...im Rahmen der Literaturhaus-Ausstellung 2006.
BIOGRAFISCHE ÜBERSICHT
Geboren am 28. April in Jicin in Böhmen.
1877 Übersiedlung der Familie nach Wien.
1880 bis 1892 Besuch der Volksschule und des Gymnasiums in Weidlingau und Wien.
1891 Erste Theater- und Vortragserfahrungen.
Am 24. Oktober stirbt Kraus' Mutter.
1892 April: erste Veröffentlichung (eine Rezension von Gerhart Hauptmanns "Die Weber" in der 'Wiener Literatur-Zeitung'); weitere Arbeiten für Zeitungen und Zeitschriften.
Am 21. Oktober findet der erste Vortrag "Im Reiche der Kothpoeten" statt.
Beginn der freundschaftlichen Korrespondenz mit Detlev von Liliencron.
Immatrikulation auf der Juridischen Fakultät der Universität Wien.
Kraus ist häufiger Gast im Café Griensteidl; Bekanntschaft mit den dort verkehrenden 'modernen' Autoren (Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Felix Salten, u. a.).
1893 Kraus tritt am 14. Jänner in einem Vorstadttheater auf; es ist kein Erfolg.
Kraus trägt Hauptmanns "Die Weber" in Bad Ischl, Berlin und München vor.
1894 Wechsel zum Studium der Philosophie und Germanistik.
Nach einem Konflikt mit dem Vater wohnt Kraus kurze Zeit nicht bei den Eltern.
Beginn der Freundschaft mit Peter Altenberg.
1896/1897 Ab 15. November 1896 erscheint die Satire "Die demolierte Literatur" in der 'Wiener Rundschau', 1897 als Broschüre (5 Auflagen). Dem Erfolg beim Publikum stehen Streit und Feindschaft mit den Dargestellten gegenüber.
1898 Wesentlicher Mitarbeiter der eben gegründeten Wiener Zeitschrift 'Die Wage'.
Abbruch des Studiums.
"Eine Krone für Zion. Satirische Streitschrift gegen den Zionismus und seine Propheten".
Kraus entwickelt Pläne zu einer eigenen Zeitschrift, beraten von Maximilian Harden, Hugo Heinemann, Karl Rosner u. a.
1899 Anfang April erscheint die erste Nummer der Zeitschrift 'Die Fackel', herausgegeben von Kraus im Verlag von Moriz Frisch.
Kraus wird in der Nacht vom 10. zum 11. Mai von Journalisten überfallen und blutig geschlagen.
In der 'Fackel' schreiben zahlreiche Mitarbeiter, etliche davon anonym.
1899 Beginn der persönlichen Beziehung mit der Schauspielerin Annie Kalmar.
Am 12. Oktober "Austritt aus dem Judenthume".
1900 5. April: Tod des Vaters.
Kraus wohnt nicht mehr bei der Familie.
1901 Am 22. und 23. Februar Gerichtsverhandlung Kraus gegen Hermann Bahr und Emmerich Bukovics, denen Kraus in der 'Fackel' Korruption vorgeworfen hat; Kraus verliert diesen Prozeß.
Im Lauf seines Lebens führt er zahlreiche Prozesse gegen Personen und Medien.
Am 2. Mai stirbt Annie Kalmar in Hamburg.
Von Juli bis September reist Kraus nach Norwegen und Dänemark.
Im Herbst trennt sich Kraus von Moriz Frisch. Neuer Drucker der 'Fackel' wird Jahoda & Siegel.
1902 Im September erscheint der richtungsweisende Essay zu Justiz und Sexualmoral "Sittlichkeit und Kriminalität".
1903 Ab Herbst beginnt Kraus, literarische Beiträge in der 'Fackel' zu veröffentlichen, darunter Texte von Frank Wedekind, Otto Stoessl und August Strindberg.
1904 Im Juli erste Begegnung mit Helene Kann, einer der lebenslangen Freundinnen..
Im Herbst beginnt Kraus' Freundschaft mit Ludwig von Janikowski.
1905 29. Mai: Von Kraus veranstaltete Aufführung des Stücks "Die Büchse der Pandora" Frank Wedekinds, bei der beide Autoren mitspielen.
1906 Kraus druckt seine ersten Aphorismen. In der 'Fackel' kommen vermehrt junge Autoren zu Wort, z. B. Albert Ehrenstein, Karl Hauer, Otto Soyka und Berthold Viertel.
1907 Der Essay "Maximilian Harden. Eine Erledigung" rechnet mit dem Vorbild ab; Kraus mißbilligt grundsätzlich Enthüllungen aus dem Privatleben, wie dies Harden in seiner Berliner Zeitschrift "Die Zukunft" getan hatte.
1908 Im Februar erscheint die erste Sammlung von Kraus' Essays als Buch unter dem Titel "Sittlichkeit und Kriminalität".
1908 bis 1910 Kraus publiziert in den Münchner Zeitschriften 'Simplicissimus' und 'März'.
Im Oktober erscheinen "Prozeß Veith" (auch als Sondernummer der 'Fackel') und "Apokalypse".
1909 Kraus' erste Sammlung von Aphorismen "Sprüche und Widersprüche", die großteils zuvor in der 'Fackel' zu lesen waren, erscheint als Buch.
Am 1. November stirbt der Bruder Richard Kraus.
1910 bis 1936 Beginn der Serie von 700 Vorlesungen, die Kraus ab Herbst 1925 Theater der Dichtung nennt.
1910 Kraus lernt Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden, den Herausgeber der Zeitschrift 'Der Sturm', kennen. Die Zusammenarbeit dauert bis Juni 1912.
"Heine und die Folgen", zuerst eine eigene Publikation über den Wegbereiter des feuilletonistischen Stils, dann ein Beitrag in der 'Fackel'.
"Die chinesische Mauer", Ausgewählte Schriften Band 3, enthält zuvor in der 'Fackel' erschienene satirische Prosa.
1911 Freundschaft mit dem jungen Kunsthistoriker Franz Grüner, der einen wichtigen Aufsatz über Kokoschka in der 'Fackel' veröffentlicht.
Im März beginnt die erste Polemik gegen Alfred Kerr ("Der kleine Pan ist tot").
Am 8. April läßt sich Kraus in der Karlskirche in Wien taufen, Taufpate ist Adolf Loos.
Ab Dezember nimmt Kraus in der 'Fackel' keine Beiträge von anderen Autoren mehr auf; er verfaßt die Beiträge der Zeitschrift - von längeren Zitaten abgesehen - alleine. In immer strengeren Worten ersucht Kraus, Einsendungen zu unterlassen.
1912 Beginn der Bekanntschaft mit dem Herausgeber Ludwig von Ficker und Mitarbeitern seiner Innsbrucker Zeitschrift 'Der Brenner'.
"Pro domo et mundo", die zweite Sammlung mit Aphorismen, kommt als Buch heraus. Der Vortrag "Nestroy und die Nachwelt" erscheint in der 'Fackel'.
Die Freundschaft mit Franz Janowitz beginnt.
Erste Begegnung mit dem Verleger Kurt Wolff.
1913 Anfang einer lebenslangen, konfliktreichen Liebe zur böhmischen Adeligen Sidonie Nádherný von Borutin.
Kraus beginnt Gedichte zu schreiben.
1914 bis 1918 Kraus schreibt gegen den Krieg.
1914 Im Sommer erscheint ein Nachruf auf den ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand. Das nächste Heft der 'Fackel' kommt erst im Dezember heraus und enthält den programmatischen Essay "In dieser großen Zeit".
1915 Nach längerer Unterbrechung erscheint 'Die Fackel' ab Oktober 1915 wieder häufiger.
Beginn der Arbeit an Texten für das Theaterstück "Die Letzten Tage der Menschheit". Erste Teile erscheinen in der 'Fackel'. Erste von mehreren Reisen mit Sidonie Nádherný in die Schweiz, wiederholte Aufenthalte im Thierfehd am Tödi.
Der Verlag der Schriften von Karl Kraus (Kurt Wolff), München wird gegründet.
1916 Vorlesungen gegen den Krieg, unter anderem Texte von Shakespeare.
'Die Fackel' wird mehrmals beschlagnahmt; Texte werden auf Anordnung der Zensur entfernt.
1917 Der erste von neun Gedichtbänden "Worte in Versen" erscheint.
Kraus' "edle Freundin" Elisabeth Reitler begeht Selbstmord.
Franz Grüner und Franz Janowitz fallen im Weltkrieg.
1918 Die Rede "Für Lammasch" am 27. März zieht wegen des Lobs für einen regierungskritischen Politiker polizeiliche Verfolgung nach sich. Bruch mit Sidonie Nádherný.
