnischen und Russischen bekannt. 2005 wurde er mit dem
"Karl-Dedecius-Preis" für sein polnisch-deutsches
Übersetzungswerk ausgezeichnet. Seit 1996 ist er Russlandreferent
des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. 2011 erschien Olaf
Kühls Debütroman "Tote Tiere". (Rowohl Berlin)
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