Terrorismus:Die Lizenz zu töten in bester literarischer Absicht

Bretons Gewaltfantasie war älter. Er dachte an die Anarchisten, die zum Ende des 19. Jahrhunderts angefangen hatten, die weitgehend autoritären Regimes zu beseitigen: Zwei amerikanische Präsidenten wurden umgebracht, ein Zar, die österreichische Kaiserin, etliche Großfürsten. Die Anarchisten verbreiteten so gründlich den Schrecken, dass das Bundeskriminalamt noch 1971 nach "anarchistischen Gewalttätern" suchte, als es nach der ersten Generation der RAF fahndete.

Der Surrealismus war keineswegs so nett und harmlos gemeint, wie die posterfähigen Bilder von Magritte oder Dalí vorgeben. Für den "Aufschwung des Geistes zu einer endlich bewohnbaren Welt", den Breton doch wollte, brauchte es mehr und auch die Versicherung, dass er, der Surrealismus, "sich einzig von der Gewalt etwas verspricht". Es war die Lizenz zum Töten; in bester literarischer Absicht, versteht sich.

Was den Terroristen zu seiner Tat treibt, ist schwer zu sagen. Breton ist es nicht, jedenfalls dürfte er es kaum bei jenen sein, die sich auf den IS berufen. Aber wie Breton verspricht sich der Terrorist einzig von der Gewalt das gewünschte Ergebnis, nämlich maßloses Aufsehen, Furcht und Schrecken, den reinen Terror. In Deutschland, in Europa gibt es keine ruchlosen Potentaten und Machthaber mehr zu töten, die Stauffenberg-Rolle wurde nach 1944 nicht nachbesetzt. Doch im Namen nicht der Zivilisation, aber einer nicht weiter definierten Kultur nimmt der massenmörderische Terrorist Zuflucht zur schlimmsten Barbarei, wiederum in bester literarischer Absicht, die Breton ebenfalls benannt hat. "Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen - der gehört eindeutig selber in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe."

Seit Dostojewski schwärmt die Literatur für den Mörder, der zum Heiligen erhoben wird

Und wer möchte schon gern auf diese fette Seite gehören? Das ist bestes elitäres Denken, ein Geistesaristokratismus, dem das unvermeidlich feiste Bürgertum nur als Gegner dienen kann. Die sinnlose Tat ist auf einmal nicht mehr sinnlos, weil sie immer die Richtigen trifft, die anderen, die Masse, gegen die der Einzeltäter mit seiner unbestimmten Wut vorgeht. Der Wanst der Gesellschaft befindet sich für den Terroristen immer in Schusshöhe. Seine Sorge gilt keinem Nachruhm, am Aufschwung des Geistes ist er nicht interessiert, aber er hat die Erniedrigung und Verdummung der Welt am eigenen Leib erlebt - oder er glaubt es zumindest. Er wird sie davon reinigen, am besten mit Blut. Das passende Wort kommt nicht nur aus den Gewehrläufen, sondern aus der Schreibmaschine der ehemaligen Journalistenschülerin Brigitte Mohnhaupt: "wir haben nach 43 tagen hanns-martin schleyers klägliche und korrupte existenz beendet." Wieder ein Schuss in den Wanst der Gesellschaft, im Herbst 1977 nicht mehr die "absolute Revolte" der Surrealisten, aber in der Tradition des russischen Tyrannenmords.

Die Literatur, die Kunst insgesamt, schwärmt seit Fjodor Dostojewski für den Mörder, der damit zum modernen Heiligen erhoben wird. Wenn Mick Jagger in "Sympathy for the devil" während der kurzen satanistischen Phase der Rolling Stones als Teufel die Verantwortung für alle Untaten des 20. Jahrhunderts seit der Ermordung der Zarenfamilie übernimmt, verschwindet das unfassbare Böse für einen Moment in der Fiktion, aber beiläufig erklärt er eben auch, dass alle Polizisten "kriminell" seien, and all the sinners saints, alle Sünder Heilige.

Erfreulicherweise haben sich die Pariser Surrealisten damit begnügt, über die Unterschiede in der Orgasmusfähigkeit von Mann und Frau zu diskutieren und sich ansonsten wegen Links- oder Rechtsabweichung gegenseitig aus ihrem Club auszuschließen. So wurde der Surrealismus Geschichte, aber leider nicht nur Literaturgeschichte.

Ein bisschen bang wurde Breton später doch vor seinen Worten und er schrieb sie dann seinem "natürlichen Hang zur Agitation" zu. Niemals sei es ihm in den Sinn gekommen, dabei "abzukratzen", und deshalb starb der Agitator auch in seinem Bett und nicht auf der Straße. 5000 Menschen gaben ihm 1966 das letzte Geleit. Vier Wochen vorher lief auf dem Filmfestival in Venedig "Die Schlacht um Algier". Zu sehen waren junge Frauen, die in der Handtasche Bomben ins Café trugen und Unschuldige töteten. Wieder ging es darum, so viele Menschen in der Menge wie möglich zu treffen. Das war kein Film, sondern hier wurde gezeigt, wie die algerische Befreiungsbewegung die Franzosen aus dem Land vertreiben konnte.

Was aber Literatur war, ist Alltag geworden: der reine Terror.

© SZ vom 21.07.2016/rn
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