Literatur im Lichthof - Weitwinkel
- Thomas Wegmann: Die Ich-AG: Selbstausbeutung oder Selbstverwirklichung?
- Bernhard Sandbichler: „Quartessenz“ – eine Momentaufnahme aus 4 x 4 Ausgaben
- Manuela Schwärzler: Innsbrucker Gender Lectures I, Band 1
- Bernhard Sandbichler: Gert Chesi, Menschenbilder aus anderen Welten
Thomas Wegmann: Die Ich-AG: Selbstausbeutung oder Selbstverwirklichung? Impulse für das Montagsfrühstück am 5. März 2012, Literaturhaus am Inn
Kaum ein Wort wurde durch die rot-grüne Regierung in Deutschland (1998-2005) so populär wie das der ‚Ich-AG’. Menschen sollten sich selbst als Kleinunternehmer auf den Markt bringen. Laut Duden: Wörterbuch der New Economy bedeutet Ich-AG aber auch, dass jeder der Unternehmer seines Lebens sein und wie bei einer Aktiengesellschaft, einer AG, immer am Kurswert der eigenen Person arbeiten soll. So stellt sich ein neues Verständnis her, wie Menschen sein sollen und auf das hin sie sich selbst zu formen versuchen.
Dieses „unternehmerische Selbst“ ist Titel und Thema eines vielbeachteten Buches (2007), in dem der Soziologe Ulrich Bröckling die Maxime „Handle unternehmerisch!“ zum kategorischen Imperativ der Gegenwart erklärt hat.[i] Ein unternehmerisches Selbst, so Bröckling, ist man nicht, man soll es werden. Und man wird es, indem man sich in allen Lebenslagen kreativ, flexibel, eigenverantwortlich, risikobewusst und kundenorientiert verhält. So wie der Unternehmer der Marktakteur schlechthin ist, solle jeder Mensch heute sein Humankapital fördern, um damit den Erfordernissen des Marktes Rechnung zu tragen. Denn in der ständigen Erneuerung von Produktion und Markt fragen Unternehmen nicht mehr nach Unterordnung durch Disziplin, sondern nach Initiative aus eigener Motivation. Das Leitbild ist aber zugleich Schreckbild: Was alle werden sollen, ist auch das, was allen droht. Der Wettbewerb unterwirft das unternehmerische Selbst dem Diktat fortwährender Selbstoptimierung. Deutlich wird dabei, wie Selbstdisziplinierung und Selbstenthusiasmierung Hand in Hand unser privates Sein unablässig durchformen und bestimmen.
„Etwas Besseres als die Festanstellung finden wir allemal!“ So lautet der Slogan eines anderen, ebenfalls vielbeachteten Sachbuches, das 2006 erschien. Seine Autoren: Holm Friebe und Sascha Lobo, beide in den 1970er Jahren geboren, beide aus dem Umfeld der Zentralen Intelligenz Agentur (ZIA). Die wiederum verfügt über kein Büro, stattdessen aber über eine – mittlerweile verwaiste – Homepage und bezeichnet sich selbst als „kapitalistisch-sozialistisches Joint Venture mit dem Anspruch, neue Formen der Kollaboration zu etablieren“. Der Titel des Buches: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Im Prinzip ist damit schon Alles gesagt: Den Kennzeichen der Disziplinargesellschaft wie pflanzenbewehrten Büros, festen Arbeitsverträgen und -zeiten wird eine Absage erteilt zugunsten eines selbstbestimmten Lebens mit den neuen Technologien. Das Zauberwort lautet ‚Vernetzung’, und gemeint sind damit sowohl die Netzwerke der neuen Medien, in denen die digitalen Bohemiens produzieren, als auch das soziale Umfeld. Die enge Einbindung in soziale, künstlerische und digitale Netzwerke – so die Hoffnung der Autoren – bringe ständig neue, teilweise überraschende Erwerbsmöglichkeiten mit sich. Man schaltet Werbebanner auf den eigenen Websites, handelt mit virtuellen Immobilien, lässt sich Projekte sponsern oder verkauft auch schon mal eine Idee an einen Konzern. Hauptziel ist nicht das Geldverdienen, sondern ein selbstbestimmter Arbeitsstil, der den eigenen Motiven folgt: Arbeit als lifestyle. Es geht um Selbstverwirklichung und Kreativität, was auch immer man darunter versteht. Der Begriff der Kreativität hat dabei „für die Subjektkonstitution weitreichende Folgen, denn er suggeriert die Möglichkeit einer permanenten Selbsterfindung des Subjekts [gerade] mittels der neuen Medien […].“[ii] Kreativität war ob ihrer Unkalkulierbarkeit in der Vergangenheit stets ambivalent codiert: gleichermaßen schöpferische Ressource wie bedrohliches Potenzial. Die Innovationszwänge ökonomischer Modernisierung lassen sie indes zu einem Passepartout in der Zivilreligion des unternehmerischen Selbst werden, und das gilt auch für den Begriff der Arbeit, der von Holm Friebe und Sascha Lobo schon im Titel ihres Buches genannt wird. Er steht in einer Tradition, die Niklas Luhmann einmal so charakterisiert hat: „Erst eine Gesellschaft mit Geldwirtschaft kann den phantastischen Gedanken aufbringen, Arbeit sei knapp und deshalb begehrenswert.“[iii]
