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Literatur im Lichthof - Zoom
 
 

Kei Kimura/Maketa Smith-Groves: Once Upon a Time/Es war einmal FUKUSHIMA
Hrsg. v. Peter und Renate Giacomuzzi. Übersetzungen aus dem Englischen von Isabella König
Zirl: Edition Baes, 2012

© Baes, 2012 Eine Japanerin, eine Amerikanerin, Fukushima und dann auch noch zweisprachig Deutsch-Englisch – mitten in Tirol? Das macht neugierig.
     Die Welt ist groß und weit – so ein (Süd-)Tiroler Heimatlied. Während dieses Lied aus einer Zeit stammt, in der manchen die große Welt bloß als Kontrast zu ihrer kleinen und vor allem zu ihrer eigenen zu fungieren hatte („das allerschönste Stück davon ist doch die Heimat mein“), wird heutzutage in der Literatur gern so etwas wie Weltoffenheit proklamiert. Aus gutem Grund: die Welt wird kleiner und kleiner. Wir können weltweit ungehindert kommunizieren und uns durch die Lüfte rasch von da nach dort bewegen, wir können andererseits aber auch die großen Katastrophen nicht mehr auf ein und nur ein Gebiet begrenzen.
     Das Fukushima-Desaster stellt in Once Upon a Time den aktuellen Fokus dar, doch den Herausgebern geht es um etwas Allgemeineres. Und Spontaneinfälle bringen oft interessante Resultate. Renate und Peter Giacomuzzi, die selbst viele Jahre lang in Japan gelebt und gearbeitet haben, schildern in ihrem Vorwort, wie es zu der kleinen Ausgabe kam.
     Bald nachdem man wieder einmal einen Japanbesuch gemacht hatte, kam es im März 2011 zu einem verheerenden Erdbeben, das Japan langfristig verändern wird: Ein Tsunami zerstörte in Fukushima Reaktoren. Kei Kimura, eine ältere Dame und Freundin der Familie, schickte unter dem Eindruck der nuklearen Bedrohung E-Mails nach Europa, sie schilderte, was geschehen war und weiter geschah, was ihr angesichts des mehr und mehr durchsickernden Ernstes der Lage durch den Kopf ging. Eine sozusagen direkte Information abseits der Medien. Es waren persönliche, aber keine reinen Betroffenheitstexte, die den Herausgebern da ins Haus flatterten; Texte über den Alltag nach dem Trauma, Reflexionen zum Hintergrund des „Unfalls“; Texte gegen die Ohnmacht, die manchmal auch in philosophischen Überlegungen über Sinn und Unsinn des Weltenlaufs mündeten. Kei Kimuras Freunden gingen die Briefe nahe, sie stimmten nachdenklich.
     Und dann stand eines Tages, gerade als man dem Abendessen die letzte Würze geben wollte, die afroamerikanische Dichterin Maketa Smith-Groves als Gast in der Küche. Der Einfall kam wie von selbst: Smith-Groves Gedichte und Kimuras E-Mail-Texte in eine Reihe und in einen Zusammenhang zu stellen – gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille – schien nur logisch zu sein. Smith-Groves war eine Autorin, die auf Sätze wie diese eine Antwort geben konnte: „[…] viele von uns spüren irgendwo tief drin, bewusst oder unbewusst, dass wir selbst verantwortlich sind für diesen Unfall, dass wir selbst diese tödliche Kalamität verursacht haben. / Jeden Tag versuche ich, normal zu leben. / Seiltänzer sind wir. Jeden Tag aufs Neue.“ (Kimura, S. 95, 96, 97)
     „Was – abgesehen vom kulturellen Kontext – unterscheidet mein Leben in Amerika von dem der Burakumin in Japan?“, schreibt Smith-Groves (Burakumin sind eine diskriminierte japanische Minderheit) und führt den Zusammenhang zwischen sogenannten Naturkatastrophen und der weit verbreiteten Diskriminierung bestimmter Ethnien vor (S. 147f). Sie verweist auf den scheinbar unüberwindlichen Spalt zwischen dringend notwendiger Toleranz und weiterhin grassierendem Hass, auf ein Herrschaftsdenken, dessen Folge früher oder später Rücksichtslosigkeit und Gier sei, was schließlich zur unweigerlichen Entwertung ALLER Menschen führe: „Wir nehmen uns, was wir wollen, ohne Rücksicht auf Verluste.“
     Kimura und Smith-Groves treten in diesem Buch in einen ungekünstelten Dialog und erweitern das „Thema Fukushima“. Beide Autorinnen sprechen von dem Wissen, dass es da real keine menschliche Macht gibt, dass es letztlich nur dieser „schöne, schwebende Himmelskörper Erde“ ist, der uns weiterhin am Leben erhält. Macht ist konstruiert, ist Illusion. „Der Planet Erde ist mächtig und voller Kraft, aber nicht unendlich.“ (Smith-Groves, S. 149) Wir wissen um die Tatsache, dass wir nur als Partner, nicht als Herrscher überleben können. Die Frage ist nur, ob wir imstande sein werden, das noch rechtzeitig in Handlung zu übersetzen.
     Doch Kimuras Brieftexte und Smith-Groves Gedichte sind nicht nur Mahnungen, nicht nur Ausdruck politischen Engagements, sie sind auch ganz einfach Literatur, eine Literatur, die eingreifen und erhellend wirken will und doch ästhetisch-literarisch anspricht.
     Smith-Groves gehört seit jeher zu jenen Poeten der „Beat-Generation“, die keinen Unterscheid machen zwischen Kunst und Leben oder Kunst und Politik. Auf politische Fragen literarisch zu antworten, war und ist ihnen das Natürlichste. Und so haben es auch die Herausgeber gesehen: „Wir wollten irgendetwas ‚zu Fukushima‘ beitragen und wir haben es in der einzigen Form getan, die wir meinen, uns zutrauen zu können: Wir haben ein Buch gemacht.“ (S. 83) 
     Der Edition Baes ist zu danken, dass sie einmal mehr Randständiges in ihr Programm aufnimmt. Im Literaturbetrieb wird dieses Buch nicht groß auffallen, bei der einzelnen Leserin, dem einzelnen Leser könnte es aber seine Wirkung tun.

Erika Wimmer

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Egon Erwin Kisch: Die drei Kühe. Eine Bauerngeschichte zwischen Tirol und Spanien
Bozen: Edition Raetia, 2012

Von Kühen und Menschen...