Im November zerfällt die Monarchie Österreich-Ungarn. In Wien wird die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen.
Mit dem Text "Nachruf" signalisiert Kraus seine Zustimmung zur neuen Republik.
"Die letzte Nacht", Epilog zu "Die letzten Tage der Menschheit", erscheint als Sonderheft der 'Fackel'.
1919 Am 8. Jänner stirbt Peter Altenberg; Kraus hält die Grabrede.
"Die letzten Tage der Menschheit" erscheinen als Sonderhefte der 'Fackel' ("Aktausgabe"). In "Weltgericht" publiziert Kraus gesammelte Kriegsaufsätze. Im April zieht Kraus ein Resumé seiner Arbeit in der 'Fackel': "Nach zwanzig Jahren".
1920 Im Februar wird eine Vorlesung Kraus' in Innsbruck verhindert, verbunden mit einer antisemitischen Hetzkampagne.
Erste Vorlesungen für Arbeiter in Wien.
1921 Versöhnung mit Sidonie Nádherný, Besuche in Böhmen auf ihrem Schloß Janowitz, in Kuchelna bei Mechtilde Lichnowsky und in Pottenstein bei Mary Dobr`zenský.
Kraus schreibt "Literatur oder Man wird doch da sehn" als satirische Antwort auf Werfels polemisches Stück "Spiegelmensch".
Ende der Zusammenarbeit mit Kurt Wolff. Kraus bringt seine Bücher im eigenen "Verlag der ,Fackel'" heraus.
1922 Im Rahmen der Vorlesungen wird zum ersten Mal ein Nestroy-Zyklus angesetzt.
1923 "Wolkenkuckucksheim", Berthold Viertel gewidmete Komödie in Versen.
Im Februar wird "Die Letzte Nacht" in Wien und Brünn aufgeführt, die Vorstellung in Prag jedoch verhindert, indem die Benützung des Theatersaals verweigert wird.
Am 7. März Austritt aus der katholischen Kirche.
1924 Im Jänner beginnt die Polemik Kraus' gegen den Zeitungsherausgeber und Erpresser Imre Békessy.
"Traumstück" (1922) und "Traumtheater" (1923) werden unter der Regie Berthold Viertels in Berlin am 25. März und in Wien am 29. April aufgeführt.
Im Juli wird die Aufführung der "Letzten Nacht" in Teplitz-Schönau verhindert. "In dieser kleinen Zeit..." erscheint im August in der 'Fackel'.
1925 Die Schrift gegen Békessy "Hinaus aus Wien mit dem Schuft!" erscheint in der 'Fackel', als Sonderdruck und als Plakat, dessen Affichierung in Wien von der Plakatierfirma verweigert wird.
1925 Vorlesungen in Paris. Kraus wird für den Nobelpreis vorgeschlagen.
1926 Erste Vorlesungen von Operetten von Jacques Offenbach. Beginn der Polemik gegen Alfred Kerr wegen seiner Kriegslyrik.
Békessy entzieht sich der drohenden Verhaftung durch Abreise nach Paris.
Am 24. November stirbt der Drucker und Verleger Georg Jahoda; sein Sohn Martin folgt ihm nach.
1927 In Wien werden am 15. Juli (Brand des Justizpalasts) über neunzig Demonstranten und Passanten erschossen. Kraus wirft dem Wiener Polizeipräsidenten Schober vor, die Eskalation herbeigeführt zu haben.
Prozeß gegen Alfred Kerr in Berlin.
1928 Im März und April Vorlesungen in Berlin.
Kraus thematisiert im Stück "Die Unüberwindlichen" die Korruption um Békessy und Schober.
In "Der größte Schuft im ganzen Land..." publiziert er die Akten zum Fall Kerr, ein 208 Seiten starkes Heft der 'Fackel'.
1929 Im April erscheint "Nach dreißig Jahren", Kraus' skeptischer Blick auf die Wirkung kritischer Unternehmungen wie 'Die Fackel'.
Die 500. Vorlesung findet in Wien statt.
"Die Unüberwindlichen" werden in Dresden und Berlin aufgeführt und trotz guter Kritiken nach einer Intervention der österreichischen Botschaft vom Spielplan abgesetzt.
1930 15. Jänner: "Die letzte Nacht" wird im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin aufgeführt.
Im Februar und März bringt Kraus Vorlesungen aus dem Stück "Die letzten Tage der Menschheit" an je zwei Abenden in Wien, Berlin und Prag. Die Sender-Gruppe Berlin produziert Operetten von Jacques Offenbach in der Bearbeitung von Kraus und in seiner Wortregie.
Die Bearbeitung von Shakespeares "Timon von Athen" wird unter Kraus' Regie am 13. November im Berliner Rundfunk gesendet. Er selbst spricht die Titelrolle.
1931 Am 14. Jänner liest Kraus Gerhart Hauptmanns Stück "Hanneles Himmelfahrt" im Berliner Rundfunk. Im April wird "Perichole" von Offenbach in Kraus' Bearbeitung in der Berliner Staatsoper aufgeführt.
Am 13. November findet in Wien die 600. Vorlesung statt. Der erste Teil des Abends wird von Radio Wien übertragen.
1932 Am 8. Jänner findet die 100. Berliner Vorlesung statt.
Speziell für Radio Wien liest Kraus am 7. Februar zum ersten Mal Goethes "Pandora".
Die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie erreicht mit der Publikation von "Hüben und drüben" in der 'Fackel' einen Höhepunkt. Nach zahlreichen einzelnen Beiträgen, die im Lauf der Jahre in der 'Fackel' erschienen sind, kündigt Kraus ein Werk über "Die Sprache" an. Gleichzeitig bereitet er eine Übersetzung der Sonette von Shakespeare vor ("Sakrileg an George oder Sühne an Shakespeare"); seine Version erscheint 1933 als Buch.
Im Dezember findet die letzte Vorlesung in Deutschland (München) statt.
1933 Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland.
Am 14. März stirbt Kraus' jüngste und Lieblingsschwester Marie Turnowsky.
Die Ärzte konstatieren Herzschwäche bei Kraus, der sich sonst guter Gesundheit erfreute.
In den Monaten Mai bis September arbeitet Kraus an einem umfangreichen Text, der für 'Die Fackel' bestimmt ist, jedoch nicht abgeschlossen und erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel "Dritte Walpurgisnacht" publiziert wird.
Am 23. August stirbt der Freund Adolf Loos.
Im Oktober erscheint nach zehnmonatiger Pause ein dünnes Heft der 'Fackel' mit dem Nachruf auf Loos und dem Gedicht "Man frage nicht", das viele Leser als Unvermögen Kraus', zum Nationalsozialismus Stellung zu nehmen, zu kurz interpretieren.
1934 Im Februar Bürgerkrieg in Österreich.
Errichtung des autoritären Ständestaats durch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß.
Erste schwere Erkrankung Kraus'.
Im Juli erscheinen zwei Hefte der 'Fackel': ein kurzes, "Nachrufe auf Karl Kraus" benannt, und ein 316 Seiten langes mit dem Titel "Warum die 'Fackel' nicht erscheint". In dieses sind Teile aus "Dritte Walpurgisnacht" eingearbeitet.
Kraus kündigt ein Sprachseminar an und nimmt Anmeldungen entgegen.
"Stimmen zum 60. Geburtstag" erscheinen; ein Film, in dem Kraus einige seiner Texte vorträgt, wird zur Geburtstagsfeier am 29. April im Wiener Schwedenkino vorgeführt.
Am 25. Juli wird Dollfuß von nationalsozialistischen Putschisten ermordet. Von ihm hatte sich Kraus hinreichend Abwehr gegen Hitler-Deutschland erhofft.
1934/1935 Kraus publiziert zwei Bände Bearbeitungen von Dramen Shakespeares "für Hörer und Leser".
Am 22. November 1935 findet die letzte öffentliche Vorlesung statt (V 689); die nächsten sind nur gegen Voranmeldung und mit persönlich ausgestellten Karten zugänglich.
1936 Im Februar erscheint das letzte Heft der 'Fackel' (Nr. 917-922).
Kraus wird von einem Radfahrer niedergestoßen. Nach diesem Unfall verschlechtert sich seine Gesundheit ständig.
Die 700. Vorlesung am 2. April wird zugleich seine letzte.
Am 12. Juni stirbt Kraus nach zehntägiger Krankheit.
[Hermann Böhm, Heinz Lunzer]
GEBOREN IN JICIN, BÖHMEN, AUFGEWACHSEN IN WIEN, WEIDLINGAU UND BAD ISCHL
"Es ist ein sauberer Ort, der seine landschaftlichen und kulturellen Reize hat, ehrwürdig als Stätte blutiger Ereignisse und durch die Fülle bedeutender historischer Bauten ..."