Mit dem unternehmerischen Selbst, das auf ständige Optimierung desselben abzielt, und dem kreativen Selbst, das sich irgend ausdrücken und realisieren will, sind – so meine These – die beiden Antagonisten benannt, die zusammen ein zeitgemäßes Drama aufführen. Sie verkörpern nämlich zwei Imperative, ohne die unsere Gegenwart nicht auskommen kann. Der eine lautet: ‚Sei Du selbst!’ der andere: ‚Diszipliniere Dich!’ Der eine trägt dazu bei, dass man aus Liebeskummer ganze Semester fahren lässt, sich ironiefrei betrinkt und am Ende beginnt, Gedichte zu schreiben oder Songs zu komponieren. Der andere dazu, dass man mit 28 gemeinsam eine Paartherapie beginnt, um endlich zu lernen, wie man sich optimal und harmonisch voneinander trennt, ohne ein einziges Semester zu verlieren. Sprichwörtlich großes Kino entsteht, wenn man beide Komponenten ungebremst aufeinander treffen. Das ebenso vielbeachtete wie adäquate Format, in dem dieser Konflikt vor einem Millionenpublikum ausagiert wird, ist die Castingshow, im deutschsprachigen Raum etwa ‚Deutschland sucht den Superstar’, kurz und liebevoll DSDS genannt. Darin ist erfolgreich, wer die zunächst widersprüchlichen Imperative „Arbeite an Dir! Sei kreativ! Diszipliniere Dich!“ harmonisch zusammenbringen und vor der so genannten Jury und einem Millionenpublikum gefällig zu inszenieren vermag. Für DSDS hat Diedrich Diederichsen das wie folgt beschrieben: „Star ist zwar noch immer, wer auffällig, irre und besonders ist, zugleich werden aber harte Arbeit und Disziplin als Ursache dieses Erfolges ausgegeben und disziplinarische Imperative verhängt. Der exponierte Einzelne wird bei Balance aus Spott und Verehrung ins Zentrum der Attraktion gestellt, aber die Botschaft lautet: ‚Seid normal, arbeitet an euch, diszipliniert euch!‘, kombiniert mit dem anderen Befehl: ‚Sei authentisch! Sei, wie du wirklich bist!‘; so produziert man hochprofessionell bescheuerte, gleichwohl restunterhaltsame Trottel ohne jede Würde, die im Erfolgsfall Celebritys genannt werden und häufig öffentlich heiraten.“[iv] So erzeugt man ‚Sichtbarkeiten‘ (und Unsichtbarkeiten) und damit Anderssein bzw. Differenzen, allerdings als Resultat von Disziplin. Das Format ist so erfolgreich, weil es Differenz durch Disziplin zu erzeugen versucht – und genau da besteht offenbar gegenwärtig großer Bedarf.
Warum aber gehorchen wir so vielen Imperativen? Warum können wir alles, außer nichts tun? Weil, so meine These, das Selbstmanagement, die Selbstregierung, seit dem 18. Jahrhundert, also seit der Entstehung von funktional ausdifferenzierten und somit nicht mehr stratifikatorischen Gesellschaften Gleichheit und Ungleichheit auf neue und zunehmend raffiniertere Art korreliert und korrelieren muss: Am Anfang, so könnte man zugespitzt formulieren, stehen französische Revolution und Bildungsroman;[v] am Ende steht das unternehmerische Selbst. Lassen Sie mich diesen Zusammenhang kurz erläutern: In Wilhelm Meisters Lehrjahren geht es um ein moderne, nicht mehr qua Geburt oder Stand definierten Selbst, das herzustellen der Roman das Rezept und die Medien liefert. Das Paradox dabei: Der Mensch wird zum Subjekt, weil er sich zu dem erst machen muss, was er schon ist, weil er das Leben führen muss, welches er bereits lebt. Und genau dieser Gemeinplatz zeitgemäßer Identitätspolitik formiert sich im späten 18. Jahrhundert als Bestandteil eines Modernisierungsprozesses, und zumindest auf literarischem Gebiet ist Goethes Wilhelm Meister ein, wenn nicht der Schlüsseltext, der die Genese des modernen Subjekts gleichermaßen exemplarisch wie singulär fasst. Es geht um die paradoxe Aufforderung zu werden, was man schon ist und dabei gesellschaftliche Erzeugung und Selbstkonstitution zu verbinden. „Individuum-Sein wird zur Pflicht“, wird Niklas Luhmann die Konsequenz dieser Dynamik später skizzieren. Das Medium des Individuum-Werdens par excellence ist der bürgerliche Roman des 18. Jahrhunderts, und darin wiederum nehmen die Lehrjahre als Bildungsroman eine besondere Stellung ein. Sie formulieren die Wissensdispositive und erzählen von den Praktiken, die es Menschen ermöglichen und sie dazu nötigen, sich als autonome Persönlichkeit zu begreifen und zu inszenieren. Mit Hilfe der Turmgesellschaft wird der Protagonist, der exemplarisch das Individuum schlechthin markiert, zum Handlungszentrum und Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften etc. Der Turm erweist sich als „eine literarische Bürokratie und [als] Agentur des Bildungsromans selber. Techniken der Macht und des Schreibens müssen zusammenkommen, um eine neue narrative Gattung zu erzeugen. Von Goethes Zeitgenossen bis zu seinen gegenwärtigen Interpreten hat die Verwunderung darüber nicht aufgehört, daß der Turm freigebende Produktion und kontinuierliche Überwachung der Individuen zugleich ist. Als ob dort ein Widerspruch bestünde, wo eine Strategie zwei Taktiken einschließt. Disziplin ist die Origo des Originals.“[vi]