© Raetia, 2012Die „Bauerngeschichte zwischen Tirol und Spanien“, die „Gschicht'“, wie sie die Hauptfigur Max Bair nennt, ist in den Augen derselben im Grunde relativ schnell erzählt: Er hat halt seine Küh' verkauft und ist nach Spanien gefahren, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Gut, das ist arg knapp, aber nach einigem Nachfragen kann Egon Erwin Kischs literarisches Reporter-Alter-Ego dem Wortkargen über die „Gschicht'“ weitere Details entlocken: Max Bair, ein junger Wipptaler Bauer, erbt in der Zwischenkriegszeit den elterlichen Hof, wobei das ohnehin überschuldete Anwesen vom Onkel verwaltet wird, weil die Geschwister noch minderjährig sind. Wegen dessen Misswirtschaft und Trunksucht gerät das Anwesen allerdings in noch stärkere wirtschaftliche Schwierigkeiten. Als Bair mit zwanzig Jahren den Hof übernehmen kann, bessert sich die Situation nicht; der junge Bauer muss Schulden machen, um Vieh zu kaufen. Über den Knotzer Johann, einen Arbeiter der Wildbachverbauung, kommt Bair in Kontakt mit sozialistischem Gedankengut, organisiert mit Gleichgesinnten Leseabende, liest illegale Zeitungen, erfährt dort unter anderem auch von der Sowjetunion und von Spanien, und schließlich keimt der Gedanke, die Heimat hinter sich zu lassen, in den Männern auf. 1937 gibt Bair seine bäuerliche Existenz in Tirol auf, treibt seine drei Kühe (die „Graue“, die „Moltl“ und die „Schwarze“) auf den Markt und veräußert die Tiere. Er fährt mit dem Erlös und einigen Freiwilligen zunächst nach Paris und dann weiter nach Spanien, wo sich die jungen Männer im Bürgerkrieg den Internationalen Brigaden im Kampf gegen Francos Truppen anschließen. Bair wird einige Tage lang ausgebildet, in einem Gefecht schwer verwundet, kann aber von seinen Kameraden gerettet werden.
Die „Gschicht'“ ist schon inhaltlich ziemlich kurios, gewiss - doch, dem „Rasenden Reporter“ sei's gedankt, wird dieser Inhalt den LeserInnen auch in einer entsprechend ansprechenden Form präsentiert; immer wieder unterbricht Kisch die Lebenserzählung Bairs, montiert die Aussagen der Hauptfigur und die Fragen seines in der ersten Person berichtenden Reporter-Ichs ein. Das Resultat dieses Zwiegesprächs ist ein sehr persönliches, kurzweiliges Portrait von einem, der eigentlich abseits bleiben möchte. Die Drei Kühe ist aus diesem Grund über die eigentliche Erzählung hinaus aber ebenso eine Geschichte über das Handwerk des Reporters, eine Art literarischer Selbstbespiegelung. Kisch beschreibt nicht nur den Spanienkämpfer Bair, sondern reflektiert auch die Rolle der Berichtenden in solchen Auseinandersetzungen.
Die „Gschicht'“ findet auf wenig mehr als dreißig Druckseiten Platz und das Bändchen wurde, vermutlich auch aus dem Grund, weil ein so geringer Umfang keine Buchausgabe rechtfertigen würde, vom Herausgeber Joachim Gatterer um ein umfangreiches Nachwort, einen Anhang mit zeitgenössischen Dokumenten sowie einer Bibliographie vermehrt. Gatterer liefert in diesen Nachbemerkungen Informationen und Materialien, die zum adäquaten Verständnis und zur zeithistorischen Kontextualisierung von Kischs Reportage (und zum Teil darüber hinaus) wesentlich beitragen können und der LeserIn so manch unbekanntes Faktum vor Augen führen. Eine das Wesentliche umfassende Kisch-Biographie fehlt ebensowenig wie eine Erläuterung der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge des Bürgerkrieges in Spanien; Gatterer erklärt, wie Kisch auf Bair getroffen ist, über welche Wege und Umwege die Reportage ihren Platz in verschiedenen Verlagen und Veröffentlichungen gefunden hat und erläutert den weiteren Verlauf des Lebens von Max Bair. Dieser kehrte nach 1945 für kurze Zeit nach Tirol zurück und engagierte sich in der KPÖ, wanderte dann aber in die DDR aus und machte dort Karriere. Gatterer konzipiert diese Ausführungen rund um die politische Dimension von Bairs Spanien-Abenteuer, also auf die Auseinandersetzung zwischen dem faschistischen Franco-Regime und dem republikanischen Sozialismus. Durch diesen starken Fokus geht aber weitgehend der Blick auf jenen Aspekt verloren, der die „Gschicht'“ im eigentlichen Sinn von Beginn an strukturiert und dominiert: Die drei Kühe ist vor allem ein Text, der die Ökonomisierung des Lebens thematisiert. Weniger als die politische Seite („mit Politik hat sich der Max nie sehr viel befaßt“, heißt es beispielsweise) ist es die kapitalistische Wirtschaftsordnung, auf die im Text immer wieder hingewiesen und die offen hinterfragt wird. Kisch macht anhand der erzählten Episoden aus Bairs Lebensschicksal insbesondere evident, wie paradox das wirtschaftliche System, in dem sich die Figuren bewegen, im Grunde funktioniert; so erfährt die LeserIn unter anderem, dass ein Bauer für Butter weniger als die Hälfte des zur Herstellung nötigen Materialpreises ausbezahlt erhält, wie viel eine Kuh im Vergleich zu ihrem Milchertrag frisst, wie hoch ihr Wiederverkaufswert ist und was ein Hotelzimmer in Paris kostet. Diese Ökonomisierung betrifft alle Lebensbereiche, selbst den Krieg ist davon berührt, denn er wird im Wesentlichen auch nur von bezahlten Söldnern ausgefochten. Die Seite, auf der gekämpft wird, richtet sich für viele Freiwillige nach dem bezahlten Preis.
Wenn Gatterer die Frage aufwirft, was Die drei Kühe „anziehend macht“, so muss, neben der Würdigung Kischs als Erzähler, die völlig zu Recht erfolgt, deshalb ergänzt werden, dass es eben jener Fokus auf ökonomische Zusammenhänge ist, der den eigentlichen Wert des Textes ausmacht; Kisch kann dadurch die Motivation der Figur zum Einsatz in Spanien effizienter vorantreiben und die politische Botschaft erhält dadurch erst ihre Glaubwürdigkeit. Durch diese inhaltliche Gewichtung kann Kisch selbst die Kampfszenen am Ende der Reportage mit einigem Humor unterfüttern; es wird z. B. geschildert, wie der wackere Spanienkämpfer Bair während der Kämpfe mehrmals befördert wird, weil er aber die Hierarchie der Freiwilligenarmee nicht durchschaut, kann er nicht genau sagen, weshalb dies geschieht.
Die interessanteste Frage des Nachworts ist jene, ob es sich bei den Drei Kühen, wie der Herausgeber sinnigerweise bemerkt, um Tiroler Literatur handelt. Gleich vorweg: Allein schon deshalb, weil Egon Erwin Kisch selbst kaum persönliche Bezüge zu Tirol hat, muss die Antwort negativ ausfallen – und zu dieser Erkenntnis kommt auch Gatterer. Er untermauert diese Schlussfolgerung, indem er die Drei Kühe mit „klassischer“ Tiroler Bauernliteratur vergleicht.  Der Text lässt sich bestenfalls, wie er richtig bemerkt, als ein Stück Weltliteratur mit Tirol-Bezug lesen (so z. B. durch den Untertitel), sollte aber nicht aber als ein Teil der orginären Tiroler Literatur aufgefasst werden. Die Unterschiede zu traditionellen Bauerngeschichten, wie sie z. B. Franz Kranewitter, Karl Schönherr oder Joseph Georg Oberkofler verfasst haben und die, wie Gatterer zeigt, ähnlichen Schematismen folgen, sind hier einfach zu groß.
Die Bedeutung dieser kleinen, aber feinen „Gschicht'“ erschöpft sich auch nicht in solchen Attributen wie „tirolisch“ oder „bäuerlich“. Es sind vor allem jene Aspekte, die über die „Bauerngeschichte“ hinausgehen und die auch heute noch ähnliche gesellschaftliche Problembereiche berühren, die dem Schicksal des Max Bair aus dem Wipptal ihre Prägnanz und ihre Wirkung verleihen: der unaufdringliche (weil nicht belehrende) und doch durchdringende politische Subtext, der die gesamte Erzählung durchzieht; die Kritik am bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem über die Erkenntnis, dass die Menschen dort in Besitzende und Schuldner getrennt werden und in dem es am Ende der monetären Nahrungskette keinen anderen Ausweg gibt als weiter Schulden aufzunehmen oder einen Neuanfang zu wagen. Das Hauptmotiv der Reportage, die gesellschaftliche Ungleichheit, die heute in Zeiten der Wirtschaftskrise wieder deutliche Konturen annimmt, macht diesen Text aktueller und stärker an die Gegenwart anschlussfähig, als es einem lieb ist.

Markus Ender

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Toni Kleinlercher: Die Obdachlosen lesen Nietzsche. Takes aus japanischen Tagen. Mit Kalligrafien von Murota Kosai.
Wien: Klever Verlag 2012

© Klever, 2012Japanische Impressionen – bei Toni Kleinlercher werden sie Takes genannt. Einmal abgesehen von den jüngsten Eindrücken eines zerstörten rauchenden Reaktors am Meeresstrand von Fukushima hat fast jeder westliche Mensch ein paar Japanbilder in sich gespeichert: eine traditionelle Robe oder das schwarze hochgesteckte Haar einer Geisha, bunte, mit schönen Schriftzeichen gezierte Lampions, ein gepudertes Gesicht, ein Shinto-Schrein, kleinschrittiges Laufen in Holzpantinen oder die höfliche Verneigung eines Geschäftsmannes. Andererseits ganz zeitgenössisch: Hochbahnen und überfüllte U-Bahnen, das der Stadt übergestülpte grelle Reklamegewand, die gebleichten und anschließend hennagefärbten Haare junger Leute, in den Konsumtempeln Sony, Honda, Toyota usw. 
     Nippon – das Inselreich mit der schönen Nationalflagge ist für einprägsame Bilder immer gut. Das Land ist einerseits geeignet, die Lust auf Exotisches zu befriedigen, andererseits die Sehnsucht nach Kontemplation und Stille zu wecken. Vielleicht hat man im Westen schon allein deshalb so plastische Japanbilder im Kopf, weil die beiden gebräuchlichen Schriften im Grunde auch gemalte Bilder sind, was vor allem die ältere Schrift Kanji, aber auch das jüngere Hiragana betrifft.  
     In seinen Texten – das kleine Buch bietet drei Teile – arbeitet Kleinlercher mit den gängigen Bildern, doch er belässt es nicht dabei. Der Autor hat in Tokio gelebt und gearbeitet, er kennt sich aus und verfügt über Alltagserfahrungen. Immer wieder wirft er einen Blick hinter die bekannt schönen oder auch bekannt irritierenden Bilder Japans. Und Kleinlercher ist ein Sprachspieler.
     Der erste Teil des Buches stellt eine Sammlung von Prosaminiaturen dar, in denen Alltags-Beobachtungen, Bräuche und Feste, aber auch kulturelle Phänomene des alten Japan, etwa rituelle Zen-Praktiken, reflektiert werden. Das klingt dann leicht kurios-exotisch; hier zwei Beispiele:

Nicht scharf ins Gericht, milde durch den Tag gehen, tingeln. Laufen lassen. Hat das Gestern kein Gewicht. In diesem Land. Geschichte ist Geschichte ist vorbei. Die Leute haben das Zen im Blut. […] (S. 28)

Heute treffen sich die Sterne zu einem Tète-à-Tète. Tanabata! Das Fest der Liebe, der Himmelsprinzen. Oriheme und Hikoboshi dürfen sich in die Arme nehmen, heute dürfen sie sich küssen. Hat jeder einen Wunsch frei heute, schreibt man auf kleine Zettelchen und hängt diesen auf einen Zweig. Es ist ein rituelles Leben, das man führt in diesem Land. […] (S. 30)

Doch neben Passagen wie diesen, in denen das Fremde dokumentiert und zugleich mit einem Hauch von Faszination umgeben wird (was die zwischen den Texten eingestreuten Kalligrafien noch unterstreichen), finden sich auch solche, die auf einen recht kritischen Blick des Autors schließen lassen. Auf Reflexion folgt da und dort auch Dekonstruktion, etwa dann, wenn kurze fragmentierte Sätze einen Sachverhalt behutsam an den Rand des Fassbaren, ins Unlogische ziehen. Es ist der Versuch, allzu Glattes aufzurauen, der Wunsch, die Sprache in ihre Teile zu zerlegen.
     Im zweiten Teil des Buches wird Kleinlerchers Intention noch deutlicher, hier werden Tankas – paraphrasierende Dekompositionen im Tiroler Dialekt (regional gemischt) – vorgestellt. Als Textquellen sind drei bestehende Lyriksammlungen in deutscher Übersetzung angegeben, etwa die älteste erhaltene Anthologie aus dem Jahr 759 (S. 51). Das Verfahren, einmal den Text im Deutschen zu dokumentieren, ihn durch eine neue Dialekt-Version aber auch gleich wieder zu verfremden, ist prinzipiell reizvoll, eine vergnügliche Lektüre garantiert überdies der ironische Touch dieser Gedichte.
     Der dritte und im Umfang größte Teil des Buches uguisu in den bueschen ist ein Gedichtzyklus in 55 Teilen (S. 72). uguisu, so das Glossar, heißt im Japanischen Singvogel:

uguisu in den bueschen
bellen stadtfuechse vor
haeusern
schreinschoenheiten
frost im wald

im landeanflug traumfragmente
aufgehaeuft zur birnenburg

verschwendungen
blanchiert in vager hoffnung
schaumgekellt
spaghettiflaggen flugs
gesetzt

Man sieht, der Singvogel dieser Lyrik preist keine romantischen Vorstellungen über dies Land im fernen Osten und keine heile Welt. Er besingt reklamefluten, erbrochenes auf allen wegen, das tagtaegliche menschenbad von shinjuku, den metropolensand… typische Auswüchse einer in Ausdehnung und Population riesigen Stadt. Doch ist es vielleicht weniger die Irritation als das einfache Hinschauen, also die Realität, um die es Kleinlercher geht. Dass die Wirklichkeit von Tokio und Umgebung weder schön noch hässlich, sondern beides zugleich, also zu einer neuen Qualität verquirlt ist (auf fensterbalken bluemchen, auf feuerwaenden woerter, S. 97) machen diese Texte in wundersamer Manier deutlich. In ihrer experimentellen Verspieltheit geben sie sich luftig und manchmal auch ein wenig holprig, ganz leicht zu lesen sind sie jedenfalls nicht.
     Mit der Nase im Buch schnuppert man hier tatsächlich ein wenig japanische Luft. Doch genauso wenig wie die Lektüre klärt, ob und weshalb die Obdachlosen Nietzsche lesen,  ist man am Ende über das Land und seine Menschen wirklich schlauer geworden. Und das ist auch gut so. 

