Literaturtheorie > New Historicism (Stephen Greenblatt)

Möglichkeiten literarhistorischen Arbeitens
Knappe Bemerkungen zum New Historicism

Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993Ein eigenständiges, ausschließlich auf sich selbst bezogenes literarhistorisches Interesse - das dann in letzter Konsequenz zum Selbstzweck gerinnt - kann heute kaum überzeugend konstatiert werden. Es geht, wie Wolfgang Haubrichs in seiner Einleitung zum Themenband "Literatur als historischer Prozeß" der "Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik" bereits 1978 formulierte, um den "mögliche[n] Ort der Literaturgeschichtsschreibung" [1], um ihre thematische Bestimmung, ihre Funktionalität, um die Charakterisierung ihres Gegenstandes. Dabei oszilliert eben diese Charakterisierung zwischen den Polen einer Gegenstandsbestimmung von 'Literatur als Kunst', gegenüber der Literarhistorie "den obliquen Charakter einer hermeneutischen Hilfswissenschaft" besitze, und 'Literatur als Kultur', gegenüber der Literaturgeschichte in den weiteren Rahmen allgemeiner Kulturgeschichte und Geschichte" trete, "deren Interessen und Kategorien sie dann teilt". [2] Haubrichs betont nachgerade den 'Doppelcharakter' der Kategorie 'Literatur': Sie ist sowohl "Kunstphänomen" als auch "Sozialgeste" bzw. Kulturzeugin; Literaturgeschichtsschreibung kann sich von daher nicht auf nur einen Aspekt versteifen, etwa auf eine vage und geradezu mystifizierende Sichtweise von Literatur, die deren 'Eigentlichkeit' vor sozio-kulturell orientierten Zugriffen schützen zu müssen glaubt. Der nicht selten geübte "hermeneutische Monismus", so Haubrichs, sei zugunsten einer fundamentalen Bestimmung von Literaturgeschichte im Sinne von "Literatur als historischer Prozeß" abzuweisen. Es gehe letztlich um die "Rekonstruktion der Kommunikation mit Texten und des intersubjektiven Handlungszusammenhangs, in dem ein Text entsteht und fortwährend rezipiert wird". [3]

Im engen Anschluss an die Aufforderung, Literatur in ihrer historischen Prozesshaftigkeit zu begreifen, sind besonders in den letzten zwanzig Jahren Forderungen nach einer neuen kulturhistorischen Funktionsbestimmung von Literarhistorie laut geworden. Bedenkt man, so Eberhard Lämmert 1986,

"daß die poetische Literatur mit Vorzug gerade diejenigen menschlichen Lebensbewandtnisse und -konflikte zu ihrem Thema macht, die weder von den staatlichen Instanzen noch auch von den institutionalisierten Wissenschaften schon versöhnt oder wenigstens geregelt sind, dann ist am Ende die Literaturwissenschaft vor anderen Disziplinen fähig, eine profunde Kulturgeschichte zu schreiben, in der für unsere Zeitgenossen die Herkunft ihrer heutigen Lebensverfassung samt ihren Nöten und unerfüllten Wünschen allgemeiner und besser sichtbar zu machen ist als mit der bloßen Beschreibung ihrer politischen oder wirtschaftlichen Geschichte". [4]

Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995Das hier angedeutete "politisch wie anthropologisch signifikante Ineinanderwirken von Literatur, Kultur und Gesellschaft" [5] findet seine wohl konsequenteste Fortführung in dem seit den frühen achtziger Jahren zum Durchbruch gelangten "New Historicism", der vor allem mit dem Namen des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt verbunden ist. Ohne hier auf alle Details seines Ansatzes - den Greenblatt selbst im übrigen nur mit äußerster Zurückhaltung formuliert - eingehen zu können, sei doch auf das konstitutive Moment seiner Überlegungen hingewiesen. Es handelt sich um den Versuch einer Aufhebung, oder besser: Umgehung der traditionellen Text-Kontext-Opposition, die literarische Äußerungen auf einen zumeist starr fixierten historischen Hintergund bezieht. Greenblatt geht es um die Auflösung der hierarchischen Struktur von Text und Kontext, um eine 'Aufwertung' des 'Hintergrundes' mittels einer Textualisierung des Kontextes. Dadurch wird eine Ebenengleichheit beider Schichten erzielt, die es letzthin ermöglichen soll, die sozioökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken aufzudecken, die sich in literarische Texte, sei's offen, sei's verdeckt, eingenistet haben.