Vor diesem Hintergrund erweisen sich ‚Selbstmanagement’ und ‚Selbstregierung’ nun als hochspannende, aufschlussreiche Komposita, die ökonomische bzw. politische Verfahrenstechniken auf den Umgang mit dem eigenen Selbst übertragen – und dabei nicht nur die Kategorien von ‚privat’ und ‚öffentlich’ diffundieren lassen, sondern auch die Grenzen zwischen dem, was man altmodisch als Fremd- bzw. Selbstbestimmung bezeichnet hat. Disziplin muss nicht mehr von außen gesteuert und kontrolliert werden, sondern ist Bestandteil des Selbst geworden, das sich selbst so regiert und reguliert, dass im günstigen Fall keine Sanktionen von außen mehr nötig sind, weil deren Ziele längst adaptiert, verinnerlicht wurden. Michel Foucault hat das ‚Gouvernementalität’ genannt und damit ein Konzept bezeichnet, in dem alle Formen öffentlichen Zusammenlebens und persönlichen Verhaltens Objekt einer Regulierung sind: Techniken und Künste des Regierens, die sich in einem Netzwerk aus Macht und Wissen nicht nur beim Führen eines Landes, sondern auch in der Führung „seiner selbst“ wiederfinden.[vii] Ratgeber aus dem Management-Bereich predigen dieses Leitbild seit Jahren: Sei dein eigener Coach oder „empower yourself“. Das Modell der vertraglichen Einigung aus der Wirtschaft avanciert jedoch nicht nur zum Modell für den Umgang mit dem eigenen Selbst, sondern formatiert alle sozialen Beziehungen: Wenn etwa Eltern geraten wird, nicht mehr auf dem Weg der Autorität zu erziehen, sondern auf dem von Familienkonferenzen, bei denen man Abmachungen mit Kindern trifft. So studieren Kinder ein Verhalten ein, das später auf einem deregulierten Arbeitsmarkt verlangt wird: sich aufgrund von Abmachungen selber zu Aufgaben zu motivieren. Da dauerhafte Arbeitsverhältnisse seltener werden, muss die und der Einzelne sich als die Marke „Ich selbst“ auf diesem Markt behaupten. Das verlangt zunehmende Selbstverantwortung. Sie schließt eine Verantwortung für das Scheitern ein, das geradezu vorprogrammiert scheint. Denn ein Subjekt zu werden ist etwas, dem niemand entgeht und das zugleich niemandem für immer gelingt. Die Krankheit des modernen Menschen ist daher das ‚erschöpfte Selbst’, der Burnout in der Depression.
Wir alle sind längst Bestandteile dieser skizzierten Prozesses, und das gilt auch für das schöne Montagsfrühstück: Während es in einer an den Wertigkeiten der Arbeiterklasse – Arbeit als fremdbestimmt, aber ökonomisch notwendig – orientierten Popkultur eine reiche Tradition des ‚Montagsbashings‘ gibt – ich erinnere nur an Songzeilen wie „just another manic monday“ (Bangles) oder „I don’t like mondays“[viii] – treffen wir uns hier und jetzt ganz entspannt und selbstbestimmt am Montagmorgen zu einem Forum für strategische Langsamkeit. Und merken dabei vielleicht ganz langsam, wie schwierig die Kritik an den Verfahren des Selbstmanagements letztlich ist, weil zwischen Selbstverwirklichung und Selbstdisziplinierung nicht prinzipiell zu unterscheiden ist. Und weil ein unternehmerisches Selbst zu werden, ja zunächst selbst ein kritisches Projekt ist, da es ein Absetzen vom Mainstream verlangt. Eine Kritik daran muss in vieler Hinsicht dem ähnlich sein, was sie kritisiert: Sie muss flexibel und kreativ sein. Eine lokale, punktuelle Kritik, die nicht mehr auf den großen Widerspruch setzt, sondern versucht, sich immer wieder neu von den Zumutungen des Marktes abzusetzen.
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[i] Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007. [ii] Ramón Reichert: Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0, Bielefeld 2008, S. 43. [iii] Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 21996 S. 215. [iv] Diedrich Diederichsen: Wohlklang in einem etwas anders sozialisierten Ohr. Warum die Popmusik an einem Ende angekommen ist - und was wir in Zukunft noch von ihr erwarten können. In: Süddeutsche Zeitung v. 3.8.2009. [v] Während der französischen Revolution war es nicht zuletzt die Guillotine, die Könige und Nicht-Könige ihres Kopfes beraubte (und die Goethe seinem Sohn als Spielzeug schenkte) und Ungleiche gleichmachte. [vi] Friedrich A. Kittler: Über die Sozialisation Wilhelm Meisters. Dichtung als Sozialisationsspiel. Hrsg. von Gerhard Kaiser und Friedrich A. Kittler, Göttingen 1978, S. 13-124, hier S. 107f. [vii] Zu den komplexen und historisch wandelbaren Künsten des Regierens zählt Foucault explizit auch das Regieren seiner selbst. Vgl. Michel Foucault: Die Gouvernementalität. In: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, hrsg. von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke, Frankfurt a. M., S. 41-67. [viii] Bob Geldorf für The Boomtown Rats. Inspiriert wurde Geldof durch die 16-jährige Brenda Ann Spencer, die am 29. Januar 1979, einem Montag, aus einem Fenster ihres Elternhauses auf dem gegenüberliegenden Gelände der Grover Cleveland Elementary School in San Diego den Schulleiter und den Hausmeister mit einem halbautomatischen Gewehr tötete und einen Polizisten und acht Schüler verletzte. Als Begründung für ihre Tat gab sie einem Journalisten am Telefon und der Polizei bei der Verhaftung die Antwort: “I don’t like Mondays. This livens up the day.”