Erika Wimmer

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Margit Knapp: Die Überwindung der Langsamkeit. Samuel Finley Morse – der Begründer der modernen Kommunikation
Hamburg: mareverlag, 2012, 190 Seiten
  

Vom Langsamen im Geschwinden 

© mareverlag, 2012Man darf sich diesen Samuel Finley Morse nicht als Gegenteil eines John Franklin vorstellen: Der eine überwindet, der andere entdeckt die Langsamkeit. Der eine versucht im reißenden Druck des Zeitstroms zu überholen, der andere schwimmt gegen ihn an. Allein mit solcher Beschreibung geraten Bild- und Sinnhaftigkeit aneinander. Was bleibt, sind zwei Buchtitel: jener geniale,  „Die Entdeckung der Langsamkeit“, von Sten Nadolnys Welterfolg über den englischen Seefahrer und Nordpolforscher, und der darauf anspielende, „Die Überwindung der Langsamkeit“, von Margit Knapps Biografie des „Begründers der modernen Kommunikation“, so der Untertitel.

Was Bücher anlangt, hat die Schwazer Autorin, bislang einige herausgebracht – literarische Reise-Anthologien, Biografisches, Kulinarisches, Gesellschaftliches  –, und vornehmlich viele gelesen bzw. lektoriert, lange für Wagenbach, jetzt für Rowohlt. Der Reiz am Erfinder der Morse-Telegrafie und des Morse-Alphabets dürfte dessen hierzulande wenig bekannte Persönlichkeit gewesen sein: der konservativ protestantische Amerikaner, Befürworter der Sklaverei und Pazifist, als Familienmensch und Künstler gleichermaßen erfolgreich wie gescheitert. Der Aufbruch ins amerikanische Zeitalter, die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts, diesseits und jenseits des Atlantiks, politisch, künstlerisch und technisch, werden hier klar vorstellbar und lebendig. Wie Nadolny schöpft Knapp aus allen verfügbaren Quellen, gestaltet ihre Figur in Zitaten aus vorhandenen Briefen, Tagebüchern und Zeitungsberichten: nicht fiktional, sondern plastisch, mit historischem, psychologischem und nicht zuletzt technischem Gespür.

Den Draht zum Leser, der in die Vergangenheit blicken möchte, um Bezüge zur Gegenwart herzustellen, hält diese Biografie Kapitel für Kapitel. Es geht um Morses Lebensziel, das er mit beeindruckendem unternehmerischem Wagemut und zäher Beharrlichkeit verfolgt: Nachrichtenübermittlung in Echtzeit über den Atlantik. Es ist eine Errungenschaft, die ihn auf eine Ebene stellt mit Zeitgenossen wie den Mathematiker und Astronomen Carl Friedrich Gauß oder den Naturforscher und Weltvermesser Alexander von Humboldt, die ihrerseits den Geist des Erzählers Daniel Kehlmann beflügelt haben. Humboldt und Morse haben einander übrigens ebenfalls getroffen, was nur zeigt, wie klein die Welt bei aller Größe ist. Und die Tatsache – dies bleibt nachzutragen –, dass Morse die Langsamkeit überwand, ist selbst einem langsamen Prozess geschuldet, den Morse mit Franklin teilt: dem Prozess des Grübelns und Nachgrübelns.

Bernhard Sandbichler

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Martin Kolozs: Immer November. Roman
Mitter-Verlag, 2012


© Mitter, 2012Große Romane müssen nicht lang und schon gar nicht langwierig sein! Ein beeindruckender Erzählfluss, ein Strom, der diejenigen, die sich hineinwerfen, mit sich reißt. So lässt sich der neue Roman von Martin Kolozs, erschienen 2012 im mitter|verlag, wohl am ehesten beschreiben.
Was ist es, was uns Leser und Leserinnen zu einem Buch greifen läßt, was ist es, weshalb wir ein Buch nicht mehr aus der Hand legen, uns bereitwillig die Nacht zum Tag machen, uns hineinstürzen und erst auf der letzten Seite wieder auftauchen – manchmal wie neu und gewandelt, manchmal erschöpft und voller Fragen und manchmal auch erleichtert, weil wir Antworten auf Fragen gefunden haben, die uns bis dahin unlösbar schienen?

Ein Buch ist zuallererst ein Versprechen. Ein Versprechen, dass wir etwas Neues erfahren, wir fremden Figuren begegnen, von denen wir lernen können - wenn wir uns einlassen. Ein Buch ist die Verlängerung der Wirklichkeit, in der wir leben, ein Raum, in den wir uns bewegen, um zu reflektieren, vielleicht um mehr über das Leben und die Menschen darin zu erfahren, vielleicht aber auch um ein wenig mehr über uns selbst zu lernen.

In Kolozs‘ Roman treffen wir auf John Salten, einen ewig Suchenden, der nach einem Selbstmordversuch den Entschluss fasst, dem Versprechen, das er seiner Großmutter vor ihrem Tode gegeben hat, nachzukommen und nach Amerika zu reisen. Diese Reise gleicht der uns aus Entwicklungsromanen oder frühen epischen Erzählungen bekannten. Sie dienen den Protagonisten meist dazu, sich zu entwickeln und ihre wahre Bestimmung zu finden. Vergleichbar etwa mit Parzival, der seinen Lehrer in Gurnemans findet, so trifft auch Kolozs‘ Hauptfigur, John Salten – seines Zeichens „verhinderter Schriftsteller -, auf seinen selbsternannten Mentor, den Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger Norman T. Nach einer unglücklichen Affäre mit einer verheirateten Barkeeperin und dem vergeblichen Versuch, in einer Arbeit als Jugendbetreuer Fuß zu fassen, nimmt Saltens Weg einen anderen Lauf. Er macht sich auf, Norman T. zu suchen, getragen von der Hoffnung, dieser würde ihm ein Wegweiser in die richtige Richtung sein, und das heißt zunächst einmal ihm zu helfen, den Weg zu sich selbst zu finden. Nur leider bleibt der Versuch, eine Antwort im Außen zu finden, wie so oft, vergeblich.

Die Kunst Kolozs‘ besteht nun darin in dem Leser, der Leserin dieselbe Hoffnung zu erzeugen, die Saltens Triebfeder ist, sie zu hegen und zu pflegen. Die Enttäuschung darüber, dass Salten aber letztlich auf sich selbst zurückfällt und klar wird, dass das Außen niemals das Innere ersetzen wird können, ist groß.
Wenn wir ein Buch lesen, begegnen wir ihm mit einer Hoffnung. Manchmal mit der Hoffnung auf Antworten oder in der Hoffnung etwas zu entdecken, das uns gleicht, das uns weiterhilft. Wir besuchen eine Figur, ihr Leben, ihre Welt. Eine Figur, die uns ein Zeichen ist, die uns etwas spiegelt. Ein Zeichen, ein Symbol ist immer etwas, das über sich selbst hinausweist, etwas, das wir als Leser und Leserinnen deuten können. Zu Beginn der Lektüre von Martin Kolozs‘ Roman, hegt der Leser, die Leserin noch große Hoffnungen. Das Gefühl hier entspinne sich eine großartige Geschichte um einen komplexen Charakter, die zweifelsohne in der Komposition komplex und salopp in der Sprache ist, endet jedoch in Enttäuschungen. Zweifelsohne fein gewoben, gut durchdacht und gut gesponnen, wunderbar gezeichnet und geformt, ist dieser Text. Gedankensprünge, die zugleich auch oftmals Zeitsprünge sind, Handlungssprünge, Ortswechsel lassen sich wunderbar verfolgen. Jeder Satz bietet ein Sprungbrett und doch scheint es „immer November“ zu bleiben. Es ist neblig um die Figur, sie tastet im Trüben nach etwas, von dem sie nicht wirklich weiß, was es ist. Eine Figur, die nach Bedeutung in ihrem Leben sucht, die sie ihm nicht geben kann, die in ihre Erfahrungen der Vergangenheit verstrickt und verflochten ist, in denen Menschen wie die Großmutter oder später der Schriftsteller auftauchen, die Affäre, die Barkellnerin, die versuchen ein Zeichen zu setzen oder zu sein, wodurch der Protagonist sich entwickelt. Salten aber ist und bleibt ein Antiheld, dessen Welt – wie es im Klappentext so schön heißt – nicht seine Vorstellung und keinesfalls sein Wille ist.

