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Salon Littéraire | Leopold Federmair :
Die Traumbrücke
Vor ziemlich genau tausend Jahren schrieb Murasaki Shikibu in Kyoto das “Genji Monogatari”, einen Roman voll von Liebesaffären und Huldigungen an die Schönheit von Kunst und Natur, grundiert von Machtpolitik und mehr oder minder sanfter Männergewalt. Der letzte Teil des Buchs entfaltet die ganze Meisterschaft der Autorin, vor allem in Hinblick auf die Feinheit psychologischer Darstellung. Die tragische Geschichte der Heldin Ukifune – vielleicht die erste Selbstmörderin der Literaturgeschichte – spielt die Schattenseiten der höfischen Gesellschaft der Heian-Zeit in den Vordergrund. Leopold Federmair hat Uji, den Schauplatz dieser Geschichte, besucht.
Der nächste Schritt …
Uji, the town of the tale of Genji, steht in großen Lettern an einer Hauswand gegenüber vom Bahnhof. Tatsächlich spielt nur der Schlußteil des Romans in diesem Städtchen, zu einem Zeitpunkt, da Genji, die Lichtgestalt des Romans, schon lange tot ist und der Sohn seiner letzten Hauptfrau, der von einem Nebenbuhler gezeugte Kaoru, eine Hauptrolle im Geschehen spielt. Kaoru, “der Wohlriechende”, empfindet Uji, knapp zwanzig Kilometer von Kyoto entfernt, heute bequem mit einem Zug der Nara-Linie erreichbar, damals hinter Bergwäldern versteckt und von streunenden Dieben geplagt, als “furchterregenden Ort”. Ukifune, die hier ihr Unglück findet, hat wenigstens Sinn für die Schönheit der Natur – die bis heute erhalten oder sogar, in der Umgebung des Byodoin-Tempels, hervorgehoben, um nicht zu sagen: verbessert, erhöht, vergeistigt wurde.
Der Weg hierher war düster gewesen und dicht von Gräsern und Bäumen überwachsen; aber das neue Haus war hell und licht. Man konnte von hier aus sowohl den Fluß wie auch die Berge prachtvoll übersehen. Ukifune genoß den Anblick sehr…
Es bedarf nicht unbedingt der Erinnerung an den Genji-Roman, um Uji als Ausflugsziel zu wählen. Der Fluß kommt aus einem Tal zwischen lückenlos bewaldeten Bergkuppen, die im Mai den ganzen Reichtum ihrer Grün-Töne entfalten, und wird breiter, ziemlich breit, während er das Städtchen, das damals nicht mehr als eine Ansiedlung von ein paar Häusern und Tempeln aus dem Holz der Wälder war, durchquert, um sich dann in flacheres Land zu ergießen.
Die Brücke, in der letzten Kapitelüberschrift des Monogatari als “Traumbrücke” bezeichnet, verbindet die beiden Stadthälften; auf ihr herrscht jetzt am Nachmittag dichter Verkehr, die Autos fahren im Schrittempo. Seit jeher war die Brücke genau an dieser Stelle; dem Auskunftsschild zufolge wurde sie vor kurzem im alten Geiste, die natürliche Umgebung respektierend, neu errichtet, wobei das besonders harte Holz einer hiesigen Zedernart verwendet worden sei. Flach liegt die Brücke über dem Fluss, das Wasser kämmend: so sieht es aus der Ferne aus. Nicht sehr tief, dieses Wasser; spaziert man jedoch am Ufer flußaufwärts, wird man gewahr, wie reißend die Strömung ist, an vielen Stellen, die manchmal durch steinerne Abstufungen entschärft sind.
Ob der Tod gewiß war, wenn sich eine Frau, wahrscheinlich Nichtschwimmerin, da hineinstürzte? Ob der Fluß den bewußtslosen Körper vielleicht nach kurzer Zeit im Flachen ans Ufer spülte? Wie hatte Ukifune die schwere Stunde “wirklich” überstanden?
Die Schilderung, oder besser: die andeutende Erzählung konnte nur im Unwirklichen schöpfen, sie konnte nur “surrealistisch” sein, weil Ukifune in jenem Moment aus der Wirklichkeit stürzte. Wie alle Selbstmörder (vermutlich, denn wer weiß das schon…).
Als dann der Morgen dämmerte, blickte sie auf den Uji-Fluß hinaus, und es war ihr mehr zum Sterben zumute als einem Schaf, das zur Schlafbank geführt wird.
Auch der Widerspruch des Selbstmörders, der ihn dazu bewegen könnte, von der letzten Handlung – dem buchstäblichen Hand-an-sich-Legen – abzusehen, blitzt auf.
Ach, dachte sie, was wird dann auch Kaoru, der mir ewige Liebe gelobt hat, von mir denken, wenn ich mich in den Fluß stürze?