Bernhard Sandbichler: „Quartessenz“ – eine Momentaufnahme aus 4 x 4 Ausgaben
Blitzlicht
„Ein interessantes publizistisches Produkt mit aktuellen Glossen und Kommentaren“ – und 10 Jahre ist es auch noch geworden. Aber darum geht’s nicht wirklich, um diese „Zeitschrift des Forums Kunst-Wissenschaft-Medien“, die „Quart“ heißt und letztes Jahr ein rundes Jubiläum feierte. Die erscheint in Wien in der Nachfolge von Otto Mauers „actio catholica“, und Ansinnen der Redaktion war es von Beginn an, die Zeitschrift aus der Eigentümer- und Herausgeberschaft der Österreichischen Bischofskonferenz herauszulösen. Das bedeutet natürlich auch aufgrunddessen: kleinstes Budget, ehrenamtliche Redaktion. Wenn hier Beiträge erscheinen, sind die Beiträger tatsächlich dafür „gewonnen“ worden und nicht bezahlt.
Auslöser
Doch hier geht es um die Tiroler „Quart“, das Nachfolge-Produkt für Wolfgang Pfaundlers „Das Fenster“, das vor mittlerweile zehn Jahren von der Kulturabteilung des Landes Tirol in Auftrag gegeben wurde und das zwar den gleichen Titel trägt, der Wiener „Quart“ aber jedenfalls geografisch und vermutlich auch ideologisch diametral entgegengesetzt ist. Die ersten zwei „Quart Heft[e] für Kultur Tirol“ erschienen 2003, und so sind es im Lauf von acht Jahren 2 x 8, also 16 Hefte geworden, marketingtechnisch gewiefter formuliert: „4 x 4 Ausgaben der Kulturzeitschrift Quart“. Daraus wurden im letzten Bücherherbst zwei Essenzen destilliert, kurz „Quartessenz“ – und fertig ist der Kalauer.
Autofokus
Das Wichtigste ist, dass diese Essenzen – gefühlte 2000 Seiten eingedampft auf ca. 400 + 500 – fotogen herzeigbar sind. Hergezeigt wurden sie am 14.10.2011 auf der 54. Kunstbiennale in Venedig. Nicht dass gleich die halbe Welt davon Notiz genommen hätte; aber zumindest die Tirol-Werbung hat darüber berichtet und man lernt daraus: Wer zahlt, will auch etwas für sein Geld haben. Im O-Ton und in voller Länge klingt das so:
„Die 54. Kunstbiennale in Venedig bildete am vergangenen Freitag das außergewöhnliche Ambiente für die Präsentation eines außergewöhnlichen Werkes: ‚Quartessenz‘. Auf über 900 Seiten wurde ‚das Beste vom Besten‘ der bisher erschienenen Ausgaben des preisgekrönten Tiroler Kulturmagazins QUART in Buchform zusammengefasst. Im Beisein von Finanzministerin Maria Fekter, der Tiroler Kulturlandesrätin Beate Palfrader und dem Geschäftsführer der Tirol Werbung, Josef Margreiter, standen die Giardini der Lagunenstadt ganz im Zeichen von Kultur ‚Made in Tirol‘. In Zusammenarbeit mit der Tirol Werbung luden Heidi Hackl und Andreas Schett, die als Chefredaktions-Duo für die erfolgreiche Tiroler Kulturzeitschrift QUART verantwortlich zeichnen, am vergangenen Freitag nach Venedig. Dort bildeten die berühmten Giardini der 54. Kunstbiennale den würdigen Rahmen für die Präsentation eines außergewöhnlichen Tiroler Kunstwerkes: Quartessenz, die über 900 Seiten starke Auswahl der erlesensten Beiträge des preisgekrönten Kulturmagazins QUART. ‚Wir freuen uns sehr, dass mit Quartessenz nun in konzentrierter Form eine Anthologie mit regionaler Anbindung und internationaler Ausstrahlung sichtbar wird, die über die Jahre von so bedeutenden Künstlern und Autoren wie Candida Höfer, Olafur Eliasson, Markus Schinwald, Franz Schuh, Martin Gostner, Ilija Trojanow, Raoul Schrott, Lois Weinberger, Peter Kogler, Martin Walde, Eva Schlegel oder Hans Schabus exklusiv für Quart geschaffen wurde‘, zeigten sich Heidi Hackl und Andres Schett vom neusten Kunstwerk aus der QUART-Redaktion begeistert. Die Buch-Präsentation lockte zahlreiche namhafte Gäste aus dem Kulturbetrieb nach Venedig. Autorin Lydia Mischkulnig sowie die Kuratorin des Nagoya City Art Museums und der Aichi Triennale in Japan, Hinako Kasagi, zeigten sich vom präsentierten Buch beeindruckt. Ebenso wie Architekt Hanno Schlögl und Fotograf Walter Niedermayr. Auch hochrangige Vertreterinnen aus der Politik kamen zur Buchpräsentation. Finanzministerin Maria Fekter sowie die Tiroler Kulturlandesrätin Beate Palfrader ließen sich die Gelegenheit, Tiroler Hochkultur auf einer derart internationalen Bühne zu würdigen, nicht nehmen. ‚Die Tiroler Landesregierung legt sehr großen Wert darauf, Tirol als ‚Kulturland‘ zu positionieren – und dazu gehört auch ein qualitätsvolles, offenes Forum, auf dem frei erörtert wird, was Kunst und Kultur heute ganz allgemein bedeuten und speziell für Tirol bedeuten können. Ein solches Forum bietet QUART auf einem sehr hohen Niveau‘, lobte Palfrader die Kulturarbeit der QUART-Herausgeber. Die Politikerin betonte, welch enormes Renommee die seit neun Jahren erscheinende Zeitschrift genießt: „Die Qualität des Magazins wurde mittlerweile auch international mehrfach bestätigt, zuletzt durch die Auszeichnung ‚grand prix‘ beim diesjährigen ‚red dot award‘, die nur zehn von insgesamt 6.468 eingereichten Arbeiten erhalten, was mich als Kulturlandesrätin besonders freut und auch stolz macht.