Kerstin  I. Mayr

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Markus Koschuh: Voulez-vous KOSCHUH avec moi?
Innsbruck: Haymon, 2012

Lackmustest bestanden
„Voulez-vous KOSCHUH avec moi?“ zeigt Koschuh als Spoken-Word-Poet ersten Ranges

 

© Haymon, 2012Buchtitel können ganz schlimm sein. Sie können in die Irre führen, sie können viel zu gewollt sein und manchmal versprechen sie einfach viel zu viel. Selten treffen sie den Nagel auf den Kopf. Im Falle von Markus Koschuhs gesammelten Poetry-Slam-Texten, die jetzt im Haymon Verlag erschienen sind, ist das anders. Gut, der Autor, der auf dem Cover in weißem Feinripp-Unterhemd und offener Jacke schief in die Kamera blickt, sieht ein wenig fertig aus. Davon darf man sich nicht irritieren lassen, das Stilmittel heißt Ironie, das ist Teil der Inszenierung. Er soll nicht so aussehen, wie man sich einen Mann vorstellt, der sagt, was der Titel sagt: „Voulez-vous KOSCHUH avec moi?“ Das sitzt. Und zwar tatsächlich, denn schließlich geht es bei Poetry Slams ja genau darum, die „Gunst“ des Publikums zu erwerben, das Publikum zu „verführen“ – zu applaudieren, mehr als bei den anderen literarischen Mitwerbern, sodass man am Ende siegt.
Das hat Markus Koschuh, Spoken-Word-Insidern besser bekannt als „Der Koschuh“, in den letzten Jahren mit seinen Texten zigfach geschafft. 2010 und 2011 war er österreichischer Poetry-Slam-Meister, 2011 gar Vize-Europameister im Poetry Slam, nebenbei ist er auch noch Mitglied der Innsbrucker Lesebühne „Text ohne Reiter“ und hat sich als Kabarettist in den letzten Jahren einen veritablen Ruf erspielt.
Für Koschuh-Fans oder solche, die es noch werden wollen, gibt es jetzt die schriftlichen Texte der mündlichen Performances also zum Nachlesen. Im Falle von Spoken-Word-Poetry entsteht ja nicht das Buch zuerst, aus dem dann vorgelesen wird, wie das für gewöhnlich der Fall ist, nein, der Text wird zuerst performt und dann irgendwann, vielleicht, zum Nachlesen publiziert. Und hier kann – ähnlich wie bei der Buchtitelwahl – mitunter wiederum ein Problem lauern. Man könnte auch sagen: Das nachträgliche schriftliche Printprodukt wird zum Lackmustest der mündlichen Wortperfomances. Was einen als Hörer einmal im Moment gefallen hat, noch dazu live performt, muss einem als Leser zuhause mit viel mehr Distanz ja noch lange nicht überzeugen. Insofern gilt tatsächlich: Es ist auch ganz schön mutig, verbale Momentkunst schriftlich gesammelt abzudrucken. So wie manche Titel Büchern schaden können, können manche Anthologien wohl auch dem Ruf des Poeten mehr schaden als dass sie ihm nützen. Im Falle von Koschuhs verbal-literarischen Poetry-Slam-Ergüssen gilt das – wie bei der Titelangelegenheit – jedoch wiederum nicht. Was da schwarz auf weiß gedruckt steht, hält auch Stand.
Natürlich würde man sich – wenn man Koschuh live erlebt hat – manchmal wünschen, er würde die Texte vorlesen oder viel eher live performen, während man sie liest. Das ist auch der Grund, warum solche Textsammlungen immer wieder auch mit Audio-CD publiziert werden. Das kostet allerdings Geld, das muss der Verlag bezahlen (können). Es fehlt etwas, wenn der Vortrag wegfällt. Denn man merkt den Texten ja auch an, dass sie für den Vortrag konzipiert sind. Aber gerade weil da nur mehr der nackte Text abgedruckt steht, fallen einem vielleicht auch mehr Details auf, das Bild, das sich aus den Texten ergibt, wird dadurch genauer. Und noch etwas leistet so eine Text-Zusammenschau: Man überblickt die ganze Bandbreite des Spoken-Word-Poeten, sieht, wie weit sein thematisches Spektrum reicht (oder auch nicht) und wie facettenreich er mit Sprache umgehen kann (oder nicht).
Sowohl inhaltlich wie auch sprachlich hat das kleine Koschuh’sche Brevier hier einiges zu bieten: In erster Linie ist Koschuh komisch. Das war zu erwarten, das weiß man, das mag man. Das genießt man auch beim Lesen, wenn eine Pointe die nächste jagt oder ein Text am Ende noch eine ganz unerwartete Wendung nimmt. Koschuh kann aber auch lyrisch sein und herrlich mit Sprache spielen, zeigt der Band. Natürlich finden sich auch selbstreflexive Texte in der Anthologie, schließlich leben wir im Zeitalter der Selbstreflexion, wobei dazu auch amüsante Texte über den Autor selbst zählen, der sich als leicht hypochondrisch entpuppt, Texte, die unmittelbar Bezug nehmen auf das, was im Jahreslauf so passiert (Weltuntergang am 20. Dezember, Frühlingserwachen, Advent), Texte, in denen er Kollegen humorvoll porträtiert oder seine Probleme mit Wurstfachverkäuferinnen thematisiert. Auch die Zeugen Jehovas und die Schützen kommen bei Koschuh nicht so gut weg, ganz zu schweigen von KHG oder einer schwarzen Katze, die das Asylwerber-„Vogele“ aus dem Kosovo kurzerhand abmurkst …
Am stärksten ist Koschuh vielleicht dann, wenn er nicht nur blödelt, parodiert oder mit Sprache herumtollt (obwohl er auch das alles glänzend beherrscht), sondern in der verbalen Blödelei jenes Quäntchen trauriger Wahrheit versteckt, das einem komischen Text den Tiefgang verleiht, den er braucht, um nicht nur purer Klamauk zu sein. Es ist schon eine Kunst, harsche Gesellschaftskritik so zu verpacken, dass man sie deutlich wahrnimmt und die Stirn runzelt und man gleichzeitig aber immer noch lachen kann, ja, muss. Das gelingt nur, wenn man als Autor die schwere Kost den Lesern, den Zuhörern, so serviert, das sie die bittere Pille bereitwillig schlucken. Dass Koschuh das kann, spricht sehr für seine sprachlichen Verführungskünste. Manchmal halten Titel eben doch, was sie versprechen.

Friederike Gösweiner

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Anna Maria Leitgeb: Mutter der sieben Schmerzen
Bozen: Raetia, 2012

Sich selbst erzählen lernen: Die kleinen Geschichten in Anna Maria Leitgebs Roman Mutter der sieben Schmerzen

© Raetia, 2012“Sie verstehe, sie müsse zu dem stehen, was gewesen war. Deshalb rede sie jetzt. Reden tue ihr gut“ (290), so die Worte aus der Perspektive der Protagonistin Hanna in Anna Maria Leitgebs Roman Mutter der sieben Schmerzen. Als Zugreisende erzählt sie ihre Lebensgeschichte im Rückblick und im Anschluss daran will sie „nur mehr aus dem Fenster schauen“ (299). Was sie erfahren hat, sind lieblose Zeiten, zwei Weltkriege, den Verlust ihres Mannes und beinahe aller Kinder, die Armut, wenig Unterstützung von Seiten der Mitmenschen, dagegen viel Entwürdigung. Sie ist mit zahlreichen Stigmata behaftet – ein außereheliches Kind von einem „Karrner“ macht sie im Südtiroler Dorf Stallbach zur Hure; nach dem Tod ihres Mannes, der, infiziert mit Tuberkulose und geplagt von zahlreichen unverarbeiteten Erfahrungen, vom Krieg heimkehrt, werden ihr die noch verbliebenen Kinder entzogen; mehrere sind bereits im Kindesalter verstorben. Auch den Kindern widerfährt nichts Gutes: Verachtung, Hungersnot, Misshandlung, Vergewaltigung. Martha nimmt sich schließlich selbst das Leben, Nannele stirbt im Heim an Bronchitis und Anton fällt während des Zweiten Weltkrieges in Finnland. Lediglich Kurt wird später mit Hilfe eines deutsch-englischen Paares ein Pharmaziestudium absolvieren können.

Die Opferrolle der Mutter – der Titel deutet sie an – durchzieht den Großteil des Romans: In der Tat hat sie kein einfaches Leben. Doch Hanna wächst auch über diese Rolle hinaus: Sie reflektiert ihre Situation als Frau innerhalb patriarchaler Strukturen, die Sinnlosigkeit der Kriege und deren Auswirkungen auf ihre Familie, die Schmerzen, die ihr widerfahren und die, die sie bei anderen auslöst. Sie ist empfänglich für religiös und feministisch aufklärerische Ideen: Sie erkennt die Diskriminierungen des Katholizismus und beginnt sich ihnen zu widersetzen. Die religiösen Diskurse, die übernommenen und nie reflektierten Sprüche, die Gebete und Ausdrücke prägen den Text und werden von den Figuren immer wieder herbeizitiert. Doch Hanna beginnt zusehends, sich dieser ritualisierten Sprache zu entziehen und auch die Unsinnigkeiten so mancher Diskurse zu erkennen. Es bleibt jedoch eine Herausforderung für sie, dieser Sprache gänzlich zu entweichen, hat sie es sich doch zu lange darin eingerichtet. Sie ist beeindruckt von Maria Ducia, der Mitbegründerin der sozialdemokratischen Frauenbewegung Tirols und ersten Sozialdemokratin im Tiroler Landtag, der sie in Lienz begegnet und sieht in deren Worten eine Bestätigung der Richtigkeit ihrer eigenen “kleinfügigen” Rebellionen. Hanna weiß auch, dass sie künstlerische Fähigkeiten in sich hat und versucht sie – trotz aller Hindernisse – zu entfalten.

Auf narrativer Ebene werden im Roman unterschiedliche Perspektiven eingeführt: Zunächst gibt es die Haupt-Erzählperspektive in der dritten Person, welche die Handlung aus der Sicht der Mutter Hanna schildert. Daneben kommen die Kinder Kurt, Martha, Nannele und der Vater Jakob in der Ich-Perspektive zur Sprache. Die Textteile werden voneinander abgetrennt, indem sie mit den Namen der jeweiligen Figuren gezeichnet werden und kursiv gedruckt sind: Allerdings ist nicht jede Sicht sprachlich und gedanklich überzeugend voneinander abgegrenzt; beispielsweise scheinen die Überlegungen Marthas mit jenen Hannas ziemlich genau übereinzustimmen und die Kinderstimmen muten insgesamt sehr erwachsen an, mit Ausnahme der Stimme von Nannele. Dennoch sind die unterschiedlichen Blickwinkel interessant, da sie einen Einblick in die schwierigen Verhältnisse von Kindheiten in Kriegs- und Nachkriegszeiten gewähren. Im letzten der drei Kapitel begegnet der Leser einer weiteren Perspektive mit dem Titel Fremde, die die Sicht des deutsch-englischen Paares, das sich aufgrund eines Forschungsprojektes in Südtirol aufhält und dort Kurt begegnet, in Briefform darstellt.

