Doris Knecht: "weg"
Im Deutschen gibt es nicht viele
Wörter, die - von Klein- und Großschreibung abgesehen - gleichlautend Substantiv
und Adverb sein können. Das Adverb "weg" ist statisch, bezeichnet einen
momentanen, wiewohl nicht unumkehrbaren Zustand des Getrenntseins und der
Distanz. Der Weg ist ein unabgeschlossener Prozess wie in einem Roadmovie
oder in Jack Kerouacs Roman "On The Road" / "Unterwegs" (1957, dt. 1959), mit
dem sich Doris Knechts "weg" das Thema der Drogen und eine suchende
Ziellosigkeit teilt.
Mit dieser Ambiguität spielt die aus Rankweil
stammende Journalistin und Schriftstellerin Doris Knecht in ihrem in
konsequenter Kleinschreibung "weg" genannten Roman. Doch ist die Orthografie
nicht das Einzige, was über weite Strecken des 300-seitigen Buchs vage,
ambivalent und unausgesprochen bleibt.
Nach einer kurzen Liebschaft als
junge Erwachsene in Wien hätten Heidi und Georg einander wahrscheinlich schon
längst aus den Augen verloren, womöglich vergessen. "Es war ihr bester
Abend; besser wurde es nicht mehr, nie mehr" (Seite 119). Doch sie haben
eine gemeinsame 23-jährige Tochter: Charlotte, genannt Lotte, ist unweit von
Frankfurt in der Reihenhaussiedlung einer deutschen Kleinstadt bei ihrer Mutter
Heidi aufgewachsen, die sich mit Beharrlichkeit ihr derzeitiges Familienleben
und andere Schicksalsscherben schönzureden bemüht. Die größten Sorgen macht
Lotte selbst, die nach Suchtmittelmissbrauch im Halbwüchsigenalter psychisch
krank ist. Als Studentin will sie ohne den Ballast der Vergangenheit in der
Großstadt Berlin einen Neustart wagen.
Als Lotte weder auf Anrufe ihrer
Mutter noch auf SMS und "WhatsApp" reagiert, ist auch Vater Georg
gefordert, der seit vielen Jahren gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Lea das
Gasthaus seiner Eltern im niederösterreichischen Kamptal führt. Sein Leben mit
drei Kindern, Hund und sonderlichen Dauergästen im Wirtshaus erscheint beständig
und gelungen, wenn auch nicht geordnet.
Über Umwege und mehr durch
Zufälle und eine Hartnäckigkeit, die sie im bisherigen Leben vermissen ließ,
erfährt Heidi, dass Lotte in Vietnam ist. Georg und Heidi zögern nicht lange und
fliegen ihrer auffällig rothaarigen Tochter nach. Die in Südostasien seltene
Haarfarbe erleichtert die durchwegs blauäugige Suche nach der jungen Europäerin,
die das Elternpaar bis nach
Kambodscha, weit in die eigene Vergangenheit und zu
ihrem eigenen Loslassen von dem führt, was ihr Leben in Deutschland und
Österreich zu bestimmen droht. Sie finden sich und einander.
Das Buch
umrahmt das sprachliche Bild von südostasiatischen Straßen: "Wie man auf
einem Moped fahren kann: allein. Zu zweit ... Zu dritt ... Kommt drauf an, wo
man geboren wurde, wie man lebt und wer man ist" (Seite 5). Was am Anfang
nur dann als klarer Hinweis auf die Verortung in Vietnam oder Kambodscha
erkennbar ist, wenn man den Klappentext gelesen hat, ergibt auf der letzten
halben Seite des Buchs neuen Sinn: "... die Frau hinten lacht. Das Moped
fährt schneller. Die Frau vorne lacht jetzt auch." Innerhalb des stimmigen
Rahmens bricht zwischen Heidi und Georg Verschiedenheit auf, latent im
sprachlichen Ausdruck, offenkundig angesichts des
fremdartigen Essens und des
bedrohlichen Mopedverkehrs im südostasiatischen Megastädten. Wieder und wieder
kontrastieren die vielfältigen Schuldgefühle der Kleinstädterin Heidi, ihre
geleugnete Verzweiflung über die Auflösung ihrer Familie und ihre nervige
Unentspanntheit mit der coolen Selbstgefälligkeit Georgs, in dessen
Leben nicht nur Gäste des Wirtshauses eher im Nebeneinander als im Miteinander
existieren. Realitätsverleugnung eint, worin sich ihre Lebenswelten
unterscheiden.
Die verzweifelte Suche nach der psychotischen Tochter löst
Beklemmung aus; doch der Kontrast in und zu den beiden asiatischen Ländern und
ihren Bewohnern, aus deren ferner Perspektive die Ungleichheit des Lebens der
deutschen Frau und des österreichischen Mannes nichtig ist, enthebt den Roman,
mehr Roadmovie als Reiseroman, der Alltagstristesse in eine flotte, oft
auch humorvolle Lektüre. Gewiefte Impulse zum Nachdenken über sich und die Welt
sind inkludiert.
(Wolfgang Moser; 05/2019)
Doris Knecht: "weg"
Rowohlt Berlin, 2019. 300 Seiten.
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