['Die Fackel' Nr. 697-705 vom Oktober 1925, S. 167; gemeint ist Jicin]
Karl Kraus wurde am 28. April 1874 in der böhmischen Kleinstadt Jicin (heute in der Tschechischen Republik) geboren. Dort hatte sein Vater Jakob Kraus Ernestine, die Tochter des angesehenen Arztes Ignaz Kantor geheiratet und in kurzer Zeit eine gutgehende Papierfabrik aufgebaut, die auch den Börsenkrach von 1873 unbeschadet überstand.
Im Jahr 1877 übersiedelte die kinderreiche Familie nach Wien; man wohnte in der Innenstadt, zuerst in der Wollzeile 19, dann in der Seilerstätte 13, schließlich in der Maximilianstraße 13. In diesem Haus war bis 1938 der Sitz der väterlichen Firma. Das Unternehmen Jacob Kraus erzeugte und vertrieb Papierwaren und handelte mit Chemikalien zur Papier- und Textilbearbeitung (Ultramarin); es florierte trotz der wirtschaftlichen Krisen im ersten Drittels dieses Jahrhunderts. Die vier älteren Brüder von Karl Kraus waren erfolgreiche und angesehene Wirtschaftstreibende, die vier Schwestern waren mit wohlhabenden Geschäftsleuten jüdischer Herkunft verheiratet.
Die Einkünfte der Firma, die nach dem Tod des Vaters im Jahr 1900 von Karls Bruder Richard geleitet wurde, kamen dem Schriftsteller in Form einer Familienrente in beruhigender Stetigkeit zugute und waren für ihn eine dauernde materielle Absicherung.
Karl war ein eher zartes Kind. Er genoß die besondere Zuneigung der Mutter, die allerdings schon 1891 im Alter von 52 Jahren starb. Der Bub ängstigte sich anfangs vor der betriebsamen Großstadt Wien; enge und breite Straßen gleichermaßen voll Verkehr, doch nahe dem Spielplatz im Stadtpark. Viel angenehmer empfand er die Aufenthalte in Weidlingau im Wiental, deren Naturerlebnisse ihn ebenso begeisterten wie die Berglandschaft in Bad Ischl, wo die Familie ein Sommerhaus besaß. Zu den Orten des Wohlbefindens, des Gefühls für Landschaft, Pflanzen und der Freude an 'Dialogen mit Schmetterlingen' (besonders den "Admiralen") zählte das Hainbachtal im Wienerwald.
In den Urlaubsorten nahe und ferne von Wien lernte Kraus schwimmen, was er mit Vergnügen übte und so gut beherrschte, daß er 1921 - immerhin im Alter von 47 Jahren - Mechtilde Lichnowsky das Leben rettete, als sie beim Schwimmen in der Moldau in einen Strudel geraten war. Und das, obwohl Kraus unter einer leichten Rückgratverkrümmung litt, die er jedoch durch eine sehr bewußte Haltung gut verbergen konnte. Allerdings mußte er sein Leben lang zur Stützung des Körpers ein Lederkorsett tragen.
1880 bis 1884 besuchte Kraus die Volksschule in Wien in der Schellinggasse 11 und zeitweise in Weidlingau, 1884 bis 1892 das k. k. Franz-Josephs-Gymnasium in der Hegelgasse 3. Im Gymnasium war er in den ersten Jahren Klassenbester und schloß bis zur fünften Klasse das Schuljahr stets mit Vorzug ab. Latein und Mathematik zog er den anderen Fächern vor. Lebhafte Eindrücke vermittelte ihm Heinrich Stephan Sedlmayer, sein Lehrer in Deutsch, Latein und Philosophie. Späterer Zwang, insbesondere seitens des Religionslehrers, verleidete dem Schüler das Lernen. Er bestand die Matura ohne Schwierigkeiten, aber mit nur mäßigen Noten.
Wie deutlich Kraus Jugenderlebnisse in Erinnerung behielt, zeigen vor allem die häufigen Erwähnungen und detaillierten Schilderungen früher Theatereindrücke. Kraus besaß ein fabelhaftes Gedächtnis, das ihm zum Beispiel ermöglichte, Details wie die genaue Intonation und Sprechweise von Schauspielern über Jahrzehnte hinweg täuschend echt zu reproduzieren - eine Befähigung, die er auch bisweilen in der Schule, zum Leidwesen der Lehrer und zum Gaudium seiner Mitschüler, ausspielte.
Er bewunderte sein Leben lang die Schauspieler jener Generation, die die siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts bestimmten, darunter Charlotte Wolter, Josef Lewinsky, Ludwig Gabillon, Zerline Gabillon, Adolf von Sonnenthal und Alexander Girardi.
Neben den klassischen Stücken von William Shakespeare, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe, die am Hofburgtheater gespielt wurden, besuchte Kraus begeistert Operetten und Volksstücke, wie sie auf Vorstadtbühnen und in Sommertheatern in Baden bei Wien oder in Bad Ischl gespielt wurden. Hier lernte er Stücke von Jacques Offenbach, Charles Lecoq, Achille Edmond Audran, Ferdinand Raimund und anderen kennen, und hier ist auch der Bezugspunkt zu seinem späteren, leidenschaftlichen Eintreten für Offenbach.
Selbst Theater zu spielen war der lebhafteste Wunsch des Schülers Kraus. Bekannt ist ein Auftritt als Franz Moor in Friedrich Schillers Drama "Die Räuber", der allerdings ein glatter Mißerfolg war. Viele Jahre später erinnert sich Kraus, daß ihn "gleich beim Aufgehn des Vorhangs ein zu weites Kostüm nebst zu weiter Perücke dem Gelächter der anwesenden Freunde preisgegeben" habe (F 912, 1935, 46 f).
Ein günstigeres Echo fanden seine Vorlesungen. Eine der ersten galt modernen Lyrikern wie Detlev von Liliencron und Arno Holz, die von kurzsichtigen Kritikern als "Kothpoeten" verunglimpft wurden. In Bad Ischl und München las Kraus 1893 das Stück "Die Weber" von Gerhart Hauptmann, dessen Aufführung auf einer Bühne Österreich-Ungarns die Zensur verhindert hatte. Er selbst war zur Uraufführung des bahnbrechenden naturalistischen Dramas nach Berlin gereist. Obwohl er mit seinen Vorlesungen durchaus Anklang beim Publikum und auch bei seiner eigenen Familie fand, schloß er diese Tätigkeit bereits Ende 1894 ab, um sie erst 1910 wieder aufzunehmen.
Möglicherweise war die Ursache dafür sein damals schon rasch zunehmender literarischer Erfolg. Denn Kraus fühlte sich trotz seiner Jugend schon durchaus als anerkannter Dichter und Kritiker und bewegte sich auch recht gekonnt auf dem literarischen Parkett. Die frühen Briefwechsel mit Detlev von Liliencron, Peter Altenberg, Emilie Mataja, Karl Rosner und Maximilian Harden geben von seinem künstlerischen Selbstverständnis beredten Ausdruck. Lediglich der Plan einer Satirenanthologie, die Kraus zusammen mit seinem Schulfreund Anton Lindner herausgeben wollte, blieb unvollendet, obwohl schon Briefpapier und Geschäftsstempel angefertigt worden waren.
CAFE GRIENSTEIDL
"Ich hasse und hasste diese falsche, erlogene 'Decadence', die ewig mit sich selbst coquettiert; ich bekämpfe und werde immer bekämpfen: die posierte, krankhafte, onanierte Poesie!"
[Karl Kraus an Arthur Schnitzler, Brief vom März 1893 in: 'Literatur und Kritik' Nr. 49, 1970, S. 517]
Kraus' journalistische Laufbahn begann noch vor der Matura mit einer Rezension der "Weber" in der 'Wiener Literatur-Zeitung' im April 1892. Von da an entfaltete er eine rege Tätigkeit als Berichterstatter, z. B. über Gesellschaft und Theater im Ferienort Bad Ischl, von Theateraufführungen in Wien und anderen Städten, als Rezensent und Satiriker. Er schrieb für Wiener und deutsche Blätter, teils als gelegentlicher Korrespondent, teils regelmäßig. Dabei lernte Kraus die Arbeitsbedingungen von Journalisten kennen, vor allem den Zwang, auf verschiedene Einflußsphären Rücksicht nehmen zu müssen.
Die Universitat Wien bot Kraus wenig Anreiz zu einer wissenschaftlichen Ausbildung. Er hörte einige Semester lang auf der juridischen, dann auf der philosophischen Fakultät, ohne regulären Studienabschluß.