Anna Maria Leitgeb lässt die Figuren eine umfassende Zeitspanne aus ihrem Leben erzählen: Die Geschichte beginnt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und endet Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Handlungsort des Romans wechselt kaum, die Figuren bewegen sich bis zum Ende der Geschichte vor allem im selben Dorf bzw. Tal. Nur die Männer, die in den Krieg ziehen, erfahren Ortsveränderungen. Die Mutter hingegen verlebt ihr Leben im Dorf, erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges findet ein vorübergehender Ortswechsel nach Osttirol statt, wo sie ihre Schwester besucht. Auch ihr Sohn zieht schlussendlich aus dem Dorf weg.

Neben den historischen Ereignissen, die der Roman erzählt, wird auch die Bedeutung der Erinnerung reflektiert: Schließlich ist der Text ein Erinnerungstext, wobei das Sich-Vergegenwärtigen im Roman Leitgebs in sehr engem Zusammenhang mit dem Trauern steht; es gibt im Text sehr wenige Erinnerungen an Positives. Die Protagonistin formt ihr Leben zu einer Geschichte und ist sich dessen bewusst, dass sie dabei selektiv vorgeht, Erlebnisse mit einbezieht und so manche andere ausspart: „Sich erinnern und erzählen sei dasselbe, wie eine Geschichte erfinden, einen Roman. Vielleicht habe das damit zu tun, dass man die Bruchstücke aus der Geröllhalde des Erinnerten erst zusammenflicken müsse. Sie fahre mit der Eisenbahn und erzähle dem, der ihn hören wolle, den Roman ihres Lebens. Was spiele da die Wahrheit für eine Rolle? Sie wisse es nicht. Es gebe viele Wahrheiten, so viele wie es Momente der Rückbesinnung gebe. Sie fahre bald jeden Tag und lege die Erinnerungsbruchstücke auf die Waage. Für die Leute sei sie die komische Alte mit den Geschichten, niemand nehme sie ernst. Aber sie könne nicht vergessen. Sie müsse erzählen, müsse das Gewesene ausspucken“ (86 ff.). Der Erinnerungsprozess wird als ein Erzählprozess verstanden, wie ihn Paul Ricoeur theoretisiert hat: Er hat erkannt, dass die Fähigkeit, sich selbst zu erzählen, auch bedeutet, fähig zu sein, sich selbst auf unterschiedliche Weise zu erzählen. Dies streitet der Erinnerung und den Erzählvarianten über das eigene Leben jedoch keineswegs ihre Wichtigkeit ab. So wie die Hauptfigur behauptet, sie habe die Pflicht, das Verlangen, zu erzählen, was für sie gewesen ist, weil ihr das “Reden gut tue” (290), sind die Erzählungen für das Verständnis des Ichs unerlässlich.

Sprachlich sind die Reflexionen im Roman nicht immer angemessen formuliert: Beispielsweise wird das Erinnern mit vielen feinen Schichten “einem Backwerk aus Blätterteig nicht unähnlich” (156) verglichen – ein Vergleich, der sicherlich hinkt. Ebenso sind zahlreiche Metaphern und Vergleiche im Roman Leitgebs nicht überzeugend und häufig zu wenig ausdrucksstark. Beispielsweise, wenn es heißt: “Sie fing an, sich ein bisschen wie die Ente zu fühlen, die gegen die Strömung ankämpft” (26), “Er war einer, dem die größten Gemeinheiten leicht über die Lippen rutschten, glatt wie die Leiber in Öl ersoffener Nachtschnecken” (45), “Die Wut ist grüngallige Hundekotze” (85), “Da kam die Bombe: ‘Kurt, möchtest du mit uns nach England kommen?’” (257) oder “Die Stille, die entstand, war wie ein Gummiband” (297).

Vergleichbar mit Leitgebs erstem Roman Der Boden unter den Füßen (2009) vervollständigt auch dieser Roman die „Geschichte“, wie sie in den Schulbüchern steht, durch die Geschichten der einfachen Menschen, die diese Zeit erlebt haben. Das macht letztlich den Wert des Buches aus.

Barbara Siller

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felix mitterer, lukas morscher, christian ide hintze (Hrsg.): das goldene dachl und seine rätselhafte inschrift. eine poetische annäherung.
Innsbruck: Haymon, 2012

 
Die Versammlung der Gschaftluber

© Haymon, 2012Dass Staunen nicht zwangsläufig den Beginn des Philosophierens bedeutet, lässt  sich gut an einem Sammelband nachweisen, der auf Initiative der Schule für Dichtung in Wien entstanden ist. Das Verhängnis begann damit, dass Christian Ide Hintze vor dem Goldenen Dachl in Innsbruck stand und plötzlich „dieses schriftband“ sah. Es ist Teil eines Reliefs und ist mit Schriftzeichen bedeckt, die seit den fünfhundert Jahren des Bestehens, seit Maximilians Zeiten also, noch niemand entziffern konnte. Das liegt vermutlich daran, dass es sich um willkürlich gesetzte fiktive Zeichen handelt, denen kein Sinn unterlegt werden kann. Christian Ide Hintze jedenfalls ließ dieses Band nicht los, und er setzte eine Internetklasse darauf an, Gedichte zu verfassen zur Deutung der Zeichen. Und das war definitiv keine gute Idee. 
Wer ist Christian Ide Hintze? In den siebziger Jahren tauchte er unvermittelt im Umfeld von literarischen Veranstaltungen auf und verteilte auf Zetteln seine Gedichte. Das waren unbedarfte Versuche eines jungen Mannes, sich auf dem Feld der Poesie zu tummeln. Zu Recht sind diese Gedichte vergessen, in Erinnerung bleibt einer, der gegen den Literaturbetrieb anging, indem er die konventionellen Wege, Texte an die Leser zu bringen, umging. Er war Herr über sein Werk, der allein entschied, was damit geschehen sollte. Das war gewiss dem Trotz geschuldet, von literarischen Verlagen ignoriert worden zu sein. Sympathien als verschrobener Sonderling waren ihm sicher. Er gründete die Schule für Dichtung in Wien, eine Art Ausbildungsstätte für Leute mit Schreibdrang, an die er so namhafte Poeten wie H. C. Artmann und Gerhard Rühm zu holen vermochte. Nicht sein literarisches Werk zeichnet ihn aus, sondern seine Literaturbetriebs-Umtriebigkeit. Bis zu seinem frühen Tod 2012 im Alter von 59 Jahren leitete er diese Einrichtung.
Jetzt haben wir den Salat. War die Aufforderung, das „Rätsel Spruchband“ – immer ist von Rätsel zu lesen, als hingen die letzten Geheimnisse der Menschheit an diesen ungelenken Zeichen – mit den Mitteln der Poesie zu lösen, in die Welt gesetzt, warfen eine Vielzahl von Gelegenheitsdichtern ihren PC an, um „ihre phantasie spielen“ zu lassen, wie es in der Ausschreibung verhieß. Auf „jeglichen linguistischen, philologischen, graphologischen oder sonst wie wissenschaftlichen anspruch“ wurde gerne verzichtet. Ach was, auf jeglichen Anspruch wurde verzichtet. Man brauchte keinen Begriff von Geschichte, Kulturgeschichte und Literatur zu haben, jeder durfte, was ihm gerade durch den Kopf ging, via E-Mail auf den Weg schicken und Felix Mitterer nahm sich der Sache an. Er verteilte sogar noch goldene Dachln als Zeichen der Qualität.
Schauen wir uns eines der von Mitterer mit der Höchstwertung ausgestatteten Gedichte an:
„Was immer du hörst
siehst oder gar fühlst
versuch es nicht zu verstehen
sie wie eine Feder
die niemals die Erde berührt“    
Das erste Wort der vierten Zeile sollte wohl „sei“ heißen, seis drum.
Diese herzensgute, warmherzige Botschaft von kleiner prinzenhaften Naivität also empfiehlt uns eine Dichterin, und Felix Mitterer schwärmt zum wiederholten Male: „auch dieses schön.“ Jetzt schweben wir also, verstehen nichts – und das ist gut so, denn sonst würden wir mit fortlaufender Lektüre innerlich verfallen ob der Hilflosigkeit im Ausdruck, die uns von Beitrag zu Beitrag anspringt. Manche Dichter versetzen sich ins liebende Herz des Kaisers Maximilian, andere gehen aber - hallo – richtig bissig zeitkritisch ans Werk, dass wir uns, würden wir nicht selig schweben, ducken würden unter der Wucht der Attacke. Andere lieben es heftig, schalten in einer Art angelesenen Originalitätsrausches in den Sprachturbo, dass es nur so holtert und poltert, manche reimen auf Biegen und Brechen ohne zu bedenken, dass einem Gedicht auch ein Rhythmus unterlegt sein könnte. Es fehlt an allen Ecken und Enden die Arbeit am Text, die man von einer Schule für Dichtung eigentlich erwarten könnte. Ein Gedicht steht im Raum, und Felix Mitterer kommentiert es.
Ach, wenn er es nur täte, was er leistet, ist eine Verhöhnung jeder kritischen Arbeit. Eine Auseinandersetzung mit einem Text findet an keiner Stelle statt. „hat was“, „schön“, „ganz schön frech“, „weiß nicht recht“, „wohl wahr“, „interessant“, „woll, mag i“ – von dieser Art sind die Kommentare des Felix Mitterer. Knapper ist seine eigene Unfähigkeit, sich auf die Arbeiten einzulassen, nicht auf den Begriff zu bringen. Keine poetologischen Überlegungen, nie die Frage, was die Form leistet, Daumen hoch oder runter, mehr ist von ihm nicht zu erwarten. Diese Selbstdemontage eines ernst zu nehmenden Schriftstellers mit einem reichen Werk zu beobachten ist beklemmend. Merkwürdig, dass sich ein Verlag, der für sein starkes literarisches Programm zu rühmen ist, sich darauf eingelassen hat.     

Felix Mitterer, Christian Ide Hintze, Lukas Morscher (Hg.): das goldene dachl und seine rätselhafte inschrift. Eine poetische annäherung. Geb., 160 S. Haymon, Innsbruck 2012.