Auch Greenblatt kommt es auf die Rekonstruktion des geschichtlichen Kontextes an, er fragt allerdings nicht nach Abhängigkeiten, sondern nach "Verhandlungen" ("negotiations"), nach "Zirkulation" ("circulation") und nach "Tausch" ("exchange") von Texten und Kontexten resp. von Texten und kulturellen Praktiken. [6] Dies hat eine völlig modifizierte Fragestellung an Literatur zur Folge; es gilt zu entdecken,

"wie die kollektiven Überzeugungen und Erfahrungen gestaltet, von einem Medium in ein anderes transportiert, zu überschaubaren ästhetischen Formen verdichtet und zum Konsum angeboten wurden. Wir können untersuchen, wie die Grenzen zwischen den als Kunstformen ausgezeichneten kulturellen Praktiken einerseits und anderen, nahestehenden Ausdrucksformen andererseits gezogen wurden. Wir können zu klären versuchen, wie diese besonders abgegrenzten Zonen mit der Macht ausgestattet wurden, Vergnügen zu bereiten, Interesse zu wecken oder Ängste auszulösen. Es geht nicht darum, den bezaubernden Ein-druck ästhetischer Autonomie zu verabschieden, sondern vielmehr darum, die objektiven Bedingungen dieser Bezauberung zu untersuchen [...]". [7]

Für die analytische Praxis, mithin für den Gesamtkomplex der Literaturgeschichtsschreibung hat dies spürbare - und nicht selten kritisierte - Konsequenzen: Der Linearität traditioneller Literarhistorie und deren Präsentation wird eine Darstellung entgegengesetzt, die bewusst die Momente des Nicht-Systematischen, des Anekdotischen, des Widersprüchlichen und des Diskontinuierlichen hervorhebt. Vereinheitlichende Erklärungsmodelle und Präsentationsweisen werden zugunsten ungeordneter Heterogenität und Pluralität aufgegeben, die "assoziative Montage", die "kulturgeschichtliche Momentaufnahme" tritt an die Stelle der linear organisierten Erzählung. [8]

Stephen Greenblatt: Schmutzige Riten. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995Basis dieser neuen Literarhistoriographie ist eine radikale Interdisziplinarität, die sowohl literarische als auch nicht-literarische, kanonisierte wie stigmatisierte Texte miteinschließt. Mittels einer "Vernetzung mit anderen gleichzeitig entstandenen Dokumenten" werden die literarischen Texte rekontextualisiert, "so daß sie wieder mit jenen Bedeutungen aufgeladen werden, die durch die unvermeidliche selektive Überlieferung verloren gegangen sind". [9] Impulsgebende Folge dieser auf Interdisziplinarität gründenden "poetics of culture" ist eine Aufwertung des literarisch scheinbar Marginalen, das als Untersuchungsgegenstand im Sinne des New Historicism eine ebenso wichtige Rolle bei der Aufdeckung "jene[r] kulturellen Praktiken" spielt, "in deren Spannungsfeld Literatur entsteht" [10], wie dies den nobilitierten Texten zu unterstellen ist.

Die kurzen Bemerkungen zum New Historicism Greenblattscher Prägung sollten das Möglichkeitsspektrum literarhistorischen Arbeitens wenigstens andeutungsweise skizzieren. Das Produktivitäts- und Innovationspotenzial des New Historicism zeigt sich dort, wo er um mentalitätsgeschichtliche, kultursoziologische und zivilisationstheoretische Aspekte bereichert wird. Die Verknüpfung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes Stephen Greenblatts mit Implikationen der Zivilisationstheorie (Norbert Elias), der Kultursoziologie (Pierre Bourdieu) und der Mentalitätsgeschichte kann dazu beitragen, "zu vermeiden, daß die Textwelten in einer anachronistischen Weise rekonstruiert werden, die eher unsere eigenen Vorstellungen und Verhaltensformen reflektiert als solche der Entstehungszeit" [11].