‘ Als ganz besonderer ‚Laudator‘ stellte sich der Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele, Sven-Eric Bechtolf, mit einer Lesung aus dem brandneuen Buch Quartessenz ein. Die Kommissärin der 54. Kunstbiennale, die Tirolerin Eva Schlegel, fungierte als Gastgeberin und freute sich über den kulturellen Besuch aus der Heimat. Auch Josef Margreiter, Geschäftsführer der Tirol Werbung, hielt mit seinem Stolz nicht hinter den Berg: ‚Für Tirol ist das Magazin QUART ein kulturelles Aushängeschild von internationalem Format. Die besten Beiträge renommierter Künstlerinnen und Künstler liegen nun in komprimierter Form im Buch Quartessenz vor und sind gleichermaßen eine Werkschau höchster künstlerischer Qualität ‚Made in Tirol‘. Es bestätigt außerdem unsere Initiative zur Positionierung des Kulturlandes Tirol, an der wir mit unserer Kampagne kultur.tirol gemeinsam mit dem Land und unseren Partnern seit einiger Zeit erfolgreich arbeiten. ‚ Kulturlandesrätin Beate Palfrader hofft, dass Quartessenz nur einen ‚ersten Zwischenbericht‘ darstellt und ist sich zugleich sicher, dass noch weitere folgen werden: ‚Diese komprimierte Darstellung dessen, was in diesem eigentümlichen Format möglich war, macht auch deutlich, wie wichtig kulturelle Auseinandersetzungen mit den zentralen Fragen der Zeit für unsere Gesellschaft sind. Mit der Präsentation auf der Biennale in Venedig bekommen diese Quartessenzen jenen prominenten und stimmigen Rahmen, der einer international erfolgreichen Kulturzeitschrift zusteht.‘“[i]
Retusche
Der Auftraggeber drückt seine Wertschöpfung und -schätzung ganz unverblümt aus, durchaus zu Recht. Von anderer Seite, der kritisch rezipierenden „architektur.aktuell“, wurde diesbezüglich angemerkt: „Die heikle Balance zwischen politisch opportuner Berichterstattung und kritischen Inhalten im Kulturbereich, die einem offiziellen Medium eigen ist, wird hier vorbildlich bewältigt – es geht nämlich ausschließlich um Kunst und sonst nichts. Nur Erstveröffentlichungen werden abgedruckt, phantastisches Graphic-Design mit großformatigen oder sogar textilen Beilagen geboten, schräge (M-Preis) mit konventioneller (Raiffeisen) Inseratenästhetik gemischt alles zusammen ein frischer, anspruchsvoller, zeitgemäßer Nachfolger von Wolfgang Pfaundlers legendärem Fenster.“[ii]
Objektiv
Design, so heißt es in dem unlängst auf Deutsch publizierten Blog des chinesischen Künstlers Ai Weiwei, sei nur dann wirklich gut, wenn es den Menschen auf einer höheren Ebene berühre. Wenn es über Lösungen für eine höhere Geschwindigkeit oder größere Bequemlichkeit hinausgehe, ohne dass geklärt wäre, was diese uns letztlich brächten. Auf „Quart“ umgelegt, muss man feststellen: Die letzten Jahre haben jede Menge Design erbracht, das über Lösungen für die dargestellte konstruierte und dekonstruierte Kunst hinausgeht, „ohne dass geklärt wäre, was diese uns letztlich brächten“. Das mag für gutes Design sprechen, für einen nutzbaren Diskurs der Kunst spricht es nicht. Wo aber alles unstrittig Kunst ist, muss jede Kunst verkümmern. Sie wirkt saturiert, handzahm, elitär. Ob das wirklich ideal ist?
Unschärfe
Nein, überhaupt nicht. Natürlich bringt uns jede neue „Quart“-Nummer eine neue originelle Originalbeilage, und selbstverständlich sind alle Beiträge der beiden Publikationen „essenziell“, von feinsten Autoren, von feinsten Künstlern. All das kann man sich guten Gewissens einverleiben; aber was man sich da einverleibt, ist bloß ein weiterer Kunstfetisch – und davon gibt es genug. Am besten hat diese Kritik meines Erachtens Andreas Schett selbst auf den Punkt gebracht. Es war pikanterweise in der letzten Nummer des „Fenster“ (Nr. 70, Herbst 2000), wo steht: „Auch die Kulturveranstalter müßten wieder ein besseres Urteilsvermögen entwickeln, nicht nur fünf neue Namen einkaufen, damit auch Zeitgenossen vertreten sind. Ein Veranstalter im Bereich der Neuen Musik müßte fähig sein, zu einem Komponisten zu sagen: ‚Das ist einfach spekulativ, was du da machst.‘ Dann entsteht nämlich etwas, was wirklich fehlt: Diskurs!“ Schett spricht in der Folge von der Notwendigkeit, „wieder ein anderes Verhältnis zwischen einem produzierenden und einem interpretierenden Musiker herzustellen.“ Auf „Quart“ umgelegt heißt das meines Erachtens: Es wäre notwendig, wieder ein anderes Verhältnis zwischen produzierenden Künstlern und rezipierenden Kulturkonsumenten herzustellen, und zwar vermittels Urteilsvermögens. Schön wäre: weniger spekulatives Event, mehr Diskurs. Das käme beiden Seiten zugute: den Künstlern und den Kulturkonsumenten. Klar ist, dass sich ein derartiges Unterfangen nicht mehr wie zu Pfaundlers Zeiten so bündeln lässt, dass es herzeigbar ist; und „Quartessenzen“? Würden wahrscheinlich auch nicht in dieser Form abfallen.
