Leseprobe:
Großmutters Haus lag mitten im Wald. Gleich einer einsamen Wolke am weiten Himmel. Die Wiese ums Haus war aufgerissen von den Hauern der Wildschweine, der Komposthaufen durchzogen von den Gängen der Wühlmäuse und der Hochstand am Rand der Lichtung vermorschte, seit Großmutter ihn eigenhändig umgesägt hatte. Der Jäger mit seinem Geballere war ihr auf die Nerven gegangen.
Das Forsthaus, an dessen sonniger Vorderseite ein Kräuter- und Blumengarten angelegt war, gehörte nicht ihr. Doch Großmutter residierte geradezu kunstvoll darin und verfuhr mit dem Grafen, dem es gehörte, zuweilen hemdsärmelig, zuweilen damenhaft keck und jedenfalls in einer Art, als könnte der Graf von Glück reden, dass es ihm überhaupt gestattet war, sie zu besuchen ab und zu.
Großmutter war vielseitig und wandlungsfähig. Wenn sie von einem ihrer Rundgänge aus dem Wald heimkehrte, dreckverschmiert und in geflicktem Zeug, wirkte sie mitunter wie eine Hexe, deren undurchsichtiger Blick es ratsam erscheinen ließ, ihr auszuweichen. Am selben Nachmittag jedoch konnte sie im eleganten Kleid auf der Veranda erscheinen, mit makelloser Frisur, einnehmendem Augenaufschlag und Lippen, so tiefrot wie Kirschen an einem vielversprechenden Sommerabend.
Mir schien, Großmutter tat nicht nur stets, wonach ihr der Sinn stand, sie entschied auch in jedem Augenblick, wer sie sein wollte. Als besäße das Gestern keinerlei Besitzansprüche an sie. Als wäre sie an nichts gebunden, weder an ihr Alter noch an ihr Geschlecht, weder an ihre Zukunft noch an ihre Herkunft, ja als wären selbst die Naturgesetze nur dazu da, dass Großmutter mit ihnen umsprang, wie es ihr gefiel. […]
(S. 7f)
© 2019 Picus Verlag, Wien.