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In Memoriam Ruth Klüger (1931-2020)

Am 9. Dezember 1992 stellte Ruth Klüger im Literaturhaus in Wien-Neubau, dem Biotop ihrer Kindheit, ihre Autobiografie vor. Sie las zum ersten Mal in ihrer Geburtsstadt aus dem Buch "weiter leben. Eine Jugend". Im Hörbuch "Und ich wusste, dass ich hier nicht bleiben würde" (2003) sind Momente dieser Lesung von Ruth Klüger mit ihrer unverwechselbaren, eindringlichen Stimme festgehalten.

"weiter leben" erzählt von der Jugend als Tochter einer jüdischen Arztfamilie in Wien. Unter dem Druck antisemitischer Verordnungen und terroristischer Gesetze bricht der Schutzraum einer bürgerlichen Wiener Adoleszenz brutal auf. 1942 wird sie mit der Mutter nach Theresienstadt deportiert, 1944 nach Auschwitz und nach Christianstadt, einem Außenlager von Groß-Rosen. 1945 gelingt den Frauen bei der Evakuierung des Lagers die Flucht. Ruth Klüger beginnt noch in Deutschland zu studieren, emigriert 1947 mit der Mutter in die USA, wo sie am Hunter College Anglistik studiert und als Bibliothekarin an der New York Public Library arbeitet. Mittlerweile alleinerziehende Mutter zweier Kinder, promoviert sie über das barocke Epigramm und schlägt eine Universitätslaufbahn ein, die sie als Professorin für Germanistik über Berkeley und Princeton an die University of California in Irvine führt.

Das Besondere an diesem "späten" Erinnerungsbuch ist, dass Ruth Klüger den historischen "Rohstoff" entlang der Zeitachse gestaltet – ihr Text steht im Kontext von 50 Jahren Literatur, Forschung und politischer Debatten zum Thema Holocaust. Sie gibt dem Erzählten eine "Erinnerungsstruktur", die in der Verschränkung von Erinnertem und Erlebtem besteht. Durch ihr lakonisches, distanziertes Erzählen stellt sie die Frage nach der "Wahrheit" in schonungsloser Weise. Das Buch zwingt jede Leserin, jeden Kritiker, sich Auschwitz zu stellen, blockiert aber die Routine, mit der das oft geschieht: vereinfachend oder moralisch hochgestimmt darüber zu reden. Das Buch ist eine "nimmermüde Erinnerungskritik", sagt Martin Walser, es stellt "Trost nicht bereit".

In einer Auflage von 2.500 Stück im damals unbekannten Göttinger Kleinverlag Wallstein erschienen, stieg der Verkauf von "weiter leben" nach der Besprechung im Literarischen Quartett noch 1993 auf 80.000 Stück, das Buch war Anfang der 2000er-Jahre in einer Auflage von 200.000 Stück verbreitet. 2008 wurde es im Rahmen der Wiener Gratisbuchaktion "Eine Stadt. Ein Buch" in 100.000 Exemplaren verteilt. Vielfach übersetzt, ist das Buch heute Schullektüre und zählt zu den wichtigsten Werken der Holocaust-Literatur. Zur englischen Ausgabe 2001 schrieb Lore Segal, wie Ruth Klüger eine Überlebende des Holocaust aus Wien, das Nachwort. Sie macht auf eine fehlende Nuance im Titel "Still Alive" aufmerksam, die im Original gegeben ist und dieses auch grundiert, nämlich "going on living" – Weiterleben nach dem Überleben.

Ruth Klüger hat die 1990er-Jahre als Jahre der "Besinnung und Bestandsaufnahme" bezeichnet. Vorangegangen waren zwei Jahrzehnte germanistischer Forschung auf "historisch neutralem Boden", wie sie sagt: Arbeiten zur deutschen Literatur des Barock, des 18. und 19. Jahrhunderts, zu Kleist und Lessing, die man im deutschsprachigen Literaturbetrieb erst zur Kenntnis nahm, als Ruth Klüger als Schriftstellerin bekannt wurde. Zeitweise in Göttingen lebend, schlug sie in der Folge eine Laufbahn als gefragte Essayistin, Kolumnistin, Interpretin und Rezensentin für große Blätter – Süddeutsche Zeitung, Literarische Welt oder Frankfurter Allgemeine Zeitung – ein. Sammlungen wie "Katastrophen" (1994), "Von hoher und niedriger Literatur" (1996), zuletzt "Gegenwind" (2018) erschienen. Für wichtige Texte aus dem Umkreis von NS-Verfolgung und Vertreibung setzte sie sich in Nachworten ein, etwa für Neuauflagen von Ilse Aichingers "Die größere Hoffnung" (2000) oder Fred Wanders "Der siebente Brunnen" (2005).

Undogmatisch, schwungvoll und mit spürbarem Vergnügen nahm sich Ruth Klüger der Lektüre von Frauen und der Literatur von Frauen an, nachzulesen etwa in "Frauen lesen anders" (1996) und "Was Frauen schreiben" (2010). Sie wählt nach Gutdünken und Vorlieben aus, immer mit dem Blick der Überlebenden. Sie schätzt Bücher, die von Toleranz, Vorurteilsfreiheit, Multikulturalität und Gerechtigkeitssinn erzählen. Verfolgte und vergessene Autorinnen wie Lenka Reinerová oder Regina Ullmann sind dabei, Nobelpreisträgerinnen wie Herta Müller oder Bestsellerautorinnen wie Joanne K. Rowling. Ruth Klüger zeigt keine Berührungsängste, was Nationalität, "Sprechhöhe", Genre oder Thema betrifft. Sie lässt uns teilhaben an ihren Lektüren über Frauen in Krisen, über Kinder, Mütter, Großmütter und Bräute, über dysfunktionale Familien, Außenseiterinnen und Frauen mit hohem Maß an Selbstbestimmung, Frauen aus ethnisch oder sprachlich "verunsicherten" Zonen wie Israel, Südafrika oder dem Balkan.

Ruth Klüger, von Österreich mit großen Preisen und Auszeichnungen dekoriert, hat die Ambivalenz gegenüber der Stadt ihrer Vertreibung im Bild der "Exil-Touristin" festgehalten, die "an der Aussprache erkennbar ist als Einheimische", sich aber hier nur vorübergehend aufhält. Sie hat Wien oft besucht und war auch vier Mal als Vortragende im Literaturhaus Wien. Am 6. Oktober 2020 ist sie in Irvine, Kalifornien, verstorben.

Ursula Seeber, Oktober 2020

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