Belichtung
Wer übrigens nicht so sehr auf die Wertschätzung der Tirol-Werbung anspricht, der kann auch auf folgende Quintessenz zurückgreifen: die Beiträge von Florian Gasser im „Datum“ oder auf den Österreich-Seiten der „Zeit“, „Mole. Medium für kulturelle Nahversorgung Tirol“, „Kunstzeitung“, „Spuren – Zeitung für Gegenwärtige“ oder „Volltext“. „Oder“, nicht „und“, weil es gibt da noch ein paar andere. Die eingangs erwähnte „Zeitschrift des Forums Kunst-Wissenschaft-Medien“ gehört nicht unbedingt dazu, und das Ehrenamt für Beiträger ist auch nicht unbedingt erstrebenswert. Sie diente nur der Hinführung zur Klarstellung, was uns „Quart“ letztlich bringt.
Heidi Hackl, Andreas Schett (Hg.): Quartessenz. Beiträge aus 4 x 4 Ausgaben der Kulturzeitschrift Quart. Eine Anthologie, 384 Seiten, EUR 29,90
Heidi Hackl, Andreas Schett (Hg.): Quartessenz. Texte aus 4 x 4 Ausgaben der Kulturzeitschrift Quart. Ein Lesebuch. 508 Seiten, EUR 24,90
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[i] http://www.tirolwerbung.at/xxl/de/presse/_pressid/1591523/index.html (11.04.2012) [ii] http://www.haymonverlag.at/page.cfm?vpath=buecher/quartheft_fuer_kultur (11.04.2012)
[Bild: nach oben]
Manuela Schwärzler: Innsbrucker Gender Lectures I, Band 1 herausgegeben von Doris G. Eibl, Marion Jarosch, Ursula A. Schneider, Annette Steinsiek. innsbruck university press 2012

Ist der vorliegende, in der innsbruck university press erschienene, aus einer Vortragsreihe des feministischen Forschungsschwerpunkts hervorgegangene interdisziplinäre Sammelband das Produkt einer pragmatischen Wende, wie sie beispielsweise Nancy Fraser vor beinahe 20 Jahren für die feministische Theoriebildung in Umrissen entwarf? Gudrun-Axeli Knapps grundlegender Beitrag nimmt Konzepte der Gegenwartsdiagnostik und Gesellschaftsanalyse in den Blick. Dabei reflektiert sie u. a. Anwendbarkeit und Reichweite sich formierender oder wandelnder Begriffe wie Widerspruch und Paradoxie oder Intersektionalität. Für ein bislang noch unzureichend realisiertes Verknüpfen der feministischen Debatte mit gesellschaftstheoretischen Positionen und Entwürfen im Hinblick darauf, die Begrenztheit der jeweiligen Fragestellung und Perspektive zu überschreiten, sie gesellschaftspolitisch zu integrieren und die zunehmend komplexen und transnational bestimmten Verhältnisse und Transformationsprozesse zu berücksichtigen, vermerkt sie erste Anzeichen. Mathilde Schmitt plädiert schon im Titel ’für die Integration von „Lokalität“ in die Intersektionalitätsdebatte’. Um Gleichberechtigung und Chancengleichheit auf einer breiteren Basis verwirklichen zu können, schreibt sie, „sind wir auch in Forschung und Lehre gefordert, unsere Denkkonventionen zu Frauen und Mädchen in ländlichen Regionen zu hinterfragen und unsere Denkroutinen in neue Bahnen zu lenken, um den unterschiedlichen Ausprägungen von ländlichen, urbanen und suburbanen Räumen und den damit verknüpften Lebensweisen gerecht zu werden“. Der Streit um die Geschlechterdifferenz setzt sich fort. Die Beiträge von Martin Dannecker und Michaela Ralser drehen sich um Geschlechtsidentität(en) zwischen Norm und Abweichung in historischen und aktuellen psychiatrischen und therapeutischen Kontexten. Sigrid Schmitz wirft „Schlaglichter auf aktuelle Diskurse um Neurotechnologien und die Optimierung des cerebralen Subjekts“ und zeigt auf, wie stark auch diesen noch klassische Geschlechterzuschreibungen zugrunde liegen. Heinz-Jürgen Voß versucht, auf der Basis einer Auseinandersetzung mit biologisch-medizinischen Erkenntnissen nachzuweisen, dass es gar kein biologisch eindeutiges Geschlecht gibt. Damit zeichnet sich in der Erforschung des Sexus eine Entwicklung ab, die bei der Etablierung der Unterscheidung zwischen Sexus und Gender nicht absehbar war, zumal diese in einer konsequent anti-biologistischen Kritik-, Forschungs- und Politiktradition stand. Voß aber argumentiert gerade nicht im Zeichen einer Renaturalisierung und streicht die Anschlussfähigkeit an Gesellschaftstheorien heraus, für die das Geschlecht gesellschaftlich bedingt ist. Renate Syeds Beitrag führt in eine gelebte Überschreitung der binären Geschlechterordnung. In der indischen Kultur gibt es schon seit Jahrtausenden ein drittes Geschlecht, das seit kurzem auch juristisch anerkannt ist. Der Diskurs rund um die Konstruktion dieses Geschlechts und ihre Ausformung in einer konkreten Gesellschaft samt ihrer spezifischen Lebensweise, ihren Regeln und Riten verläuft jenseits einer Festlegung auf Homo- und Heterosexualität. Im Weiteren gruppieren sich mehrere Beiträge um die praktischen Auswirkungen und gesellschaftspolitischen Errungenschaften der Frauenbewegung, die sich an Umsetzungen in der öffentlichen Sphäre in Form von Gleichstellungspolitik, Quotenregelungen und Maßnahmen wie dem Gender Mainstreaming oder Gender Budgeting ablesen lassen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit die Praxis hält, was sie verspricht. Elisabeth Holzleithner beleuchtet im Rahmen