Anton Thuswaldner

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Angelika Rainer: Odradek
Innsbruck: Haymon 2012
 

© Haymon, 2012„Ich will die Hilfe von Vordenkern annehmen“ (S. 8), schreibt Angelika Rainer im ersten lyrischen Stück ihres aktuellen Buches „Odradek“ (Haymon 2012). Odradek, so nennt sich das gesichtslose Zwirnspulenwesen, das Franz Kafka in der kurzen Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ beschreibt. Wie schon ihrem Debüt, der lyrischen Erzählung Luciferin (hier ging die Autorin von der Erzählung „Die drei Leben der Lucie Cabrol“ aus), legt Angelika Rainer auch ihrem zweiten Buch einen Referenztext zu Grunde. Als flinkes, außerordentlich bewegliches Wesen wird Odradek von Kafka beschrieben, das als Ganzes „zwar sinnlos“ erscheint, „aber in seiner Art abgeschlossen“ ist. Auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen oder im Flur des Hausvaters, ist Odradek die meiste Zeit anzutreffen, wenn er sich nicht gerade in anderen Häusern herumtreibt. Manchmal, so heißt es bei Kafka, überkommt einen die Lust, das Wesen anzusprechen. Hier setzt Angelika Rainers Auseinandersetzung in Form lyrischer Prosaskizzen mit dem kafkaschen Geschöpf ein: „Unterredung (Der Hausvater spricht zu Odradek.)“ nennt sie den ersten Abschnitt ihres Bandes. Es folgen die Kapitel „Nachtstücke (Odradek erzählt.)“, „Von der Seele (ein Auge allein zu klein es zu fassen“ und „Coda“, die im Buch jeweils mit Zitaten aus Kafkas Erzählung versehen sind, mit Ausnahme des Abschnitts „Coda“, der von einem Ausschnitt aus dem Gedicht „Dunkles Aug im September“ von Paul Celan eingeleitet wird.
Mit den vorangestellten Zitaten legt die Autorin intertextuelle Fährten, denen man folgen könnte: Der Hausvater, der mit dem seltsamen Wesen Odradek in Kontakt treten möchte, Odradek, der sich zuweilen an anderen Orten herumtreibt und erst nach Monaten zurückkehrt, und die größte Sorge des Hausvaters, die schmerzliche Vorstellung, dass ihn Odradek wahrscheinlich überleben wird. Diese Aspekte der kafkaschen Erzählung spinnt Angelika Rainer weiter, nimmt sie zum Anlass für Erkundungen nach dem Älterwerden, dem Tod und der Seele. Dabei verwandelt Angelika Rainer den Hausvater und Odradek in zwei Figuren, die einander umkreisen und aufeinander reagieren, aber auch eigene Wege einschlagen: In Rainers Hausvater könnte man das Bild eines Menschen im fortgeschrittenen Alter sehen, der auf sein Leben zurückblickt, intensive Momente und Erinnerungen hervorholt; ein Mensch, der Antworten auf Fragen gefunden hat, aber dennoch nicht frei von Wünschen ist:

Herr über das Staunen will ich werden, Oden verfassen
die das ausufernde Gefühl zu läutern vermögen
Tage und Orte langsam belichten (welche Gesetze ich nach einer Zeit
            erkannte, welche Gesten ich verstand!)
Farbe, Form und Geruch will ich sammeln
Wolken- und Apfelstudien betreiben
für späteren Gebrauch und nachträglichen Sinn. (S. 17)

Rainers Odradek ist ein Freigeist, der sich in der Welt der Menschen, genauso wie in der Zwischenwelt der Träume und Fantasie aufhält und sich darin treiben lässt. Wenn „Odradek erzählt“, dann sind die (meisten) Texte im Blocksatz geschrieben, erhalten eine abgeschlossene Form. Odradek taucht in Mexiko oder in Finnland auf, begegnet Menschen, die ihm Rätselhaftes berichten:

Am Grunde flüsterte ein Bach, ein Mädchen mit weißen, fliegenden Haaren gestand:
Ich bin mit Farben allerart vertraut, für den Verrat hingegen sehr gefährdet. (S. 38)
[…]
Ein augenbrauenloser Mensch berichtete von Störzonen im Gesteinskern
und Rußfeldern in seinen wässrigen, zu nahe beieinander liegenden Augen. (S. 42)

Odradek hat verschiedene Stimmen, er tritt als lyrisches Ich, aber auch als „wir“ und als neutraler Erzähler in Erscheinung. Vielleicht ist er so etwas wie ein ständiger Begleiter, eine Art Seele, die in der Natur und in den Dingen wohnt oder ein Einflüsterer, der zuweilen auch lästig werden kann: „Sprechen Sie nicht mit mir, ich esse, immer sitzt mir ein Gebieter im Nacken.“ (S. 56)
Man sollte in Angelika Rainers Texten aber nicht ausschließlich nach den kafkaschen Figuren fahnden: Neben „Farbe, Form und Geruch“ versammelt die Autorin in ihrem Buch auch Klang, Rhythmus, (Natur)bilder, Vergleiche, Motive und Metaphern. Es kommt vor, dass einzelne Motive oder Bilder über mehrere Texte hinweggezogen werden, aber kaum, dass man sich an sie gewöhnt hat und nach ihnen zu suchen beginnt, auch schon wieder verschwinden und durch neue abgelöst werden. Das ist auf der einen Seite anregend und erstaunlich, denn die Kraft der Bilder ist bemerkenswert, auf der anderen Seite wird einem durch diese Vorgangsweise aber auch jeder noch so kleine Strohhalm verweigert, an dem man sich ab und zu gerne festhalten würde, um Anhaltspunkte für diese Texte zu finden. „Coda“, wie den zusammenfassenden Teil eines Musikstücks, nennt Angelika Rainer den letzten Abschnitt ihres Bandes. Darin begegnen einander immer wieder ein Ich und ein Du, etwas Tröstliches, liegt in den Texten, aber auch das Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit: „wie verschwiegen / wie still wir sind / über unser sicheres Ende.“ Je ruhiger die Texte werden, je näher Rainer mit ihrem Sprachwerkzeug bei einem Thema bleibt, desto dichter und eindrücklicher werden sie, desto mehr gewinnen sie an Stärke.
Allen Texten gemeinsam ist aber zweifellos eine spürbare Lust und Begeisterung daran, sich in der Sprache und ihrem Variantenreichtum zu verlieren: „Die Freude über den Duft von Kaffee und des Menschen Vermögen etwas aufzuschreiben war groß, die Verwechslung von Süden und Norden bedeutungslos geworden.“ (S. 47).

Gabriele·Wild

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Herbert Rosendorfer: Die Kaktusfrau. Erzählungen
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012
  

Rosendorfer geht – und bleibt doch 

© Kiepenheuer & Witsch, 2012Rosenbach ist eine Künstlerin und Beuys-Schülerin, Rosenberg, Alfred, ab 1923 Leiter des „Völkischen Beobachters“, die Rosenbürstenhornwespe etwa 1 cm groß und Herbert Rosendorfer Schriftsteller und Jurist. Diese zufällige Reihenfolge sieht Band 12 des Brockhaus 1998 vor. Der Stein-Satz „Rose is a rose is a rose is a rose“ hat nichts von dieser Zufälligkeit, und auf ihn anspielend könnte man durchaus (und nicht zufällig) den Grund-Satz „Rosendorfer is a Rosendorfer is a Rosendorfer is a Rosendorfer“ prägen. Er trifft zu. Seit Rosendorfers erste Erzählung Die Glasglocke 1956 in Wort im Gebirge veröffentlicht wurde, sind viele Bücher dieses Autors erschienen, bis hin zum vorliegenden postumen Erzählungsband vom Oktober 2012. Dass dieses letzte Buch, Die Kaktusfrau, ein echter Rosendorfer ist, so echt, wie es Die Glasglocke Jahrzehnte früher war, ist unverkennbar. Rosendorfers Kaktusfrau hat so richtig gar nichts von einer Esther Greenwood, jener literarischen Figur, die in der Glasglocke eine Rolle spielt, aber eben in einer ganz anderen…

     Die Frauen, die in diesem Erzählungsband titelmäßig auftreten – Das Mädchen mit dem Nasenringelchen, Die junge Wasserträgerin, Die Heimat der grünlichen Schwestern, Die Jung- und Die (bereits erwähnte) Kaktusfrau –, haben so richtig gar nichts von Selbstzerfleischung, Bekenntnis und permanenter Innenschau Plath’schen Zuschnitts. Diese Frauen, und nicht nur diese in Titeln angeführten Frauen, treten gern bar auf, sei es bar jeder Kleidung, also nackt, sei es bar jeder Persönlichkeit, also typenhaft. Irgendwie. Wie? Nehmen wir das weibliche Personal der Erzählung mit dem Titel Steinmann. Da haben wir zunächst einmal die sprechend benamsten: Herrn Zeppers Mutter, Erna Witwe Zepper geborene Silberwastl; dann Fräulein Hirschler; schließlich eine Gattin, die von einer Schlange attackiert wird: „Sie (die Schlange) biß die Gattin eines Parlamentsabgeordneten, die gerade auf der Kundentoilette eines Kaufhauses saß, wohin sich die Schlange verirrt hatte. Durch den Biß quoll die Parlamentariergattin zu etwa der zweieinhalbfachen Dicke auf, weshalb der Parlamentarier sich weigerte, sie weiterhin als seine Ehefrau anzuerkennen“; und endlich eine Geliebte, eine „Schriftstellerin namens Müller (nicht zu verwechseln mit der bekannten Autorin Hingerta Müller, der Verfasserin des berühmten Bestsellers Rapunzels Schamhaar)“, die eine Gasexplosion „durch ein Wunder“ überlebt: „Sie wurde aus dem Haus gefegt, wobei sie allerdings durch den Luftdruck restlos entkleidet wurde. Sie stand nackt vor den Trümmern des Hauses, als die Feuerwehr kam, und hielt das Manuskript ihres Romans krampfhaft vor ihre Blößen“. Und so weiter.

     Ganz klar: Dieser Steinmann ist nicht das beste Stück im Buch. Und es gibt wohl auch sonst noch so einige Ausrutscher. Richtig ist freilich auch, dass Rosendorfer hier wie immer seine Qualitäten hat: seine fantastischen Absurditäten, seine surreale Mythologie und ketzerische Theologie, seine Satire, frei von jeglichem Pathos. Er kann gar nicht anders, er muss – schreiben, und so schreiben, wie er immer schon geschrieben hat: das Erhabene vom hohen Sockel nehmend und auf dem Studiertisch bloß stellend. So ergeben sich für ihn und uns Leser neue Perspektiven. Die beste Erzählung im Buch ist – ganz in diesem Sinn – gar nicht von Rosendorfer, sondern von Gogol. Rosendorfer lässt sie einen Juristen erzählen, einen gewissen Jewgraf Konstantinowitsch Tichonov. An jedem Satz merkt man, wie fein geschliffen die Spitzen dieses Autors sein können und wie gut er fremde Töne zu imitieren vermag.