Seit 1892 verkehrte er im Café Griensteidl. Hier, im Treffpunkt der "Wiener Moderne", die vom Schriftsteller und Kritiker Hermann Bahr begönnert und gefördert wurde, machte auch Kraus seine ersten wichtigen Bekanntschaften: mit Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Felix Salten, Peter Altenberg, Richard Beer-Hofmann und Leopold von Andrian. Es waren jene Autoren, die vorwiegend im Magazin 'Moderne Rundschau' publizierten. Doch die Wichtigtuerei Bahrs, sein häufiger Gesinnungswechsel in Kunst und Politik, reizten Kraus bald zu satirischen Angriffen. Bahr, der kleinstädtische "Herr aus Linz", blieb bis an sein Lebensende Zielscheibe von Kraus' Spott und Hohn. Kraus zog in jener Zeit die deutsche Literaturszene der Wiener vor. Sie faszinierte ihn durch ihr sozialkritisches Engagement, wogegen die Wiener nur l'art pour l'art betrieben. Der Abbruch des Hauses, welches das Café Griensteidl beherbergte, bot Kraus Anlaß zu einer erfolgreichen Satire nach dem Motto "Wien wird zur Großstadt demoliert". Ohne Rücksicht auf Eitelkeiten stellte er die Schriftsteller des "Jung-Wien bloß", karikierte ihr Gehabe und ihre Schriften. Salten fühlte sich so beleidigt, daß er Kraus im Beisein der Kollegen ohrfeigte, was ihm gerichtliche Verfolgung und Bestrafung einbrachte. Die satirische Distanzierung Kraus' von dieser Kollegenschaft führte wohl manchmal zum Zorn der Betroffenen, jedoch in keinem Fall zur "Demolierung" ihrer künstlerischen Entwicklung.
DIE GRÜNDUNG DER "FACKEL"
"Eines Tages, soweit das Auge reicht, alles - rot. [...] Auf den Straßen, auf der Tramway, im Stadtpark, alle Menschen lesend aus einem roten Heft ..."
[Robert Scheu: "Karl Kraus. Zum zehnten Jahrestag des Erscheinens der 'Fackel' (1899-1909)" in: 'Die Fackel' Nr. 277-278 vom 31. März 1909, S. 1f.]
Maximilian Harden (1861-1927), Inbegriff des unabhängigen Journalisten mit einem eigenen Blatt, galt Kraus als ein Vorbild bei der Gründung der 'Fackel'. Wie Harden in Berlin wollte er in Wien die "Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes" beginnen; er beabsichtigte, nicht irgendwelche mehr oder weniger wahre Geschichten zu "bringen", sondern der Korruption (die schlampige Berichterstattung fördert) wirksam zu begegnen, um sie "umbringen" zu können. Vor allem in den ersten Monaten ihres Erscheinens hatte 'Die Fackel' ein enges Verhältnis zur 'Arbeiter-Zeitung', dem Blatt der Sozialdemokraten. Manche Beiträge in der 'Fackel' stammten - anonym oder gezeichnet - von deren Journalisten. Ihr Chefredakteur Friedrich Austerlitz und Kraus waren befreundet; jeder schätzte die Arbeit des anderen hoch ein.
Die Hefte der 'Fackel' hatten anfangs einen Umfang von 24 bis 32 Seiten; jeden Monat erschienen drei Nummern. Schon die erste war sehr gefragt; zwei Auflagen von insgesamt 30.000 Exemplaren wurden rasch verkauft - verglichen mit der durchschnittlichen Auflage der 'Neuen Freien Presse' von 55.000 Exemplaren (1901) war das enorm viel.
Dieser erstaunliche Erfolg beruhte auf den gut recherchierten einzelnen 'Fällen' von Ungerechtigkeit, Korruption und Machtmißbrauch. Sie waren die wichtigen frühen Angriffsziele der Zeitschrift. Moralische Verallgemeinerungen und die Zurückführung der Mißstände auf eine "verwilderte" Sprache wurden in späteren Jahren zum wichtigen Thema, lange nach der schrittweisen Erfahrung Kraus', daß Aufdeckung und Bloßstellung von Ungerechtigkeit in der Öffentlichkeit keineswegs Recht herstelle, etwa durch allgemeine Einsicht und Korrektur des Bewußtseins.
Ziel vieler Angriffe war seit den Anfängen der 'Fackel' die wirtschaftsliberale 'Neue Freie Presse', die mächtigste Zeitung im Land. Sie nahm, über die Rolle des bestinformierten Blattes hinaus, für sich die Eigenschaft einer moralischen Instanz in Anspruch; ethische Postulate hinderten sie jedoch nicht, den redaktionellen Teil mit Inseraten abzustimmen oder vorne für Sittlichkeit einzutreten, hinten Kuppeleiannoncen zu drucken. Aus der Kritik an der Presse entwickelte sich allmählich das für Kraus so bezeichnende insistierende Verweisen auf die 'Verwilderung' der Sprache, für ihn Symptom und Ursache einer Gesellschaft, die ihre geistigen Grundlagen verliert. In der 'Neuen Freien Presse' hatte Kraus in den Jahren 1895 und 1896 einige Artikel publiziert; noch 1898 hatte Harden ihrem Chefredakteur Moritz Benedikt Kraus als Nachfolger Daniel Spitzers empfohlen; nun reagierte sie, wie die meisten anderen Zeitungen, auf die Angriffe in der 'Fackel' mit Boykott. Seit 1899 wurde keine Nummer der Zeitschrift, kein Vortrag, keine Aufführung, die Kraus veranstaltete, von ihr erwähnt. Für Kraus war das keine Beleidigung, sondern der Beweis dafür, wie gefährlich sein Blatt werden konnte, da man sich nicht eloquent, sondern nur durch Totschweigen wehren konnte.
DIE LIEBE ZU ANNIE KALMAR
"Ihre Schönheit steht ihr hinderlich im Wege."
['Die Fackel' Nr. 2 von Mitte April 1899, S. 29]
Die Beziehung zwischen Kraus und Annie Kalmar war kurz, aber sehr intensiv; die von ihm geliebte Schauspielerin starb am 2. Mai 1901 an Tuberkulose, noch nicht 24 Jahre alt. Der Schriftsteller schätzte an ihr, was er an Eigenschaften aus der Welt des Theaters zu idealisieren wünschte: tumultuöses Privatleben, Bohèmeexistenz, Halbwelt, Schönheit, kindliche Naivität, Rollentausch, Exzessivität.
Im zweiten Heft der 'Fackel' brachte Kraus eine kurze lobende Erwähnung der Schauspielerin Annie Kalmar, in der er ihre "ungemein natürliche Humorbegabung" und ihre Schönheit pries. Daraus entwickelte sich bald eine leidenschaftliche Liaison.
Kraus faszinierte an Annie Kalmar vor allem, wie sie verehrt und bewundert wurde, wie sie kokettierte und den Männern den Kopf verdrehte. Während der kaum ein Jahr dauernden Verbindung vermittelte Kraus Annie Kalmar, die am Wiener Volkstheater unter schlechter Regie in mäßigen Stücken kleine Rollen gespielt hatte, an das von Kraus' Bekanntem Alfred von Berger geleitete Hamburger Schauspielhaus. Sie erlebte die Premiere als Maria Stuart nicht mehr. Kraus nahm an der Todeskrankheit von Annie Kalmar schmerzlichen und heftigen Anteil, obwohl er zur gleichen Zeit den Prozeß gegen Emmerich Bukovics und Hermann Bahr wegen angeblicher Verleumdung führen mußte, der ihn viel Energie kostete und den er verlor. Er erhielt täglich telegraphische Meldung aus dem Hamburger Sanatorium über Kalmars Gesundheitszustand, es war ihm aber nicht möglich, sie noch einmal zu sehen.
Kraus besaß zahlreiche Fotos von Annie Kalmar, von denen viele für Verehrer hergestellt worden waren, und schmückte die Wände seiner Wohnung damit; auch ein Modell ihres Grabsteins stand bis zu seinem Tod in seinem Arbeitszimmer.
Nach dem Tod der Schauspielerin mußte er als Verfechter ihrer Ehre hervortreten, da die Wiener Presse beleidigende und schmähende Artikel über Kalmar veröffentlicht hatte - zum Teil schon in den Tagen ihres Sterbens. In dem Prozeß, den Annie Kalmars Mutter gegen die verleumderischen Journalisten anstrengte, sagte Kraus mehrmals als Zeuge aus. Tatsächlich leisteten die verantwortlichen Redakteure der Blätter öffentlich Abbitte; allerdings nicht so sehr aus Reue, sondern weil es für sie am billigsten war. Die Praxis erzwungener Richtigstellung war damals keineswegs leicht zu erreichen; dennoch berichteten nur die 'Arbeiter-Zeitung' und 'Die Fackel' über die "Reue" der 'Wiener Caricaturen' und die Reform des Presserechts, die Kraus in diesem Zusammenhang ansprach.