des Rechts im Sinne von Gerechtigkeit u.a. verschiedene Gleichstellungsmaßnahmen kritisch und legt beispielsweise ihre Verknüpfung mit utilitaristischen Prinzipien offen. Brigitte Aulenbachers Beitrag setzt bei der Gleich- und Ungleichstellung der Geschlechter in der unternehmerischen Gesellschaft an, stellt soziologische Perspektiven zur Diskussion und bezieht die private Sphäre ebenso wie Holzleitner mit in ihre Überlegungen ein. Daraus ergibt sich quer zu den Thesen einer postfeministischen Avantgarde ein ambivalentes und vielschichtiges Bild. Manfred Auer und Heike Welte kommen zu dem Schluss, dass die „in die Struktur und Kultur von Organisationen eingeschriebene Vergeschlechtlichung durch die betriebliche Gleichstellungspolitik nur schwer auflösbar scheint und nach einer grundsätzlicheren Infragestellung des Arbeitens, Organisierens und Lebens in unserer Gesellschaft verlangt.“ Ulrike Marx und Albrecht Becker schreiben in Bezug auf die in der Genderpraxis nicht eingelösten theoretischen Ansprüche: Durch den Transfer in einen anderen Kontext „wird etwas anderes entstehen, als sich manche feministische Theorie unter dem Konzept ‚Gender’ einmal vorgestellt hat: Im Gender Budgeting kommt Gender in genau zwei Ausprägungen vor, nämlich männlich und weiblich.“ Jürgen Budde greift die jüngste Diskussion um die Benachteiligung von Schuljungen innerhalb der ‘feminisierten‘ Institution Schule auf, um dieses vermeintlich unter umgekehrten geschlechtsspezifischen Vorzeichen stehende Phänomen zur Debatte zu stellen, indem er deren Parameter und Beurteilungskriterien nicht nur reflektiert und kritisch hinterfragt, sondern durch einen Blick auf reale männliche Karriereverläufe negative Auswirkungen von männlichen Schullaufbahnen infrage stellt. Olivia M. Espín beschäftigt sich anhand von Lebensgeschichten und Legenden verschiedener weiblicher Heiliger mit Konstruktionen von Weiblichkeit. Aus der traditionell interpretierten Unterwürfigkeit wird gegen den Strich gelesen Widerstand. Insbesondere durch ihre Relektüre von destruktiven Körperpraktiken gelangt sie zu einer durchaus streitbaren Position. Laurie R. Cohen erinnert mit Fallbeispielen von Friedensaktivistinnen und Weltbürgerinnen im transatlantischen Vergleich an historische Vorgängerinnen und Wegbereiterinnen, um sie in die Geschichtsschreibung aufzunehmen. Angesichts der in den Innsbrucker Gender Lectures I präsentierten Vielfalt von Blickwinkeln und zum Teil relativ pragmatisch ausgerichteten Ansätzen frage ich mich, wo radikale Positionen, utopische Entwürfe und visionäre Denkanstöße jenseits konkreter gesellschaftspolitischer Gegebenheiten bleiben.
[Bild: nach oben]
Bernhard Sandbichler: Gert Chesi, Menschenbilder aus anderen Welten Schwaz: Haus der Völker, 2011
[Bild: Aus dem Band Menschenbilder, Gert Chesi ]
Im Zuge meiner Überlegungen ein essayistisches Bild von Gert Chesi für diese Rubrik zu entwerfen und in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei ihm um einen herausragenden, äußerst profilierten und versierten Fotografen handelt, der sich selbst Zeit seines Lebens mit Menschenbildern beschäftigt hat, erschien es mir nicht uninteressant, ihm einen Fragebogen vorzulegen. Die Idee an sich ist natürlich nicht neu; entstanden ist sie im späten 19. Jahrhundert in England als Salon-Zeitvertreib. Die Franzosen haben sie bereitwillig übernommen und Marcel Proust, der große Marcel Proust, hat einen solchen Fragebogen 1890 voll Esprit ausgefüllt. Daher die Bezeichnung: der „Proust-Fragebogen“. 1924 tauchte ebendieser wieder auf und 2003 wurde das Manuskript um über 100.000 Euro versteigert. Bernard Pivot, der französische Reich-Ranicki, hat die Idee für seine Literatur-Sendung Bouillon de la Culture übernommen, James Lipton für sein TV-Interview-Format Inside the Actors Studio, die FAZ als „Herausforderung an Geist und Witz“ für ihr Magazin. Die Idee ist also allemal den – leicht adaptierten – Versuch wert.
Wie geht’s? So gut, dass ich mich vor Neidern fürchten muss!
Ihre Lieblingsbeschäftigung? Fotografieren und Reisen.
Wo möchten Sie leben? Überall, wo es warm ist und eine freie Gesellschaft mich auch haben möchte.
Was schätzen Sie an Togo am meisten/ wenigsten? Dass ich hier wohl gelitten bin und mir mein Alter zum Vorteil gereicht. Am meisten hasse ich hier die Schnorrerei, die zu einem Teil der Folklore geworden ist.
Was schätzen Sie an Tirol am meisten / wenigsten? Dass ich es jederzeit verlassen kann; am wenigsten das Klima.
Apropos „Tirol“: Hofer oder Gaismair? Mit Hofer verbindet mich mehr, ihm wie auch mir hat das Land ein Museum gebaut.
Welchen Fehler entschuldigen Sie am ehesten, welchen nie? Vergesslichkeit am ehesten, Unaufrichtigkeit nie.
Welche der sieben Todsünden wird überschätzt? Die Unkeuschheit. Sollte diese aber keine Todsünde sein, so bitte ich meine Ahnungslosigkeit zu entschuldigen.
Apropos „überschätzt“ Handke oder Bernhard? Handke. (Steht einem Fotografen diese Antwort überhaupt zu? Oder ist die Frage unangemessen?)
