Hörbuchoriginalveröffentlichung
ungekürzte Autorenlesung mit einem Audio-Interview mit Robert Menasse
ISBN 978-3-455-30595-1
Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag, 2008
Der Hungerwinter in Amsterdam 1944/45. Die Königliche Familie ist in England im Exil. Die Menschen im Norden des Landes leiden immer noch und immer mehr unter der deutschen Besatzung; die Hoffnung Arnheim ist verschütt gegangen, die Brücke gesprengt und verloren, die nationale Befreiung nur mehr Idee und der Winter streng, Nahrungsmittel fehlen, Zehntausende sterben an Unterernährung und Kälte. Plünderungen, Morde sind an der Tagesordnung, Seelen sind käuflich und die Nazis toben sich aus. Kurz: Es ist die Hölle.
Im Amsterdamer Zoo aber verstecken die dort arbeitenden Wärter während dieser Zeit über 200 Menschen im Affenhaus und anderen Bauten. Juden, Sozialisten, Dissidenten, später auch Deserteure der Deutschen Wehrmacht. Eine extreme, dreckige Geschichte, die im Gegensatz zu anderen zumindest gut ausgeht, die meisten der Menschentiere überleben.
"Das Ende des Hungerwinters" ist eine Hörbucherstveröffentlichung, das heißt, man hat die Worte im Ohr und den Text nicht zur Hand. Das ist interessant, weil Interpretation und Text zusammen eine Einheit bilden. Der Klang der Sprache wird ins akustische Zentrum gerückt, die inhaltlichen Bilder quasi auditiv erzeugt, was für mich persönlich eine unmittelbarere Wirkung hat, als wenn man einen Text "nur" liest und dabei immer die eigene Stimme mitschwingt. Die Sprache ist gestaltet, sie ist interpretiert. In dieser Produktion folgt man der schnarrenden Stimme des Autors, taucht in seine Welten ein, er ist sozusagen bei mir zu Hause. Das ist dramaturgisch schön gedacht und es macht durchaus Spaß, sich so einem Text hinzugeben.
Im Interview am Schluss des Hörbuches antwortet Robert Menasse auf die Frage, wie die Geschichte denn zu ihm gekommen sei, dass ihn ein - vielleicht - Betrunkener in einem Amsterdamer Café mit dieser Episode unangenehm sabbernd angelabert hätte: Dass dessen Vater als Kind im Zoo versteckt bei den Affen überlebt hätte und dass das ihn, Menasse, nicht mehr losgelassen hätte und er eigentlich vor diesem Besoffenen geflüchtet sei und er aber am nächsten Tag seinen Freund und Direktor des Jüdischen Museums getroffen und dieser ihm bestätigt hätte, dass diese Geschichte wahr ist.
Und nach einigen Recherchen, so Menasse, und mit Hilfe seiner "empathischen Phantasie" (Menasse über Menasse) sei dann diese Parabel entstanden.
Diese Empathie ging dann gleich soweit, dass er diese Geschichte zu seiner eigenen macht, indem er selbst liest und als Ich-Erzähler seinen Grossvater in Amsterdam sterben lässt und während dem Leichenschmaus in einer Kneipe seinem Vater zuhört, wie dieser sich - vermeintlich - betrinkend vor der ganzen Trauerfamilie das schon hundertmal Erzählte wieder zelebrieren will:
Wie er als fünfjähriger im Affenhaus des Zoos mit seinen Eltern überlebt hatte. Vater weiss, dass er damit trumpfen kann. Die Penetranz, mit der er sich ins Zeug legt, wird unerträglich. Seine Kulturlosigkeit, die sich offenbart, auch. Eine ungustiöse Gesellschaft soll hier seziert werden. Das ist literarisch zweifellos gelungen, die Geschichte beginnt tatsächlich zu nerven.
"Der Affe brachte uns das Essen", sagte mein Vater, machte eine Pause, "und ein Buch". Jetzt wie immer die längere Kunstpause. "Das war meine erste bewusste Erinnerung." So die ersten Sätze des Vaters im Hörbuch.
Pause, dann längere Kunstpause. Nachdem man sich in die Geschichte eingehört hat, geschieht aber etwas Seltsames und etwas eigentlich sehr Einfaches: Das Ende des (historischen) Hungerwinters weicht einem neuen (moralischen): Robert Menasse erlaubt sich, ausgehend von einer verrückten, aber an sich honorablen Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg eine äusserst kritische und böse Betrachtung des modernen, maroden Kleinbürgertums, das sowohl die historische wie die familiäre Geschichte umschreibt oder verdrängt, mit Schuld und Täterschaft nicht umzugehen weiß, von Anstand keine Ahnung hat und die (üblichen) Leichen im Keller liegen hat.
Er überhöht die Bitterkeit des familiären Leichenschmauses so sehr, dass er, der Enkel, ob der Erkenntnis all der Verlogenheit und des Schlechten und des Selbstgefälligen im Menschen sich übergeben muss und dies während er seine beim Leichenfest aus familiären Gründen nicht anwesende Frau übers Handy zu erreichen versucht, so dass das Erbrechen sogar auf ihrem Anrufbeantworter aufgenommen wird! Welch ein Horror aber auch! "Komm nach Hause, jetzt", schickt sie ihm eine SMS.
Die zynische Überhöhung der Geschehnisse während dieses Leichenschmauses sind auf der einen Seite absurd, auf der anderen aber hinlänglich bekannt. Die Dimensionen der Geschichte gehen verloren, es entsteht ein seltsames Gefühl der Überflüssigkeit. Vom vollen Zorn, mit dem Menasse diese Geschichte gemäß Klappentext vorgetragen haben soll, habe ich persönlich wenig gespürt, sie wirkt auf mich mehr wie eine lieblos geschnittene Sommersonntagslesung für agile Moralisten. (Das mag durchaus - auch - an der Audio-Technik liegen.)
Ich habe Robert Menasse als lustvollen Zyniker und Gedankenspinner, als zuweilen verrückten Hirnöffner schätzen gelernt, aber diese seine Geschichte ist durchsichtig, fett- und salzlos geraten, eine inhaltliche Diät quasi, aber durchaus elegant formuliert.
Es beschleicht einen das seltsame Gefühl, dass sich der Autor ein ganz klein wenig zu fest gefallen hat, und die Regisseurin Gabriela von Sallwitz ein klein wenig zu wenig dagegen getan hat.
P.S.: Der Affe brachte das Essen wirklich damals, so wie die Affen mit den Wärtern auch rauchten und Bier tranken, das ist historisch verbürgt. Welches Buch der Affe gebracht hat, erfährt man übrigens nicht.
Stefan Weber
27. Oktober 2008
Originalbeitrag
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