Ende Juni 1901 sistierte er das Erscheinen der 'Fackel' wegen "totaler Nervenerschöpfung". Der Prozeß und der Tod der fernen Freundin verhinderten eine Weiterarbeit im Sommer. Kraus ging auf eine "grand tour" in den Norden, teilweise alleine, und fuhr und wanderte einige Wochen lang durch Norwegen. Hier entwickelte sich seine Vorliebe für diese Region - die allerdings um die Jahrhundertwende in ähnlich großer Mode stand wie das Reiseland Italien.
Ehe er im Herbst das nächste Heft herausbrachte, begann sein bisheriger Verleger ein Konkurrenzunternehmen unter dem selben Namen, später, von Kraus gerichtlich erfolgreich angefochten, mit den geänderten, aber anspielungsreichen Titeln 'Im Fackelschein' und 'Im Feuerschein'. Von den verschiedenen Plagiatsversuchen konnte sich diese Wochenschrift am längsten halten: Sie wurde erst Anfang 1903 eingestellt.
Kraus gründete im Oktober 1901 den "Verlag der 'Fackel'", und druckte die Zeitschrift von da an bei Jahoda & Siegel, einer Wiener Druckerei, die seine hohen grafischen und satztechnischen Ansprüche zu erfüllen bereit und fähig war.
FREUNDE, FREUNDINNEN -
MITARBEIT AN DER "FACKEL"
"Nicht auf alle kann die 'Fackel' heute stolz sein, mit den geringsten Ausnahmen aber waren sie, soweit ihr Name und ihre Arbeit die 'Fackel' nicht ehrt und schmückt, notwendig, zum mindesten symptomatisch für den jeweiligen Stand des Blattes".
[Ludwig Ullmann: "Die Fackel. April 1899 - März 1910. Elf Jahrgänge", S. 4, Beilage zur 'Fackel' Nr. 300, Ende März 1910]
Die vielseitigen Beziehungen, die Kraus sowohl zur Wiener Gesellschaft als auch zur Literaturszene unterhielt, akzentuierten sich in einem breitgefächerten und schwer definierbaren Spektrum von Schülern, Verehrern, Mitarbeitern und tatsächlichen Freunden, wobei die Grenzen fließend waren. Oft, wie in den Fällen Albert Ehrenstein, Maximilian Harden, Erich Mühsam, Franz Werfel und Fritz Wittels, um nur eine Auswahl zu nennen, hielt die Freundschaft Kraus' Ansprüchen nicht stand, wandelte sich oft in Polemik und Feindschaft. Hermann Bahr und Alfred Kerr bekämpfte er sein Leben lang, während etwa die Beziehung zu Detlev von Liliencron achtzehn Jahre, trotz einer längeren Unterbrechung, unverändert herzlich blieb. Zwiespältiger war das Verhältnis zwischen Kraus und Peter Altenberg, obwohl dessen dichterisches Vermögen wiederholt von Kraus gewürdigt wurde. Altenberg lieferte zahlreiche Beiträge für die 'Fackel', erkor aber Kraus trotz dessen finanzieller Zuwendungen oft zum Opfer seiner rabiaten Angriffe, die von Kraus vielleicht nicht ganz ernst genommen wurden. Die Verbindung zu Adolf Loos wiederum war von Animositäten frei. Kraus unterstützte den angefeindeten Architekten durch mehrere Artikel in der 'Fackel' und verteidigte stets das von Loos verkündete funktionelle Kunstprinzip.
Die ersten zwölf Jahrgänge der 'Fackel' sind ein Spiegelbild der menschlich-literarischen Beziehungen Kraus'. Vor allem von 1906 bis 1912 veröffentlichte er zahlreiche Beiträge jüngerer, bzw. weniger bekannter Autoren. Dazu zählen, neben den oben genannten, Karl Hauer, Egon Friedell, Robert Scheu, Joseph Schöffel, Else Lasker-Schüler, Stanislaw Przybyszewski, Otto Soyka, Otto Stoessl, Berthold Viertel und Frank Wedekind. Für ihre Werke wurde auf den Umschlagseiten der 'Fackel' geworben und für manche, die vom Ertrag ihrer Arbeit nicht leben konnten, zu Spenden aufgerufen. Aber auch bei diesen frühen Mitarbeitern und Freunden ist ein ganz unterschiedliches persönliches Verhältnis zum Herausgeber der 'Fackel' zu konstatieren. Vom umfangreichen, aber emotionslosen, nur literarische Dinge behandelnden Briefwechsel, den Kraus mit Otto Stoessl unterhielt, bis zu den emphatischen brieflichen Äußerungen der Lasker-Schüler, die Kraus mit "Herzog von Wien", "Kardinal", "Duc" und ähnlichen Titeln ansprach, reicht die Palette.
Erich Mühsam wurde von Kraus finanziell unterstützt, distanzierte sich jedoch im Lauf der Polemik gegen Maximilian Harden von ihm. Vielschichtig und vielleicht das treffendste Beispiel dieser frühen changierenden Beziehungen von Freundschaft und Literatentum war die Bekanntschaft mit Karl Hauer. Kraus förderte den nur um ein Jahr jüngeren, aber wesentlich erfolgloseren Schriftsteller, wo er nur konnte. So scheint Hauer als einer der fleißigsten Verfasser von 'Fackel'-Beiträgen auf. Von ihm stammen zwanzig Artikel unter eigenem Namen, sieben unter dem Pseudonym "Lucianus", darunter so wichtige, programmatische wie "Lob der Hetäre" und "Erotik der Grausamkeit". Kraus unterstützte den fast mittellosen Hauer auch durch die Vermittlung von Korrekturarbeiten in der Druckerei Jahoda & Siegel. Auf der anderen Seite leistete Hauer wichtige Auswahl- und Vorarbeiten zum Buch "Sittlichkeit und Kriminalität" und zu dem nicht erschienenen "Kultur und Presse". Als Hauer an Tuberkulose schwer erkrankte, ermöglichte Kraus einen Kuraufenthalt in Davos in der Schweiz durch großzügige finanzielle Zuwendungen. Dennoch starb Hauer schon 1919. Der Nachwelt bleibt er durch den höchstwahrscheinlich auch von Kraus finanzierten Essayband "Von den fröhlichen und unfröhlichen Menschen" in Erinnerung.
Mehr als nur literarisch-geschäftliche Aspekte verbanden Kraus auch mit dem jungen Kunsthistoriker Franz Grüner und dem Dichter Franz Janowitz, die beide im Ersten Weltkrieg getötet wurden. Dasselbe gilt für Ludwig von Janikowski, mit dem sich Kraus, wie er es 1911 in seinem Nachruf ausdrückte, durch einen "geistigen Bund" verwandt fühlte. Der nicht schriftstellerisch tätige Janikowski hatte die Korrekturen zu Kraus' "Sittlichkeit und Kriminalität" gelesen; ihm wurde dieses Werk gewidmet. Kraus stellt ihm ein hohes Ehrenmal aus: "Er hat, der im deutschen Sprachgeist hundert deutschen Schreibern überlegene Nichtdeutsche, an und mit mir den Geist erlebt und die Sprache, und meine Leistung wuchs an seiner Begeisterung." (F 331, 1911, 64)
Ähnlich hoch wurde von Kraus der Begründer des 'Brenner'-Kreises und Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift, Ludwig von Ficker, geachtet. Er war es auch, der schon 1913 die kultur- und gesellschaftskritische Bedeutung Kraus' durch eine "Rundfrage zu Karl Kraus" hervorgehoben hatte. In den "Letzten Tagen der Menschheit" hat Kraus ihm ein bleibendes Denkmal gesetzt, indem er seinen Brief aus dem galizischen Kriegsgefangenenlager in das Drama einfügte.
Wenn Kraus auch seit 1912 keine unmittelbaren Mitarbeiter an der 'Fackel' heranzog, gab es natürlich auch später ratgebende, beeinflussende, helfende Stimmen. Dies gilt in besonderem Maß für den juristischen Beistand Kraus' seit 1922, Oskar Samek. Das ursprünglich rein geschäftliche Verhältnis wandelte sich im Lauf der Zeit zu Freundschaft, wobei sich der Jurist in starkem Maß mit Kraus' Zielen identifizierte. Während der großen Prozesse gegen Imre Békessy, Alfred Kerr, Theodor Wolff und Johann Schober nahm Samek Einfluß auf die Textgestaltung der 'Fackel'. Kraus hat ihn als "trefflichen Dr. Maske" im Theaterstück "Die Unüberwindlichen" skizziert, ihm das Stück gewidmet und die Handschrift geschenkt.