Die Inanspruchnahme der genannten Ansätze resultiert dabei keineswegs aus einem oftmals beschworenen - und verurteilten - disziplinären Unbehagen des Literaturwissenschaftlers gegenüber seinem Fach und seinem spezifischen Gegenstand 'Literatur': Die kulturwissenschaftliche Orientierung bedeutet keine Flucht in vorgeblich wenig reflektierte "programmatische 'Als'-Metamorphosen" [12] (-Literaturwissenschaft als Sozialgeschichte, als Ideologiegeschichte, als Mentalitätsgeschichte und eben als Kulturgeschichte -), sondern ist vielmehr Ausdruck der Erkenntnis, "daß 'Kulturwissenschaft' einen veränderten Kontext aller mit Kultur befaßten Wissenschaften bedeutet, in dem Literaturwissenschaft sich nicht auflöst oder preisgibt, sondern auf den bezogen und nicht gegen ihn Literaturwissenschaft sich definiert" [13]. Kulturwissenschaft kann letztlich, so Graevenitz, als der "pluralistische Kontext für die Selbstreflexivität einer pluralistischen Literaturwissenschaft" aufgefasst werden "und nicht als der ungleiche Gegenpart in einer verfehlten Konfrontation". [14]

Holger Dauer

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Buchcover:
1) Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1993.
2) Moritz Baßler (Hrsg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u.a. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995.
3) Stephen Greenblatt: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995.

Zwei Buchtipps:
• Roland S. Kamzelak (Hrsg.): "Historische Gedächtnisse sind Palimpseste". Hermeneutik, Historismus, New Historicism, Cultural Studies. Festschrift zum 70. Geburtstag von Gotthart Wunberg. Paderborn: Mentis Verlag 2001.

• Moritz Baßler (Hrsg.): New Historicism. Stuttgart: UTB 2001.

Anmerkungen

[1] Haubrichs, Wolfgang: Einleitung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik [LiLi] 8 (1978) H. 32: Literatur als historischer Prozeß. S. 7. [zurück]

[2] Zitate: Anz, Heinrich: Geschichte und Literaturgeschichte. Bemerkungen zu den Kategorien der Literaturgeschichtsschreibung. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel. Zu seinem 60. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern und hrsg. v. Herbert Anton, Bernhard Gajek u. Peter Pfaff. Heidelberg 1977. S. 27. [zurück]

[3] Alle Zitate: Haubrichs, Wolfgang: Einleitung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik [LiLi] 8 (1978) H. 32: Literatur als historischer Prozeß. S. 8. [zurück]

[4] Lämmert, Eberhard: Die Geisteswissenschaft in der Hochschulpolitik des letzten Jahrzehnts. In: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Hrsg. v. Georg Stötzel. 2. Teil. Berlin u. New York 1986. S. 20. [zurück]

[5] Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990. S. 56. [zurück]

[6] Vgl. hierzu beispielsweise Stephen Greenblatts Aufsatz: Grundzüge einer Poetik der Kultur. In: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Aus dem Amerikanischen v. Jeremy Gaines. Frankfurt/M. 1995. (= Fischer Wissenschaft. 12507.), bes. S. 111 und S. 115f. [zurück]

[7] Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Aus dem Amerikanischen v. Robin Cackett. Frankfurt/M. 1993. (= Fischer Literaturwissenschaft. 11001.) S. 14. [zurück]

[8] Zitate: Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990. S. 64 bzw. S. 63. [zurück]

[9] Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990. S. 63. [zurück]

[10] Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Hrsg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart 1990. S. 63. [zurück]

[11] Dörner, Andreas u. Ludgera Vogt: Kultursoziologie (Bourdieu - mentalitätsgeschichte - Zivilisationstheorie). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hrsg. v. Klaus-Michael Bogdal. Opladen 1990. (= WV studium. 156.) S. 145. [zurück]

[12] Haug, Walter: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft? In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte [DVjs] 73 (1999) S. 69. [zurück]

[13] Graevenitz, Gerhart v.: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte [DVjs] 73 (1999) S. 96. [zurück]

[14] Graevenitz, Gerhart v.: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte [DVjs] 73 (1999) S. 98. [zurück]