Ihr/e Lieblingslyriker/in? Die Antwort wird wohl mit meinem Alter zu tun haben: Charles Baudelaire.
Ihr/e Lieblingsbuch? Zarathustra.
Ihre Lieblingsfiguren in der Dichtung? Der kleine Prinz.
Ihre HeldInnen in der Wirklichkeit? Das geriatrische Personal.
Ihre HeldInnen in der Weltgeschichte? Helden sind nicht nur die Produkte ihrer Taten, sie sind auch die ihrer Zeit und Gesellschaft. Die meisten Helden bleiben daher unerkannt. Dennoch: Nelson Mandela und Aung San Suu Kyi.
Wem wären Sie lieber nie begegnet? Der Mutter meines Sohnes.
Welche Kunstausstellung der letzten Zeit war für Sie die beste? Ethnographisches Museum Dahlem, Berlin: Vodou – Kunst und Kult aus Haiti; Fondation Beyeler, Basel: Bildwelten – Afrika, Ozeanien und die Moderne.
Ihr/e Lieblingsmusiker/in? Ralph Towner, Antonios Carlos Jobim, Werner Pirchner, Paulo Belenatti und noch hundert andere.
Ihr Lieblingsfilm? Einer von vielen: Der Pianist.
Welche Eigenschaft schätzen Sie bei einem Mann am meisten? Zivilcourage.
Welche bei einer Frau? Esprit.
Welche an sich? Meine Sturheit.
Ihr größter Fehler? Meine Vergesslichkeit.
Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen? Sprachen-Talent oder Musikalität.
Wer oder was hätten Sie sein mögen? Lévi-Strauss oder Man Ray.
Was wäre für Sie das größte Unglück? Blindheit.
Ihre Lieblingsfarbe und -blume? Die blaue Blume der Romantik.
Ihr Lieblingsessen und -trinken? Gefüllte Paprika, Mango-Eis, Orangensaft.
Ihre Lieblingsnamen? Alle, die mich nicht an dumme Menschen erinnern.
Ihr Lieblingswort? Anfüttern.
Welche Reform bewundern Sie am meisten? Dazu fällt mir nichts ein.
Welchen Lebenstraum haben Sie aufgegeben? Dem idealen Menschen zu begegnen.
Wie möchten Sie sterben? In Ruhe.
Und dann? Wünsche ich von der gefährlichen Drohung verschont zu bleiben, alle die mich begleitet haben, wieder zu treffen.
Zu Gert Chesi: Geboren 1940 in Schwaz, Journalist, Fotograf, Buchautor, begründete in den 1960er-Jahren die Eremitage, Galerie und Kultur-Café, 1995 das Haus der Völker in Schwaz, 2005 gemeinsam mit Gerhard Merzeder das Magazin A4. Jüngste Publikation: Menschenbilder aus anderen Welten/Views of Humankind in Other Worlds. Der großformatige, von Mark Grünberger unspektakulär schön gestaltete und bei Frömelt-Hechenleitner in Volders sorgfältig hergestellte und gedruckte Ausstellungs-Bildband ist ein Resümee des fotografischen Werks als gealterter Mann. Thematischer Rahmen ist die Idee, „Menschen aus anderen Kulturen zu zeigen und ihre Hüllen zu entfernen, die sie angepasst an eine Welt-Leitkultur erscheinen lassen“. Die vier Abteilungen umfassen: Voodoosi – ethnografisch stilisierte, sanft ironisierte Frauen- und Männer-Ikonen aus Chesis unmittelbarer Umgebung im togoischen Dorf Avepozo bei Lomé; Transgender – Ganzkörper-Porträts von Rissa, einer Transsexuellen, gebürtig aus einem Dorf bei Khon Kaen im thailändischen Isan; Hijras – vollbeschnittene Männer aus dem indischen Mumbai, die Chesi gegen Gage „ihre Operationsnarben an den Genitalien und jene unterhalb der Brüste vom Einsetzen der Silikonimplantate“ zeigten und Fotos von sich in dekorativen Saris oder nackt anfertigen ließen; je vier kleinformatige S/W-Fotos als Vorspann zu den farbigen Studio-Aufnahmen reichen, um den sozialen Kontext vor Augen zu führen. Auf klassischem Foto-Barytpapier ausgearbeitete S/W-Porträts von Jazz-Größen, die in der Eremitage aufgetreten sind, bzw. auch vom Chesi-Weggefährten Jup Rathgeber (dessen literarischer Nachlass im Brenner-Archiv liegt) eröffnen den letzten Abschnitt. Archiv greift also mehrere Jahrzehnte zurück, neben den erwähnten Porträts auf Aktfotografien, aktionistische Sequenzen (die Paläolithische Aktion, in Zusammenarbeit mit H. C. Artmann entstanden) sowie die Cibachrome-Arbeiten in Farbe des „Theaters der Übertreibung“. „So wie der natürliche Feind des Bürgers der Beamte ist, so ist der Kritiker jener der schöpferischen Menschen und aller anderen, die mutig genug sind, ihre Arbeiten der Öffentlichkeit vorzuführen“, schreibt der Autor einleitend. In dem Fall: Man kann den Hut ziehen vor jenem Mut, der Gert Chesi über die Jahrzehnte nie verlassen hat! Wer die Schaulust wagt, sich von diesen Modellen betrachten zu lassen (denn das tun sie in selbstbewusster Art), gewinnt wunderbare Einblicke. Und wo sich die Gelegenheit bietet, die 45 Fotografien im Originalformat 85 x 125 cm ausgestellt zu sehen, sollte man sie unbedingt nützen. Aktuelle Infos unter http://www.gertchesi.com/

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