Manche Männer blieben Freunde über Jahrzehnte hinweg, andere kamen in den Jahren beginnender Vereinsamung hinzu; Philipp Berger, Heinrich Fischer, Karl Jaray, Ludwig Münz, Sigismund von Radecki und nicht zuletzt der Buchhändler Richard Lányi und die Drucker Georg und Martin Jahoda standen Kraus freundschaftlich nahe.
Die Faszination, die von Kraus ausging, übte ihre Wirkung natürlich auch auf Frauen aus. Er verstand es jedoch, abseits der erotischen Komponente, auch rein freundschaftliche Beziehungen zu Frauen zu führen. Sie als Mitarbeiterinnen der 'Fackel' zu bezeichnen wäre wohl zu euphemistisch. Tatsächlich ist in allen 37 Jahrgängen der Zeitschrift kein längerer literarischer Beitrag einer Frau erschienen. Gewiß aber gaben sie, vor allem im ersten Jahrzehnt der 'Fackel', als die Auseinandersetzung mit erotischen und sexuellen Fragen einen wesentlichen Teil des Inhalts der Zeitschrift ausmachte, Anregung und manchen indirekten Anlaß, Position zu beziehen. Die um vieles ältere Schriftstellerin Emilie Mataja (1856-1938), die unter dem Pseudonym Emil Marriot erfolgreich Romane und Erzählungen veröffentlichte, war mit Kraus schon vor der Gründung der 'Fackel' in Kontakt gekommen. Sie scheint auf ihn als mütterliche Freundin gewirkt zu haben. Aus der umfangreichen Korrespondenz, die 1904 abbrach, spricht ihr heiteres, von Sympathie geprägtes Verständnis für den jungen Kollegen.
1904 lernte Kraus in Bad Ischl Helene Kann kennen, die ihn ihrer Schönheit und ihrer Bildung wegen tief beeindruckte. Manche ihrer Aussprüche sind in aphoristischer Form in die 'Fackel' eingegangen. Die Freundschaft, schwer auslotbar in ihrer Tiefe, blieb trotz anderer Verhältnisse Kraus' und trotz der Beziehung zu Sidonie Nádherný, ungetrübt bis zu seinem Tod. Auch für Helene Kanns Schwester Elisabeth Reitler empfand Kraus tiefe Zuneigung und Respekt.
Während des Ersten Weltkriegs kam es zum Zusammentreffen mit der Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky, die mit ihren menschlichen und literarischen Eigenschaften Kraus' Zuneigung gewann. Die auch als Komponistin und Malerin begabte Aristokratin vertonte etliche seiner Couplets und veröffentlichte unter dem Pseudonym Chr. Dark Karikaturen in der 'Fackel'. Kraus widmete ihr mehrere Gedichte. Von 1920 an war er auf Schloß Kuchelna oft ihr Gast, einem böhmischen Landsitz der Lichnowskys, sowie in Berlin. In der von vielen Krisen geschüttelten Beziehung zwischen Sidonie Nádherný und Kraus nahm Mechtilde Lichnowsky immer wieder die Rolle der Vermittlerin ein. Die Wechselbeziehung wird von ihr selbst als "musenbegnadete Dreieinigkeit" gesehen.
Kraus' Beziehungen zu Schauspielerinnen waren vielfältig, dauerten manchmal kurz, manchmal jahrzehntelang, waren aber oft von Konflikten überschattet. Wiederholt nützte Kraus seine Bekanntschaften zu Theaterleuten (so zu Alfred von Berger und nicht nur im Fall von Annie Kalmar), um Engagements an Bühnen anzubahnen. Eine nie gänzlich versiegende Beziehung verband Kraus mit der Schauspielerin Kete Parsenow, die in Amerika und Deutschland lebte. Ihr zweiter Mann war Mitglied des Nobelpreiskomitees, das Kraus für diese Ehrung vorschlug. Berthe Maria Denk, die den Opernsänger Richard Mayr heiratete, blieb ebenso im Blickfeld wie die junge Irma Karczewska, für die Kraus viel, aber nie genug tat. Ganz anders, und doch intensiv, die Beziehung in späteren Jahren zur Schriftstellerin Gina Kaus.
Der Ort, an dem Kraus in Wien Freunde traf, war stets das Kaffeehaus, wobei die Lokale wechselten und die Freunde sich an die unkonventionelle Tages- bzw. Nachteinteilung des Schriftstellers halten mußten. Vor 1914 traf man sich gern zum Abendessen im Münchner Löwenbräu hinter dem Burgtheater (Altenberg hatte hier einen Stammtisch), ehe man die Lokale mit langer Öffnungszeit aufsuchte, oft mehrere an einem Abend: das Café Central, das Casino de Paris am Petersplatz, das Café Scheidl in der Kärntnerstraße oder - in späteren Jahren oft nach den Vorlesungen - das Café Parsifal in der Walfischgasse. Gerne ging Kraus ins Café Imperial im gleichnamigen Ringstraßenhotel und in das Café Attaché in der Argentinierstraße, beide nahe seiner Wohnung - wie überhaupt die Orte seiner Aufenthalte innerhalb Wiens nahe beieinander lagen: in einem Umkreis von wenigen Kilometern, der sich von der Druckerei im 3. Bezirk am Donaukanal über die bevorzugten Vorlesungssäle und die Wohnung am oder nahe beim Karlsplatz bis zur Eschenbachgasse (Architektensaal) und später in den 4. Bezirk (Ehrbarsaal) südlich um die Innere Stadt erstreckte.
SIDONIE NADHERNY
"Leb wohl, Du einziger, ersehnter Partner meines Umgangs, Du einziger Freund, von dessen Zuhören mehr geistige Anregung ausgeht als von den Gesprächen solcher Mißmenschheit! Du einzige Frau, die man noch in einem Gespräch über Literatur umarmen möchte, Du seltene Geliebte, zu der man sprechen kann, als hätte man sie nie umarmt!"
[Karl Kraus an Sidonie Nádherný von Borutin, Brief vom 2./ 3. Dezember 1915. BSN 1, 308]
Im September 1913 lernte Kraus Sidonie Nádherný von Borutin in Wien kennen; er war sofort fasziniert von der schönen, standesbewußten, aber - aufgrund des Selbstmords ihres Bruders - orientierungslosen Aristokratin; sie von seinem tiefen Verständnis, seiner Leidenschaftlichkeit und Hingebung. Jedes Zusammentreffen, erst recht die Gefühle mußten lange verschleiert werden. Den gesellschaftlichen Zwängen des sozialen Rollenspiels und der aristokratischen Umgebung mußten die beiden entsprechen, wo individuelle Freiheit des Handelns nicht durchführbar war. Zwar half eine Gesellschaftsdame, doch war Sidonies zweiter Bruder stark gegen Kraus eingenommen. Ein kompliziertes, von Krisen, Abbrüchen, und Hindernissen gezeichnetes Verhältnis entwickelte sich. Wankelmut seitens Sidonies und zu starkes Drängen seitens Kraus' standen einer ständigen, engen Verbindung entgegen. Von Kraus ausgehende Pläne zur Heirat waren zum Scheitern verurteilt - im Gegenteil, Sidonie meinte, durch die Ehe mit einem anderen Mann mehr Aktionsfreiheit zu gewinnen. Der bevorstehende Kriegsausbruch mit Italien 1915 war wohl mit ein Grund, die schon angezeigte und von Kraus gefürchtete Hochzeit Sidonies mit dem Grafen Guiccardini in Rom abzusagen.
1920 flüchtete Sidonie in eine überstürzte, aber standesgemäße Ehe mit dem befreundeten Grafen Max Thun, um ein Jahr später wieder zu Kraus zurückzukehren. Auch danach gab es mehrmals Phasen der Entfremdung und Wiederversöhnung.
Aus den über tausend Briefen Kraus' an Sidonie und ihren Erinnerungen geht dennoch hervor, daß sie und Schloß Janowitz (Janovice) für ihn der bestimmende Gegenpol zum Schriftstellerleben waren. Schloß und Garten von Janowitz gaben Kraus auch immer wieder Erholung und Kraft für neue Arbeit; große Teile des Dramas "Die letzten Tage der Menschheit" und viele Gedichte sind hier entstanden.
DER KRIEG 1914-1918
"Dieser Krieg wirkt aus den Verfallsbedingungen der Zeit. Er ist die eigentliche Realisierung des Status quo."