     Viel hat er also geschrieben, dieser Rosendorfer, und nicht Weniges wird originell bleiben, gerade was seinen Blick auf Tirol betrifft (das auch in diesem Buch hier und dort auftaucht). Kein Wunder, dass so knorrig-verschmitzte Herren wie Wolfgang Pfaundler, Paul Flora oder Otto Grünmandl die virtuos verschraubte Satire dieses Schriftstellers und Juristen hoch schätzten. Ob er deswegen ein (Süd-)Tiroler Autor ist? Horst Seehofer, der ihm 2010 den Corine-Buchpreis verlieh, meinte ja damals, dass Rosendorfer „mit seiner hintergründigen Komik und seinem subtilen Humor den Bayern aus der Seele“ spreche. Das sollte zumindest aus literarischer Perspektive kein Stein des Anstoßes sein. Es gilt ja: „Rosendorfer is a Rosendorfer is a Rosendorfer is a Rosendorfer“.

Bernhard Sandbichler

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Helmuth Schönauer, Durnitalien: Südtiroler Provinzroman
Innsbruck-Wien: Kyrene, 2012


© Kyrene, 2012Zwei Kapitel lang sieht es fast so aus, als ob Durnitalien wirklich ein Roman sei - ein satirischer Roman, wie der Untertitel suggeriert, und wie man es sich von Helmuth Schönauer erwartet.
Drei Nordtiroler Schützen, Klachelberger, Gupf und Gitzler, sind in ihrem Vereins-Audi (mit der sprechenden „Kartoffelnummer“ IL-PUFFN1) unterwegs zum Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder. Da sie nahe der österreichisch-italienischen Staatsgrenze einen Unfall haben, übernehmen drei gleichnamige Südtiroler Kollegen die Aufgabe, für eine Gedenkfeier zum „zweihundert-ixten Todestag“ des Widerstandskämpfers und Tiroler Nationalhelden Andreas Hofer eine Förderung zu beantragen. Als Höhepunkt der geplanten staatsübergreifenden Festlichkeiten ist eine „feierliche Hinrichtung“ geplant. Bei dieser „Parallelaktion“ der Brüder im Norden und jener im Süden handelt es sich natürlich, wie bei Musil, um Schaumschlägerei, denn die Todesstrafe ist in Italien seit 1948 und in Österreich seit 1968 abgeschafft. Trotzdem bekommen die drei „Sydis“, nachdem sie das im Landhaus übliche Arschkriech- und Speichelleck-Ritual vollzogen haben, die gewünschte Subvention zugesagt.
Klachelberger, in Kapitel 1 als „Oberschütze des Trios“ Zielscheibe des Spotts, lebt in der „Sonnensiedlung“ St. Querenten, Nordtirol, einer Gemeinde, die es nicht gibt, weshalb der Leser ihn gedanklich im bekannten „Sonnendorf“ Terenten, also in Südtirol, ansiedelt. Andererseits wohnt er am Innsbrucker Mitterweg, dem Schönauerschen Anti-locus-amoenus, und vertritt im Lauf des Buches zunehmend Ansichten seines geistigen Vaters, wodurch er zu einer Art Alter Ego desselben gerät bzw. mit ihm verschmilzt. Schönauer erteilt also dem Identitätsprinzip  (A=A), dem Prinzip der Nichtwidersprüchlichkeit (A kann nicht A sein und gleichzeitig nicht sein) und dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (A ist wahr oder falsch, tertium non datur) und damit dem abendländischen Rationalismus eine Absage. Ähnlich verfährt der Autor mit real existierenden Prominenten: Felix Mitterer tritt auch als Grasserer, Sabine Gruber als Bettina Gruber und der Landeshauptmann des Trentino, Lorenzo Dellai, als Delli oder Trienti auf. Postmoderne „Auflösung des Subjekts“ oder Irreführung von Juristen durch einen „gerichtlich anerkannten Schriftsteller“ (ipse dixit) ist hier die Frage.
Abgesehen von den Eingangskapiteln besteht der Text aus aneinandergereihten Aperçus, die einer Reihe von – oft ungenannten – Personen in den Mund gelegt werden - Satire im ursprünglichen Wortsinn - ein Mischmasch von Dingen über die gespottet wird, wie z.B. über die Sendung Südtirol-Bild:
[...] schon die Signation hat es in sich, über die bulimitische Moderatorin zieht in Flaggengestalt ein roter Adler, der auf der Flucht ist. Er wendet sich an das Publikum, flehentlich, ihn nicht zu verjagen, denn das Wappentier ist irgendwo in Saint-Germain gerupft worden und an den Schenkeln angebraten. Die Stimme des Adlers hat den verruchten Sound des Landeshauptmanns, der Adler ist ein Vorspann in Farbe, Rauch und Gefledder, wie man gleich sieht. (S. 32)
Im Zentrum steht natürlich „Durni“:
Aber schon wenn der Mund aufgeht, ist allen klar, hier spricht der BOKU-Spezialist, der die Heimat in Grund und Boden verwaltet und sie liebt über alle Moden und Microsoft-Betriebssysteme hinweg. (S. 33)
Bei Durni ist es sicher das Aussitzen, das alle Aktivitäten überstrahlt. An manchen Tagen handelt es sich bei dieser Politik um bloße Schwerkraft, selbst der Widerstand ist zu müde, eine Rede zu halten, eine Waffe in die Hand zu nehmen oder wenigstens einen Furz zu lassen. (S. 146)
Durnis und „Plattis“ (d.h. LH Günther Platters) Lieblingsprojekt ist der Brenner-Basis-Tunnel, dessen Bau sich als eine Art mythisches – und dennoch sattsam kommentiertes - Geschehen jenseits der Wahrnehmung der Bevölkerung vollzieht:
[...] denn wer nie sichtbar ist, muss ständig in Pressekonferenzen darauf hinweisen, dass was los ist, dass es Löcher gibt, Lüftungsschächte und Bohrungen allenthalben. (S. 42)
Das Innsbrucker Literaturhaus/Brenner-Archiv wird aufgrund der dort befindlichen Nachlässe, Vorlässe und Sammlungen als „Gruft im zehnten Stock“ (S. 102) bezeichnet.
Zum Abschluß noch einige von Schönauers netteren bösen Auslassungen:
Über Praktiken des Literaturbetriebs:
Der größte Vorlasser des Landes ist Zoderer, dicht gefolgt von Tumler, der allerdings wenigstens anstandshalber gestorben ist und so den Vorlass tatsächlich in einen Nachlass verwandelt hat, auch wenn es seine Witwe nicht wahrhaben will. (S. 105)
Und über Schriftsteller-Kollegen:
Die meisten Sydis schreiben so dünn, dass man selbst bei langsamem Blättern in einer Viertelstunde durch ist. (S. 111)
Die aktiven Schriftsteller haben indes das Schreiben eingestellt oder schreiben nur noch Krimis für den Haymon, was quasi für den Hugo ist. (S. 106-107)
Auch für andere Zwerge, möchte man hinzufügen.

Sylvia Tschörner

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Renate Scrinzi: Und Emilio lächelt. Roman 
Bozen: Edition Raetia, 2011

© Edition Raetia, 2011Bereits 2011 ist im Bozener Verlag Edition Raetia ein Roman von Renate Scrinzi erschienen, der es allemal verdient, bekannt gemacht zu werden: „Und Emilio lächelt“. Er beginnt mit einem Zitat von und einem Hinweis auf Emil Zátopek (1922-2000), einem siegreichen tschechoslowakischen Langstreckenläufer, der sich während des Prager Frühlings verdient gemacht hat – eine erste historische Verortung. Darauf öffnet sich ein Rahmen um die Figur des Emilio, der sich 2001 auf einer Reise befindet, deren Ziel er nicht kennt und die am Ende des Buches wiederaufgenommen werden wird. Es folgen Tagebucheinträge eines deutschen Offiziers aus den Jahren 1942-1943, der Emilios Erzeuger genannt wird. Erst dann setzt unter dem Kapitelnamen „Anfang“ die Erzählung um Emilio selbst in vier Teilen ein, beginnend mit seiner Geburt 1945. Ein Junge, der ohne Vater aufwachsen wird, denn niemand außer seiner Mutter Angelina wird jemals wissen, wer sein Vater ist. Emilio ist ein Kind der reinsten Liebe, mit einem Merkmal ausgestattet, das ihm Herzen zufliegen lässt und ihm seinen Kosenamen „Sole“ einbringt. „Er kann sein Lächeln anknipsen, wenn ihn etwas überrascht. Spontane Freude zum Beispiel. Dann wieder knipst er es plötzlich und unerwartet aus. Die Welt hat keinen Anfang. Die Leute keine Ahnung. Da wird es dunkel und er selbst ist nicht mehr da. Nur wenn er lächelt, ist er da. Flüchtiger Moment des Glücks ohne fremde Zutaten.“ Wenn Emilio lächelt, wird es hell. „Ganz nach innen geht es dann, dieses Lächeln, und Soles ganze Gestalt taucht darin ein.“ Dieses Lächeln erleuchtet Räume und Menschen, aber er „macht“ nichts Besonderes daraus, es scheint fast unabhängig von ihm zu sein.

Emilio wächst bei seiner Mutter, den Großeltern und Onkel Aldo in der Toskana in einem Ort nahe am Meer auf. Als er fünf Jahre alt ist, zeigt Aldo ihm das Meer: eine Entdeckung und „Liebe auf den ersten Blick“. Dabei kommt es zu einer Epiphanie: „Über die Stufen hinab stolziert ein Mädchen. Ein Mädchen in einem weißen Kleid, barfuß, das weiße Handtuch hält es mit beiden Händen an den Oberkörper gedrückt. Emilio schaut. Ihm scheint, als ginge ein eigenartiges Licht von dem flatternden Kleid aus.“ Es ist ein magischer Moment, der nur im Blick erfolgt und für immer bleibt.

