Leseprobe:
Philipp Kuhn setzte einen Fuß vor den anderen. Es war so einfach zu gehen, wovor hatte er sich gefürchtet? Die Gropiusgasse entlang bis zur KüblerÂRossÂStraße, dann durch das MachiavelliÂTor in den Naumannpark.
Die Luft war zu warm für Ende September. Ein Pärchen lag auf der Wiese, das Mädchen hatte seinen Kopf auf den Bauch des Jungen gelegt. Ihre Körper bildeten ein perfektes T.
Um einen Teich waren Bänke in UÂForm arrangiert. Eine Frau zerbröselte Kuchen, um ihn an die Vögel zu verfüttern. Sie warf die Brösel in die Luft und gurrte wie eine Taube. Als Kuhn an ihr vorbeiging, hob sie den Blick, sah aber nicht ihn an, sondern das Bild, das er mit sich trug. Es war ein gerahmter Kunstdruck und zeigte einen Männerkopf mit blendend weißem Turban, makellos, als sei er aus Porzellan. Am Teich gab es einen Kiosk. Kuhn kaufte Limonade. Trank im Stehen, das Bild stellte er auf einen Stuhl. Der Verkäufer stapelte Magazine auf dem Tresen. Das Radio lief. Und wenn ich sterb, ich sterb für dich. Und wenn ich wein, ich wein um dich. Der Verkäufer pfiff die Melodie mit.
Kuhn war der einzige Gast. Die Limonade war eiskalt, sein Magen krampfte. Er kramte in seinen Hosentaschen, bis er den Blister fand, drückte das letzte Digestopax heraus und schluckte es mit Limonade hinunter. Die vergangenen Tage war er nachlässig gewesen. Hatte unregelmäßig gegessen, die Tabletten nur genommen, wenn er daran gedacht hatte, und er hatte selten daran gedacht.
»Der schaut aber streng«, sagte der Verkäufer und deutete auf das Bild. »Sind Sie das?«
Kuhn schüttelte den Kopf. Der Mann auf dem Bild war viel älter als er. Zehn, fünfzehn Jahre, mindestens.
»Das ist Adam«, sagte er. Der Maler hatte sich über Jahrzehnte selbst gemalt, und sein Adam war mit ihm gealtert. Auf diesem Bild war das Gesicht zerfurcht, die Haut gelblichÂgrau, die Wangen eingefallen, wulstige Lippen über dem vorspringenden Kinn. Er wirkte ausgezehrt, sein Blick aber war selbstbewusst, beinahe arrogant.
»Der mit Eva und dem Apfel?«, fragte der Verkäufer.
»Ein anderer«, sagte Kuhn.
»Dann kenn ich ihn nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte er. Wer konnte schon behaupten, einen anderen zu kennen, selbst wenn er ihn täglich sah. Die Taubenfrau gurrte, als Kuhn nach dem Bild griff und ging.
Vera hatte Adam nie leiden können. Sie verbannte ihn ins Kinderzimmer, in dem niemals ein Kind schlafen würde. Ein Zimmer, das sie kaum je betraten. Als er sie fragte, ob ihr das Bild nicht gefiel, sagte sie, dass sie sich vor Adams Blick fürchte. Sie war eine miserable Lügnerin.
Das Bild war der erste Gegenstand, den Kuhn in Veras Villa mitgebracht hatte, und nun war es das letzte, was er von dort mitnahm. Viel war es ohnehin nicht gewesen. Sein Ehrgeiz als Mann und Liebhaber bestand darin, keine Lasten anzuhäufen. Keine Kinder, kein gemeinsames Eigentum, keine Verpflichtungen.
Abgesehen davon war das Bild das Einzige, was er noch besaß, wenn man die beiden Kisten abzog, die er bereits in der Vorwoche aus der Villa geschmuggelt und bei Myriam untergebracht hatte: zwei Kartons mit Kleidern und Papieren, ganz zuunterst die Tabletten gegen den Reflux und die Sparbücher mit dem Überbrückungsgeld.
Allmählich ging die Villengegend in eine Mietshauslandschaft über. Das Grün vor den Häusern wurde struppiger, die Autos schäbiger, das Klingeln der Straßenbahnen klang aggressiver. Auf den Dächern drängten sich Satellitenschüsseln aneinander. In den Thujahecken nisteten Gespinstmotten.
Vor der Dominikanerinnenkirche saß ein Bettler auf einer Decke. Auf einem Karton stand: FÜR LOTTO. Die Leute lachten, wenn sie vorbeigingen, einige warfen Münzen in den Pappbecher. Eine junge Touristin ließ sich mit dem Bettler fotografieren. Er legte seinen Arm um sie und strahlte, als hätte er schon gewonnen.
Auch Kuhn fühlte sich wie ein Gewinner. Hätte man ihn in diesem Moment gefragt, ob er glücklich sei, hätte er geantwortet: Noch nie war ich so erleichtert. Es war nicht zum Eklat gekommen. Er hatte damit gerechnet, dass Vera weinen würde. Ein verhaltenes Schluchzen wenigstens, die zitternde Hand auf den Mund gepresst, zerronnene Schminke, sowas in der Art. Er hatte befürchtet, dass sie versuchen würde, ihn zu schlagen, er wäre auf alles vorbereitet gewesen, hätte ihr Handgelenk gepackt, ihren flatternden Puls unter seinen Fingern. Vera. Bitte.
Aber sie hatte nur die Lippen aufeinandergepresst, und an ihrem Hals war eine bläuliche Ader hervorgetreten, die ihm zuvor nicht aufgefallen war.
Er hatte sie nicht angelogen, aber er hatte die Wahrheit vorsichtig dosiert. Und Myriam nicht erwähnt, kein Wort von Myriam. Nicht eine Silbe.
(S. 9ff)
© 2017 Aufbau Verlag, Berlin