['Die Fackel' Nr 406-412 vom 5. Oktober 1915, S. 97]
Die emotionellen Affekte, die Kraus in den ersten Jahren der Beziehung durchlebte, liefen parallel zu den Erschütterungen, die der Krieg ab Sommer 1914 auslöste. In die allgemeine Kriegsbegeisterung stimmte er nicht ein, sondern verstärkte seine antimilitaristische Haltung im Lauf des Krieges mehr und mehr. Eine ohne sein Wissen vom Verlag der 'Fackel' angemeldete Subskription auf 10.000 Kronen Kriegsanleihe stornierte Kraus unverzüglich, weil er sich nicht am Krieg mitschuldig machen wollte. Er gab seinem Entsetzen über die grausige Wirklichkeit auf den Schlachtfeldern und deren Glorifizierung nach einer Zeit des Schweigens im November 1914 in der gewaltigen Rede "In dieser großen Zeit" Ausdruck. Danach erschien fast ein Jahr lang kein Heft der 'Fackel'; es fand auch keine Lesung statt. In Wien war Kraus - selbst zum Kriegsdienst untauglich - Zeuge des fortschreitenden gesellschaftlichen und moralischen Verfalls, den der Krieg nach sich zog.
Sein Abscheu galt den Kriegsgewinnlern, den Schiebern, die Feste feierten, während die breite Bevölkerung und die Soldaten darbten; den Journalisten, die sich in pervertiertem Patriotismus übten; den Militärbehörden, die kaum Genesene unverzüglich an die Front zurückschickten. Auch für die Dichter im Kriegspressequartier, die die meist deprimierenden Frontberichte in beschönigende und heroisierende Formen brachten, hatte er nur Verachtung und Spott übrig. Hingegen empfand er tiefes Mitleid mit den verkrüppelten und verwundeten Frontsoldaten und mit den hungernden Frauen und Kindern, die zur Arbeit in die Munitionsfabriken abkommandiert wurden. Solche erlebte und gelesene Eindrücke verarbeitete er ab 1915 in dem Kriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit". Obwohl Kraus ab Dezember 1915 seine antimilitärische Haltung auch in der 'Fackel' relativ deutlich zum Ausdruck brachte, fielen nur wenige Textpassagen der Zensur und Konfiskation zum Opfer. Erst gegen Ende des Krieges, der längst nicht mehr zu gewinnen war, geriet Kraus in die Observanz der Staatspolizei, da ihn ein Besucher einer Vorlesung des Hochverrats beschuldigt hatte. Der Fall wurde erst nach dem Ende der Monarchie als ergebnislos zu den Akten gelegt.
ÖSTERREICH UND DEUTSCHLAND
"... in der Republik sind die Menschen zunächst so schlecht und so dumm, wie sie sind, aber von keiner Schranke gehindert, den Zustand zu heben".
['Die Fackel' Nr. 501-507 von Jänner 1919, S. 18: "Nachruf"]
"Was Berlin von Wien auf den ersten Blick unterscheidet, ist die Beobachtung, daß man dort eine täuschende Wirkung mit dem wertlosesten Material erzielt, während hier zum Kitsch nur echtes verwendet wird."
['Die Fackel' Nr. 285-286 vom 27. Juli 1909, S. 30: "Aphorismen"]
Nach dem Zerfall der Monarchie war Kraus einer der wenigen Intellektuellen, die den Nachfolgestaat, die Republik Deutsch-Österreich, begrüßten. Für Kraus war er die Bestätigung eines zwanzigjährigen Kampfes gegen eine überlebte Staatsform. Nun konnte er Hoffnung schöpfen: "Mein Wort hat Österreich-Ungarn überlebt" (F 508, 1919, 6). Die Erwartungen, die er mit dem neuen Staat verknüpfte, waren vor allem auf die Sozialdemokratie gerichtet.
Mit ihrer humanitären, antimilitaristischen und antihabsburgischen Grundhaltung schien sie ihm am ehesten ein Garant für eine positive Entwicklung der Republik zu sein. Damit näherte er sich wieder jener Partei, mit der er in den ersten Jahren der 'Fackel' sympathisiert hatte. Für kurze Zeit betrachtete sich Kraus als eine geistige Führungskraft der Republik, setzte sich mit den aktuellen sozialen Tagesthemen auseinander und erwartete deren Lösung. Anerkennung in dieser Position fand er allerdings nur im Kreis seiner Anhänger. Mit Ausnahme der 'Arbeiter-Zeitung' wurde er in der Wiener Presse ebenso totgeschwiegen wie früher. Doch dies allein war nicht der Grund für Kraus' bald zunehmende Ressentiments gegen die Republik. Auch das Erstarken der Christlichsozialen Partei, in der er alle politischen Fehler der österreichischen Vorkriegszeit zu finden meinte, enttäuschte ihn; er sah in alledem ein individuelles, moralisches Versagen der sozialistischen Parteiführer. Zerschnitten wurde das Band zur Sozialdemokratie und damit zur parlamentarischen Demokratie im Verlauf seiner publizistischen Kämpfe gegen den korrupten Herausgeber der 'Stunde', Imre Békessy, und den Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober. In beiden Fällen sah sich Kraus allein gelassen von einer Clique, die er voll Verachtung als "politisches Paktiererpack" bezeichnete.
Seltsamerweise hat sich Kraus zum politischen Geschehen in Deutschland nicht oft geäußert. Das ist umso erstaunlicher, als sich die Weimarer Republik im Kampf der Parteien und Weltanschauungen weit radikaler und zerrissener entwickelte und Kraus sich häufig in Deutschland, zumeist in Berlin, aufhielt.
Was Kraus an dieser Stadt faszinierte, war der große Mentalitätsunterschied ihrer Bewohner zu den Wienern. Es scheint, daß er die schnoddrige Direktheit des Berliners dem unverbindlichen - manchmal schmierigen - Charme des Wieners vorzog. So hat er eine Reihe von Aphorismen diesem Gegensatz gewidmet. Für Kraus war Berlin weniger der Austragungsort ethisch-moralischer und pressekritischer Polemiken (Ausnahmen sind die Feldzüge gegen Alfred Kerr und Theodor Wolff); vielmehr bot sich ihm die Stadt als ein großes und dynamisches Versuchsfeld für seine künstlerischen Intentionen. Das kulturelle Leben war vielfältiger, das Publikum aufnahme-, aber auch kritikbereiter als anderswo. Hier wurden schon 1924 im Lustspielhaus seine Stücke "Traumtheater" und "Traumstück" uraufgeführt. Hier fand er auch Dramaturgen, Regisseure und Theaterdirektoren, die sich mit seinem Werk und seinen bühnentechnischen Vorstellungen auseinanderzusetzen bereit waren. Eine Enttäuschung bildete die gespaltene Aufnahme seines Schlüsseldramas "Die Unüberwindlichen", in dem er die Allianz Schober - Békessy brandmarkte, durch Publikum und Presse. Nach einer Matineevorstellung wurde das Stück vom Spielplan der Volksbühne genommen - auf Betreiben der österreichischen Diplomatie. Andererseits erlebte Kraus mit Rundfunkvorlesungen seiner Offenbach-Bearbeitungen, die von der "Berliner Funkstunde" durchgeführt wurden, große Erfolge in diesem jungen Medium.
Kraus hatte während seiner Berliner Aufenthalte Kontakt mit der jungen, revolutionären Schriftsteller- und Theaterszene. Schon 1924 gab er der von Berthold Viertel, Ludwig Münz und Ernst Josef Aufricht gegründeten Theatervereinigung "Die Truppe" einen Kredit von 9.000 Reichsmark, den er allerdings pünktlich zurückgezahlt haben wollte. Unter den deutschen Autoren der zwanziger Jahre lernte Kraus Bertolt Brecht besonders schätzen. Kraus hatte 1929 an den Proben zur Uraufführung der "Dreigroschenoper" im Berliner Theater am Schiffbauerdamm teilgenommen und verteidigte Brecht gegen den alten Feind Kerr, der den jungen Autor wegen der Verwendung einiger Villon-Verse als Plagiator bezeichnet hatte.
Am 11. Jänner 1932 las Kraus im Berliner Breitkopfsaal aus Brechts "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny". Er hielt Brecht "[...] für den einzigen, der ein Zeitbewußtsein, dessen 'asphalten' gar nicht so uneben ist, aus der Flachheit und Ödigkeit, die die beliebteren Reimer der Lebensprosa verbreiten, zu Gesicht und Gestalt emporgebracht hat" (F 868, 1932, 36).