1967 heiratet Emilio Gertrud, eine deutsche Dolmetscherin, in der Marienkapelle, jenem Ort, an dem er gezeugt wurde. Mit seiner Frau zieht er nach München, Zwillinge werden geboren, er ist unglücklich. Als die Kinder 16 Jahre alt sind, bricht er zusammen, verlässt seine Familie und macht sich auf den Weg zurück nach Italien. Bei einem Sturz verliert er sein Gedächtnis, setzt jedoch die Reise fort, getrieben von der Sehnsucht nach dem Meer. In Marseille begegnet Emilio einem, der ihn kennt und zurück zu seinem Geburtsort Massa bringt. Dort, am Hafen, wartet die engelhafte Erscheinung vom ersten Tag am Meer, inzwischen 60 Jahre alt. Ein Kreis schließt sich.

Was an dieser Auf- und Nacherzählung vordergründig bedeutsam scheinen mag, Emilios Herkunft als einem Spross aus der Verführung eines italienischen Mädchens durch einen deutschen Soldaten gegen Ende des II. Weltkrieges und seinem Schicksal als vaterlosem Buben im Nachkriegsitalien stellt sich für die Erzählung als marginal heraus. Und obwohl die Ereignisse zeitlich verortet werden, scheinen diese Zeitangaben nicht von Belang zu sein. Was jedoch deutlich wird, ist ein Spiel mit Korrespondenzen, das hier aufgenommen wird. Das reicht von der Namensähnlichkeit Emils mit Emilio über den Beruf des deutschen Offiziers, er ist Dolmetscher, mit der späteren Frau Emilios, bis zu deren deutscher Herkunft. Die Geburt der Zwillinge macht die Verdoppelung buchstäblich.

Erzählt wird eine Lebensgeschichte, die pränatal beginnt. Auch eine Geschichte der reinen, ewigen Liebe, die durch äußere Unstimmigkeiten nicht beschädigt werden kann. Über das Lächeln kommuniziert Emilio rein mimisch mit der Welt und pflanzt so die Liebe des Mädchens Angelina fort. Die „Handlung“ wirkt in der Nach-Erzählung banal, so banal wie jedes x-beliebige Leben. Wichtiger als Handlungen und Taten ist die Innenschau, sind poetische Erkundungen. Die Sprache, in der all das erzählt wird, sucht ihresgleichen. Sie erreicht stellenweise eine Abstraktheit, die für erzählende Texte ungewöhnlich wirkt. So pendelt der Stil des Romans zwischen lyrisch-poetisch, abstrakt und genau beschreibend. Über die Lust an der Sprache gewinnen die Welt und das Leben eine Kontur. Selten wird die Tatsache, dass ein Text etwas „Gewebtes“ ist, so deutlich wie in diesem Buch. Die Sprache arbeitet, sie bringt die Figur Emilio zum Leben, wo vorher nichts war, lässt ihn entstehen. Scrinzi durchdringt damit die Figuren, taucht in sie ein, leuchtet sie aus, macht sie durchscheinend, belässt ihnen aber ihr Geheimnis. Dies erzeugt einen Sog, dem man sich nicht entziehen will. Am Ende kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, ein zauberhaftes Märchen gelesen zu haben.

Florian Braitenthaller

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Joseph Zoderer: Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen
Innsbruck-Wien: Haymon, 2012

© Haymon, 2012Mit dem Superlativ sollte man vorsichtig umgehen; aber wo er angebracht ist, muss man ihn doch bemühen, und in diesem Fall ist er angebracht: Die beiden Erzählungen, die Zoderer in diesem Band zusammengestellt hat, gehören ganz bestimmt zu seinen schönsten Prosatexten. In beiden Erzählungen setzt Zoderer ein Denkmal: in dem einen seinem Bruder, in dem andern seinem besten Freund; und er setzt – wirklich unentwegt darauf bedacht, wie am besten zu erzählen wäre – auf Genauigkeit, auf die akribische Wahrnehmung unterschiedlicher Identitätsentwürfe und auf die unablässige scharfe Beobachtung einer jeden, das heißt: auch der eigenen Stimme. So hat es schon Tumler gehalten, der väterliche Freund des Autors, jedenfalls seit den späten fünfziger Jahren, in der Überzeugung (oder wenigstens: in der Hoffnung), damit künftig allen ideologischen Verlockungen und Fallen souverän entkommen zu können. Zoderers Erzähler hält es ganz ähnlich, in seinem Fall: um den Figuren nie Unrecht zu tun, beispielsweise durch Behauptungen, die womöglich am Ende nur der Selbstbehauptung des Ich-Erzählers dienen. Er stellt vielmehr ständig in Frage, was er berichtet, er stellt seine eigene Position also am schärfsten in Frage; so überschreiten denn auch die beiden Erzählungen permanent die Grenze zur Autobiographie.
Es geht darum, geduldig zuzuhören, die verschiedenen Stimmen nicht durch das eigene Gerede gleich wieder zum Verstummen zu bringen. Die Titelgeschichte beginnt mit dem Satz: „Die Stimme am Telefon klingt sehr lebhaft, ich höre sie, als wäre sie meine.“ Schon in diesem ersten Satz ist das Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Bruder charakterisiert, wird die Nähe und zugleich auch die Distanz sichtbar, die den Jüngeren, den Erzähler, von dem zehn Jahre Älteren trennt. Distanz. Kein Wunder: Der Ältere war im Krieg, der Jüngere stellt (sich) immer wieder die Frage, wie der Bruder wohl sich in Extremsituationen verhalten hat, und: wie er selbst sich in ähnlichen Situationen verhalten hätte. Beide haben sich schon seit der Kindheit auseinandergelebt, zeitweise bestenfalls zweimal im Jahr getroffen. Inzwischen besucht der Jüngere den Älteren wieder öfter – nicht zuletzt, „weil ich mir bei ihm selbst zusehen kann.“ Auf die Fragen, die er dem Bruder noch stellen will, bekommt er keine Antworten mehr. Aber er kommt dem Bruder doch immer näher; und hinter die Antworten, die er früher selbst sich gegeben hätte, setzt er mehr und mehr Fragezeichen, während er den Älteren beobachtet. „Er schiebt sein Ende auf. Warum sollte er das nicht?“ Alles ist unversehens einem ständigen Wandel unterworfen, auch der Bericht: er entwickelt sich zur Liebeserklärung.
Am Anfang mag es so scheinen, als stünde im Mittelpunkt der zweiten Erzählung, Konrad, der beste Freund des Erzählers, ein Journalist (sein Name wird im Text nicht verraten; aber im Porträt wird sichtbar: es ist der Südtiroler Journalist Dr. Konrad Neulichedl, der 2011 in Rom verstorben ist). Tatsächlich dreht sich die Geschichte jedoch um zwei Figuren. Schon der erste Satz stellt sie vor: „Manchmal grolle ich meinem toten Freund, und doch möchte ich ihm nur gut sein, denn wir haben den Blick auf diese Welt brüderlich geteilt.“ Der Freund und der Ich-Erzähler also, beide schon seit der Studienzeit eng miteinander verbunden, stehen im Mittelpunkt einer Erzählung, die nicht nur aufzurollen versucht, was beide erlebt haben, sondern unter einem die Schwierigkeiten enthüllt, im Prozess des Erinnerns, d.h. in der Konstruktion der Erzählung der Wahrheit auf die Spur zu kommen. „Er war mein Freund, mein bester Freund, aber vielleicht habe ich ihn nicht wirklich gekannt.“ Das Geständnis des Erzählers stellt von allem Anfang an alles, fast alles, was er in Erinnerung ruft, gleich wieder in Frage; und im Lauf der Erzählung wird dann auch sichtbar, dass die Freunde sich über viele Themen, über wichtige Beziehungen gar nie ausgetauscht haben. – Auch in dieser Geschichte wird in einem auffallend-nüchternen, immer in erster Linie auf Genauigkeit bedachten (und gerade deshalb berührenden) Ton, im Vergleich zweier Lebensläufe, in vielen nahezu stummen Bildern vor allem die Welt des Erzählers umrissen, wird vermittelt, was ihm begegnet und widerfahren ist, was er liest, träumt, denkt, was alles ihn an den Schreibtisch drängt.
Zwei Erzählungen, die ohne weiteres auch als Bruchstücke einer Autobiographie gelesen werden könnten. Jede Form von Selbstüberhöhung aber ist aus diesen souverän-formulierten poetischen Schlüsseltexten verbannt. Es geht stattdessen um Selbstergründung.

Eine kleine Korrektur, ganz am Rande: Auf dem legendären Gipfeltreffen, das 1961 (wohl) auf Anregung des damaligen österreichischen Außenministers Bruno Kreisky in Wien stattgefunden hat, ist John F. Kennedy nicht mit Leonid Breschnew, sondern (zum ersten Mal) mit Nikita Chruschtschow zusammengekommen.

Johann Holzner

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Walter Klier: Verleihung des Otto-Gründmandl-Literaturpreises des Landes Tirol am 31. 10. 2012
Preisrede von Walter Klier und Laudatio von Robert Renk

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Weitere Neuerscheinungen

 

Albert Ennemoser: Irrfahrten eines jungen Europäers. Autobiographische Abenteuergeschichte. Innsbruck: TAK - Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative 2012

Paul Flora - "Zurück blieb ein Lächeln". 87 Zeichnungen für 87 Lebensjahre. Hg. Thomas Seywald. Salzburg: Otto Müller 2012

Bernhard Kathan: Stille. Innsbruck: Limbus 2012

Matthias Klammer: Nicht hier, nicht jetzt. Erzählungen. Gosau: Arovell 2012

Toni Kleinlercher: Die Obdachlosen lesen Nietzsche. Takes aus japanischen Tagen. Wien: Klever 2012

Martin Kolosz: Zweite Liebe. Bozen: Raetia 2012

Irene Prugger: Südtiroler Almgeschichten. M. Ill. Innsbruck: Edition Löwenzahn 2012

U. Elisabeth Sarcletti: such.spuren. Innsbruck: TAK - Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative 2012

Alois Schöpf: Glücklich durch Gehen. Innsbruck: Limbus 2012

Alois Schöpf: Aus den Tiefen der Hochkultur. Essay. Innsbruck: Limbus 2012

Ilse Somavilla (Hrsg.): Begegnungen mit Wittgenstein. Ludwig Hänsels Tagebücher 1918/1919 und 1921/1922. Innsbruck: Haymon 2012
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