Noch im letzten, nein, im vorletzten Augenblick sorgt sich Ukifune darüber, was die Leute denken könnten und welche Unannehmlichkeiten sie diesem oder jenem unter den Weiterlebenden bereiten könnte. Die Scham sollte sie überleben; die Hülle der Scham treibt dahin auf den unruhigen Wassern des Flusses. Wenn Ukifune tot sein wird, wird sie gar nichts mehr denken, die Gesellschaft wird mit ihr ertrunken sein, es wird alles egal, alles ausgelöscht sein: endlich das Nichts. Der Widerspruch des Selbstmörders ist nicht weniger tief als der des Ruhmbegierigen. Die Nachwelt wird über ihn reden, aber er wird von dieser Rede kein Wort genießen können. Also wozu nach Ruhm streben? Und warum Hand an sich legen?
Schreindach in Uji
Ich lese noch einmal die Passage, wo Ukifune sich an jene Nacht zu erinnern versucht. Lange konnte sie sich gar nicht erinnern; in dieser Zeit hat sie die Vorteile der Vergeßlichkeit entdeckt und spielt, wenn es ihr nützt, die Erinnerungslose. Wirkliches und fingiertes Vergessen verschränken sich zu einem kaum entwirrbaren Geflecht, das der bedrängten Frau Schutz geben kann.
Ich war offenbar entschlossen, dachte sie tastend, nicht mehr länger auf dieser Welt zu leben, und stürzte mich in den Fluß. Aber wie kam ich dann hierher?
In ihrer Verzweiflung hatte sie die Flügeltür des Hauses geöffnet. Es wehte ein heftiger Wind, und das wilde Rauschen des Flusses machte ihr Angst. Sie verließ die Veranda, daran erinnert sie sich, aber dann stürzte sie – nicht in den Fluß, sondern in ein Geisterreich. Die Erzählung schwankt, sie vermag nicht zu klären (und die Autorin will wahrscheinlich nicht klären), ob sich Ukifune nun “wirklich” in den Fluß gestürzt hat oder ob sie vorher von jenem Dämon, einem “Mann von wunderbarer Schönheit”, in dem sie einen Moment lang Niou, den ihr nachstellenden Weiberhelden, zu erkennen glaubt, umarmt und entführt worden ist – entführt in eine andere Welt, in der die Vernunftgesetze nicht gelten.
Nach der Interpretation des Priesters, der sie später bei sich aufnehmen wird, hat ein Baumgeist sie in die Lüfte gehoben, vielleicht – das ist mein Vorstellungsbild – in dem Augenblick, als sie von der Brücke sprang: gerettet. Zum Weiterleben verdammt. Mit der Geste der Selbsttötung geschieht ein letzter, wenngleich halluzinierter Liebesakt. Zwang oder Freiheit, Lust oder Gewalt – die Ambivalenz bleibt als Schwebezustand, ehe die Frau in geistige Verwirrung sinkt, aus der sie nur langsam wieder auftauchen wird.
Der buddhistische Byodoin-Tempel wurde 1052 gegründet, also ein Halbjahrhundert nach der Niederschrift des Genji Monogatari. Die Shinto-Schreine auf der anderen Seite des Flusses, am Fuß des Berges, halb in den Wald gebaut, sind älter, Ukifune hat sie zweifellos öfters besucht. Die buddhistische Seite wirkt, wie zu erwarten, vergeistigt – eine Folge jahrhundertelanger, respektvoller, aber auch entschlossen eingreifender Pflege der Natur. Geht man auf den Kieswegen hier, an den Käfigen mit den Kormoranen vorbei, die, eine Touristenattraktion, im Herbst zum Fischen eingespannt werden, dahinter das Dach der Phönix-Halle, deren Eleganz jener des goldenen Tempels in Kyoto nicht nachsteht, hat man das Gefühl, zugleich hier zu sein und anderswo, abgehoben, schwebend, in einem geistigen Raum, der den Naturraum unsichtbar begleitet.
Vielleicht ist dieser Zustand demjenigen Ukifunes, als sie nachts das Haus verließ, gar nicht so unähnlich; allerdings ohne Verzweiflungsdramatik, bei Tageslicht, heiter, abgewandt von der Welt und zugleich in ihr, ein kostbares Gleichgewicht, nach dem die Figuren des Monogatari streben (und das sie so selten erreichen).
Der selbe Fluss …
Primitiv im Vergleich dazu die Shinto-Schreine. Erdgebunden. Vorsätzlich einfach, wirkliche oder gespielte Naivität (manchmal ein Schmunzeln bei den Schrein-Besuchern, auch bei den Priestern). Winzige Hütten mit Heiligtümern, eine Steinstatue oder nur ein Stein, aus dem die Figur nicht eigens hervortritt; ein trüber Rundspiegel, ein Seilende, ein Glöckchen. Die Dächer aus Baumrindenstücken, schindelartig, von Moosen verschiedener Farbe bedeckt. Auch die Hauptgebäude haben diese Rindendächer, aber man sieht sie nicht von oben, kann sie nicht berühren. Der Wald am steil ansteigenden Berghang ist gemischt, hohe Laubbäume, dazwischen vereinzelt Bambusstangen, fast ebenso hoch. Genug Zwischenraum für ein schimmerndes Dunkel.
Auf dem Kiesplatz vor der Holztribüne, auf welcher der Hauptschrein ruht, zwei spitze Zylinder aus Sand oder sehr kleinen Kieseln, fast geometrisch perfekt (fast buddhistisch?), die an Frauenbrüste erinnern. Weiter hinten dann noch ein Steinhaufen, kleinere Steine, die gar nichts Besonderes haben, auf und um einen Felsbrocken, einem Findling. Der Schrein, als Niederlassung, verbirgt sich. Das Heiligtum tritt nicht hervor, sondern verweist auf das, was immer schon ist.
Gegen Abend habe ich den JR-Zug zurück nach Kyoto genommen. Es sind die alten, grasgrünen Waggons, die ich früher oft in Osaka gesehen, seltener benutzt habe. Ganz in der Nähe verläuft die Keihan-Linie, die in einem Buch von László Krasznahorkai gewürdigt wird. Ein Zen-Buch, in all seiner Vagheit, unbekümmert um heutige Wirklichkeit, von der nur wenige Elemente wie durch einen Filter in die Welt der Fiktion eindringen.
Der Keihan-Zug fuhr mit quietschenden Bremsen ein. Er hielt vor dem leeren Bahnsteig, die Türen öffneten sich, aber niemand stieg aus, niemand stieg ein, und so gingen die Türen bald wieder zischend zu, der Beamte blickte pflichtgemäß den Bahnsteig entlang, zuerst nach links, dann nach rechts, worauf er mit der Kelle winkte, den Knopf im Signalkasten drückte und sich zuletzt zeremoniell tief verniegte und in dieser Stellung blieb, reglos und diszipliniert, bis der Zug die Station verlassen hatte und nordwärts in Richtung Shichijo verschwunden war, um nach Kyoto zurückzukehren, in die wundersame Stadt, in der jetzt gerade irgendwo etwas ganz Schlimmes geschehen war.
Und jetzt fahren zahllose Grüppchen von Jugendlichen in Schul- oder Sportuniform in den grasgrünen Waggons, zwischen Häuschen und Ziegeldächern, Werkzeugschuppen und Baumgruppen, Bahnübergängen und Straßenecken mit Kurzwarengeschäften, ein alter Kühlschrank unter dem Vordach neben dem Eingang, zwischen Wellblechhütten und Kleinstfriedhöfen und Plakaten von Politikern, älteren Männern mit großen Brillen, und Schülergrüppchen und Radfahrern, die sich zwischen Abflußrinne und Parkzaun zwängen.
Es ist alles voll, quirlige Wirklichkeit, jung und alt. Und dann rumpelt es, und wir fahren in das Gleisfeld ein, das ich wenig später aus dem vierzehnten Stock des Hotels Granvia sehen werde, mit drei schmuddeligen Lokalzügen in diese Richtung und dem grellweißen Shinkansen in die andere, und viele Leute werden sich verneigen in dieser phantastisch schönen, gewaltigen und lieblichen Bahnhofswelt, sie werden sich voreinander verneigen und gegeneinander und vor der Leere, und meine kleine Tochter wird den Kopf noch tiefer neigen, bis zum Teppichboden, den auch schon ihre Handflächen berühren, und sie wird einen Purzelbaum schlagen inmitten der disziplinierten Förmlichkeit, an die sich die Leute, kaum einer verzieht die Miene, weiterhin halten werden, als sich das Mädchen grinsend vor ihren glänzenden Schuhen aufrappelt.
Ukifune vor der Brücke mit Betonmischwagen und Autobus
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LITERATUR
Die einzige lieferbare deutsche Ausgabe des Genji-Romans ist eine Übersetzung der veralteten und lückenhaften amerikanischen Übersetzung von Arthur Waley (Murasaki Shikibu: Die Geschichte vom Prinzen Genji. Frankfurt am Main, Insel 1995). Vergriffen ist Oscar Benls 1966 im Manesse Verlag erschienene Übersetzung aus dem Japanischen. Gute Übersetzungen in englischer Sprache gibt es von Edward Seidensticker (1976) und Royall Tyler (2001).
FOTOS
Nr. 1 wurde von Ryuta Kobayashi aufgenommen, die übrigen von Leopold Federmair.
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Leopold Federmair – Bio-Bibliographie
Bisher auf in|ad|ae|qu|at :
- Entrückung – Fabjan Hafner auf den slowenischen Spuren Peter Handkes ( Besprechung ) | espace d’essays |
- Genies , Geheimfiguren und gewandte Schreiber . Über die neue argentinische Literatur und einige Vorläufer | espace d’essays |
- Eine Reise nach Matsuyama
- Hiroshima – Ein Gespräch über Bäume
- Der Schatten über Yukikos Auge ( Junichiro Tanizaki : Sasameyuki )
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