Bald nach Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland lud Kraus Brecht zu einer Lesung nach Wien ein, die am 16. März 1933 hätte stattfinden sollen. Dazu kam es nicht, denn Brecht reiste vor dem angekündigten Termin von Wien in die Schweiz weiter, um dort Lebensmöglichkeiten im Exil zu sondieren. In die allgemeine Mißbilligung, die Kraus durch sein Schweigen gegen den Naziterror in Deutschland und seine Parteinahme für den Ständestaat entgegengebracht wurde, stimmte Brecht nicht mit ein, sondern trat für den Verfemten mit einem Gedicht ein, aus dem folgende Verse stammen:
"Als der Beredte sich entschuldigte
daß seine Stimme versage
trat das Schweigen vor den Richtertisch
nahm das Tuch vom Antlitz und
gab sich zu erkennen als Zeuge".
BÖHMISCHE SCHLÖSSER
"... daß die Erhaltung der Mauer eines Schloßparks, der zwischen einer fünfhundertjährigen Pappel und einer heute erblühten Glockenblume alle Wunder der Schöpfung aus einer zerstörten Welt hebt, im Namen des Geistes wichtiger ist als der Betrieb aller intellektueller Schändlichkeit, die Gott den Atem verlegt!"
['Die Fackel' Nr. 400-403 von Juli 1914, S. 95: "Sehnsucht nach aristokratischem Umgang"]
Dieses Motto verklärte die stille Welt des böhmischen Schlosses Janowitz, in dessen Abgeschiedenheit Kraus eine Zufluchtsstätte fand. Wenn Kraus Heimatgefühle hatte, so kristallisierten sie sich wohl in der Sphäre der böhmischen Aristokratie während zahlreicher Aufenthalte auf ihren Landschlössern. In der Verbindung von Schloß und Park schuf er sich so eine idyllische Gegenwelt zur großstädtischen Verkommenheit. Diese Sehnsucht nach dem "Ursprung" ist Thema zahlreicher Gedichte, in denen Kraus das Erlebnis des Parks von Janowitz, in seiner untrennbaren, fast mythischen Beziehung zur Gestalt Sidonies vor Augen stellt. Rainer Maria Rilke hatte diese eigentümliche Symbiose schon früher kennengelernt. Die Bekanntschaft mit Sidonie brachte Kraus in die Kreise des böhmischen Adels, was ihm von seinen Gegnern als reaktionäres Verhalten angelastet wurde. Den Vorwurf der "Sehnsucht nach aristokratischem Umgang" suchte Kraus in einem Artikel dahingehend zu entkräften, daß er die diskrete Positionierung einzelner Aristokraten höher bewertete als eine sich liberal-demokratisch gebärdende Radikalität. "Daß ich trotzdem hinreichend verdächtig bin, aristokratischen Umgang zu suchen, müßte der demokratische längst heraushaben: ihn fliehe ich. Er ist die Pest, die sich des Daseins freut und ihrem eigenen Bazillus nicht auf der Spur ist." (F 400, 1914, 95)
An diesen Angehörigen der Aristokratie schätzte Kraus vor allem ihr Verständnis für sein Werk trotz manchmal abweichender weltanschaulicher Ansichten. So nahm er oft und gerne Aufenthalt in ihren gastlichen Landschlössern.
Ab 1920 lud Mechtilde Lichnowsky ihn oft auf die beiden Landsitze der Familie, Kuchelna und Schloß Grätz, im sogenannten "Hultschiner Ländchen" im Nordosten der Tschechoslowakei ein. Kraus wußte das gediegene Ambiente durchaus zu schätzen. "Ich bin bei L[ichnowsky] und in prächtiger Umgebung. Grätz, wo wir manchmal sind und wo ich im Herbst, nächstens aber einige Tage wohnen soll, ist freilich noch viel schöner. (Dort ist ein Klavier, auf dem Beethoven gespielt hat [...])."
Ein weltoffenes Haus führte auch die Gräfin Mary Dobr`zenský auf ihrem Schloß Pottenstein (Potstyn) im Norden der Tschechischen Republik. Kraus, der durch Sidonie Nádherný ihre Bekanntschaft gemacht hatte, war hier mehrmals zu Gast und unterhielt einen regen Briefwechsel mit ihr, aus dem große Nähe und Wertschätzung hervorgehen. Oft verweilte der Freundeskreis Nádherný, Dobr`zenský, Lichnowsky und Kraus auch auf den Schlössern Raudnitz an der Elbe und Eisenberg als Gäste des Ehepaares Max und Gillian Lobkowicz. Max Lobkowicz, der Kraus etwa seit 1913 kannte, machte ihn auch mit dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomás G. Masaryk bekannt und vermittelte einen Besuch auf dem Hradschin. Schließlich wurde Kraus auch in den Kreis um Valentine (Niny) Mladota von Solopisk eingeführt, die auf den Janowitz nahe gelegenen Schlössern Amschelberg und Roth-Hradek lebte.
Kraus' Lebensstil war geprägt von der immensen Arbeitslast der Zeitschrift, der Bücher und Vorlesungen, doch auch von dem Drang zu intensivem Gedankenaustausch mit Personen des Vertrauens (deren Zahl nicht klein war) und von der Lust, die Stadt zu verlassen und Natur zu erleben: Seit der Jahrhundertwende fuhr er gern an die Ostsee (Dänemark, Deutschland) und ans Mittelmeer (Italien, Frankreich). Aus Zeitdruck und Lust am Abenteuer - und weil die Kosten kein Problem bildeten - zählte Kraus zu den frühen Besitzern eines Autos in Wien [sein wahrscheinlich erster Wagen trug die Nummer A I 408] und zu den frühen Benützern der Fluglinien, die in den 20er Jahren entstanden.
TOD
"Dreist entreiß ich mich dem faulen Frieden,
nichts zu haben als die Totenstille.
Sie zu meiden, will ich nicht ermüden;
da zu bleiben, wenn ich abgeschieden,
fortzuleben sei mein letzter Wille."
['Die Fackel' Nr. 577-582 vom November 1921, S. 67f: "Todesfurcht"]
Ab 1934 verschlechterte sich Kraus' Gesundheitszustand zusehends. Gründe dafür mögen die damals ihrem Höhepunkt zustrebenden gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Emil Strauß, Egon Schwelb und Hugo Sonnenschein (Sonka) gewesen sein, das Entsetzen über die Vorgänge in Deutschland, der Bürgerkrieg in Österreich.
Kraus empfand (wie Johann Nestroy oder Goethe) Scheu vor dem Gedanken an Tod und Sterben. Er lehnte es ab, vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitserhaltung oder Schonung zu treffen. Sein Arzt Fritz Schweinburg schrieb darüber: "Er war erfreulicherweise von einer ganz unglaublichen medizinischen Unbildung, so dass es mir jederzeit leicht möglich war, ihn über seinen Zustand hinwegzutäuschen. Ja selbst in den letzten Tagen, wo ihm schon sehr elend war, gelang das noch."
Die letztliche Todesursache war eine Gehirnembolie, der er in den frühen Morgenstunden des 12. Juni 1936 erlag.
Das Dokument, das Kraus' Aversion gegen den Tod am deutlichsten widerspiegelt, ist sein Testament, das er im August 1935 abfaßte und im Februar 1936 revidierte. Er, der sonst nichts dem Zufall überließ und alles, was er schrieb, minutiös prüfte und überarbeitete, brachte hier in Eile ein Provisorium zu Papier, das zahllose juristische und formale Unzulänglichkeiten aufweist. Es war rechtlich nicht als Testament, sondern nur als Kodizill zu werten, da eine Erbeinsetzung fehlt. Kraus verwendete kein einziges Mal das Wort "Tod". Die Bestimmung über seine Bestattung enthält eine Verschreibung: "Nur weil mein Leben [sic] so wenig eine Familienangelegenheit sein sollte, wie es mein Leben - der Arbeit wegen - sein musste, bitte ich meine Verwandten, meiner Bestattung (Beerdigung) fernzubleiben." In einem Brief an Ludwig von Ficker erzählte Sidonie Nádherný von den geistigen und körperlichen Qualen, denen Kraus ausgesetzt war. "Sie erwähnen sein Testament. Es gibt keinen rührenderen Anblick. Als er es abfassen musste, verlor er die Sprache. Ein Kind hätte es besser geschrieben."
Der letzte Wille von Kraus gab keinen Aufschluß darüber, was nach seinem Tod mit dem Verlag der 'Fackel' zu geschehen und wer über die Urheber- und Herausgeberrechte an seinen Werken zu verfügen habe. Daraus entstanden Streitigkeiten, die erst in den 50er Jahren beigelegt werden konnten. Auch über den Ort seiner Grabstätte traf er in dem Dokument keine Anordnung, so daß es nach seinem Tod darüber ebenfalls zu Auseinandersetzungen kam. Sidonie Nádherný pochte auf die Erfüllung seines Wunsches, ihn im geliebten Park von Janowitz zu bestatten, konnte dies aber nicht durchsetzen. Karl Kraus' letzte Ruhestätte ist in einem Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof.