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Zweiter Abschnitt: Arbeit, Theater

...im Rahmen der Literaturhaus-Ausstellung 2006.

"DIE FACKEL": SCHREIBEN UND DRUCKEN

"Ich beherrsche die Sprache nicht, aber die Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken empfange, und sie kann mit mir machen, was sie will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort springt mir der junge Gedanke entgegen und formt rückwirkend die Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade der Gedankenträchtigkeit zwingt auf die Knie und macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht. Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß."
['Die Fackel' Nr. 272-273 vom 15. Februar 1909, S. 48: "Sprüche und Widersprüche"]

In den ersten zwölf Jahren des Erscheinens der Zeitschrift zog Kraus die verschiedensten Mitarbeiter heran; die anderen fünfundzwanzig Jahre lang schrieb er die Texte - absehen von ganz wenigen Ausnahmen - allein. Der Umfang dieser Arbeit war enorm. Oft klagte er über den Termindruck, relativierte jedoch immer wieder dahingehend, daß er die Aufgabe einzig sich selbst, seinem hochgesteckten Ehrgeiz und seiner Pflicht der Umwelt gegenüber verantworte.
Um diese Arbeit bewältigen zu können, war ein möglichst präzises Zusammenwirken zwischen dem Herausgeber und dem Verlag und allen helfenden Personen notwendig. Wir wissen wenig über die technische Herstellung der Zeitschrift in den ersten Jahren. Genaueres läßt sich von den vielen Jahren berichten, während denen Satz, Druck und Verlag bei der Firma Jahoda & Siegel lagen.
Karl Kraus war ein Nachtmensch. Er arbeitete häufig die Nacht durch, legte sich vormittags schlafen und stand am Nachmittag auf. Den Abend verbrachte er meist in Gesellschaft, in Kaffeehäusern mit Gesprächen oder mit der Lektüre von Zeitungen. Letztere nahm viel weniger Zeit in Anspruch, als angesichts des Werks angenommen werden müßte, das ja zu einem großen Teil in der Reaktion auf Zeitungsartikel, auf dem Zitieren und Kommentieren derselben bestand. Es wird eine halbe bis eine Stunde genannt, was nur vorstellbar ist, wenn man die Arbeit von Freunden und von Helfern hinzuzählt, die, zum Teil von Kraus privat oder vom Verlag beschäftigt, beauftragte Recherchen durchführten.
Die wenigsten Schriftsteller schreiben fertige oder fast fertige Texte nieder. Kraus gehörte zu den vielen, die am Text intensiv arbeiten. Seine Methode war von den Terminen des Veröffentlichens, also der Erscheinungsweise der Fackel und den Bänden der Schriften, geprägt: Er sandte einen handschriftlichen Text zum Satz in die Druckerei und führte die Arbeit am Text weiter, indem er Korrekturen, Erweiterungen, Änderungen in den Bürstenabzug des Satzes notierte, die Satzkorrektur. Dieser Vorgang wiederholte sich so lange, bis der Autor mit dem Text zufrieden war.
Mit Manuskripten von fremder Hand verfuhr Kraus, wo er es nötig fand, ebenso streng wie mit seinen eigenen. Es sind zahlreiche Eingriffe - ob sie immer abgesprochen waren, muß bezweifelt werden - in Texte seiner Mitarbeiter bekannt. So korrigierte er nicht nur Texte junger Autoren, die es als eine Ehre ansahen, von Kraus verbessert zu werden; auch Peter Altenberg oder Otto Stoessl waren von der Strenge des Herausgebers in Satzbau und Wortwahl, Prägnanz des Ausdrucks und Stringenz der Darstellung betroffen.

Kraus bediente sich beim Schreiben so gut wie keiner technischen Hilfsmittel; er schrieb mit Stahlfeder und Tinte, was ihm eine kleine Schrift ermöglichte. Über deren Lesbarkeit gingen schon zu seinen Lebzeiten die Meinungen auseinander; während ihn BriefpartnerInnen gelegentlich baten, deutlicher zu schreiben, waren die Setzer - nach Möglichkeit stets die selben - hoch spezialisiert auf das Entziffern und richtige Interpretieren seiner Handschrift.

In den ersten Jahren erschien 'Die Fackel' dreimal im Monat, mit 16 bis 24, bald 32 Seiten. Später wurde die Erscheinungsweise unregelmäßiger, dafür das einzelne Heft umfangreicher.

Eine zweite Arbeitsebene wurde mit der Herausgabe der "Schriften" eröffnet. Für die Bände, die zumeist Aufsätze um Themengruppen bündelten, die zuvor in der 'Fackel' erschienen waren, revidierte Kraus sämtliche Texte und änderte sie nicht selten in größerem Ausmaß. Nur der relativ schmale dramatische Teil seines Werks, abgesehen von "Die letzten Tage der Menschheit", sowie die Übersetzungen erschienen nicht in der Zeitschrift, sondern nur in Buchausgaben.

 

DER ARBEITSPLATZ

"Ich freue mich immer aufs Nachhausekommen, wenn die Druckfahnen auf dem Schreibtisch liegen."
[An diesen Ausspruch von Kraus erinnert sich Helene Kann in: Dokumente und Selbstzeugnisse, Zürich, 1946, 18]

Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht ist die 'Kaffeehausliteratur' in Wien um 1900 selten im Kaffeehaus entstanden. Allerdings bot das Kaffeehaus den Schriftstellern ein Zentrum der Geselligkeit, der Diskussion, des Tratschens, des Meinungen-Austauschens - also mit den darin enthaltenen Anregungen einen Platz der Kreativität.
Kraus jedenfalls wollte definitiv in Ruhe und in ungestörtem Ambiente schreiben; dies garantierten ihm (von Ausnahmen abgesehen, wie etwa unterwegs in einem Bahnhofsrestaurant oder einem Hotel) am ehesten die eigene Wohnung und die späte Nacht.

Den ersten Arbeitsraum hatte Kraus bei seinen Eltern. Die frühen Kritiken, Essays und Polemiken verfaßte er in der Maximilianstraße 13 (heute Mahlerstraße), später in der Elisabethstraße 4 und während des Sommers in Ischl - mit wechselnden Adressen; dorthin ließ er sich auch noch in den ersten Jahren der 'Fackel' im Sommer die Post von Mitarbeitern senden.
Bald unterschied Kraus zwischen Redaktions- und Privatadresse; war doch nicht nur mit redaktioneller Post, sondern mit viel allgemeiner Korrespondenz, insbesondere LeserInnenbriefen, zu rechnen. In den ersten Jahren der 'Fackel' lud der Herausgeber solche zu schreiben sogar ein. Der 'Briefkasten' war allen Zeitschriften ein wichtiges Mittel, auf direkte Stimmen aus dem Publikum zu reagieren und darin persönliche Meinungen oder Ratschläge anzubringen. Kraus nutzte die kleingedruckten "Antworten des Herausgebers", die er anfangs meist, aber nicht immer selbst schrieb, bald als Plattform für seine betont persönlich gefärbten Ansichten, für die Glossen, die er nach einigen Jahren zu einer wichtigen Rubrik der Zeitschrift werden ließ, bei Verzicht auf LeserInnenbriefe als Auslöser.

In den ersten Heften der 'Fackel' ist die Verlagsbuchhandlung Moriz Frisch, Bauernmarkt 3, nicht nur als deren Druckerei, sondern auch als ihre (für den Versand und die Abonnements zuständige) Geschäftsstelle und als Adresse des "Herausgebers und Redacteurs" genannt. Daß Kraus hier ein eigenes Büro betrieb, ist unwahrscheinlich. Als geselliger Treffpunkt diente damals das nahegelegene Restaurant 'Zum Rothen Igel' am Wildpretmarkt 5.
Nach der Trennung von Moriz Frisch (dieser nützte die längere Sommerpause und die Abwesenheit von Kraus, um, sich seinen Erfolg aneignend, eine eigene satirische Zeitschrift 'Die neue Fackel' anzukündigen) wurde die Firma Jahoda & Siegel als Druckerei für Kraus' Zeitschrift verpflichtet. Um dem Druckort nahe zu sein, mietete Kraus im Haus Wien 3, Hetzgasse 4, ein Büro für den Verlag 'Die Fackel'. Später verlegte er den Arbeitsplatz in den 4. Bezirk, Schwindgasse 3; ab 1907 ist der Zeitschriftenverlag bei Jahoda & Siegel untergebracht, ab 1908 auch die Redaktion.
Eine Zeitlang hatte Kraus eine eigene Wohnung in der Elisabethstraße 20, später in der Dominikanerbastei 22. 1912 inserierte er in der 'Neuen Freien Presse' unter "Wohnungsnot" und fand eine seinen Wünschen entsprechende Lokalität im 4. Bezirk, in der Lothringerstraße 6. Die Wohnung im Hochparterre war nicht groß; sie umfaßte einen Arbeitsraum, ein Vor-, ein Schlafzimmer und eine Küche. Der Vorteil bestand in einem unter diesen Räumen gelegenen, von innen wie vom Stiegenhaus her zugänglichen ähnlich großen Bereich, den Kraus als Archiv nützte, und wo gelegentlich Helfer arbeiteten und ordneten.
Diese Wohnung, die Kraus bis zu seinem Tod behielt, konnte und sollte keine Aufgaben der Repräsentation erfüllen; sie war ausschließlich Arbeits- und Schlafbereich. Das bestätigen nicht nur Berichte von Zeitgenossen, die etwa zu einer Besprechung oder einem kurzen Besuch kommen durften; das zeigen auch die Fotografien der Räume, die nach dem Tod des Autors aufgenommen wurden (sie zeigen allerdings einen 'geordneten' Zustand, den der Architekt Karl Jaray Anfang der 1930er Jahre hergestellt hatte). Eine Überfülle von Manuskripten und Satzkorrekturen in jeder Form von Ordnung ist zu sehen, ein Schreibtisch voll mit 'Fackel'-Heften, Nachschlagewerken, Notizzetteln; nicht allzu große Bücherregale stehen an einer Wand, keineswegs gefüllt mit Objekten eines Sammlers, sondern nach dem Gebrauchswert aufgestellt, überragt von den eigenen Werken am obersten Regal: 'Die Fackel' in Quartalsbänden gefaßt, die verschiedenen Ausgaben der "Schriften". Dominiert wird der Raum jedoch (wie auch das Schlaf- und das Vorzimmer) von einer sehr großen Zahl Fotografien und Bildern, die an den Wänden hängen, auf Kästen und Regalen stehen. Sie bilden einen Kreis der für Kraus wichtigen Personen, lebender wie toter, wie man ihn selten als rückwärtsgewandt-vergegenwärtigendes Ambiente zu sehen bekommt.
Fast alle Porträtfotografien, die man heute von Kraus kennt, sind hier versammelt, weiters die Aufnahmen der Eltern, von Personen der Literatur und des Theaters, sowohl solche, die auf den ganz jungen Kraus Eindruck machten oder zu der von ihm bewunderten Generation prägender Größen gehörten (wie Johann Nestroy, Josephine Gallmeyer, Marie Geistinger, Charlotte Wolter); Fotografien von Personen, denen seine Zuneigung oder seine Verehrung galt, darunter viele Bilder der Freundinnen wie Annie Kalmar, Adele Sandrock und Sidonie Nádherný, von den Schülern Franz Grüner, Franz Janowitz, den Künstlerkollegen Arnold Schönberg, Peter Altenberg, Adolf Loos oder Frank Wedekind. Es gab aber auch Grafiken von Gustave Doré, Erinnerungskarten (so an die Schließung des Café Griensteidl), Handschriften, eine Dankurkunde des Wiener Tierschutzvereins und einen großformatigen Entwurf Hans Schließmanns für die bekannte Umschlaggrafik des Pamphlets 'Die demolirte Litteratur'.
Die geringe Zahl von Büchern in der Wohnung steht in deutlichem Kontrast zu Kraus' Belesenheit. Er war kein Liebhaber von Büchern, obwohl er viele erhielt: nicht nur aus dem großen Bekanntenkreis, auch noch unbekannte Autorinnen und Autoren hofften auf eine freundliche Erwähnung - das gilt zumindest für die Jahre, in denen 'Die Fackel' für Arbeiten anderer offen war; später schrumpfte die Zahl derer, die mit Wohlwollen bedacht wurden, stark zusammen gegenüber denen, die Kraus mit Spott, Hohn oder ausführlicher, vernichtender Kritik belegte. Kraus behielt die wenigsten der Bücher, die ihm zugingen; von manchen schnitt er die Widmungen heraus, hob diese auf und gab die Bücher zum Antiquar. In den Regalen finden sich nur wenige Werke (soweit sie erkennbar oder in schriftlichen Berichten erwähnt sind), die von persönlichen Beziehungen zeugen: etwa die beiden im Brenner-Verlag erschienenen Bände von Adolf Loos "Ins Leere gesprochen" und "Trotzdem"; Werke von Ludwig Speidel und Detlev von Liliencron, aber auch ein Gedichtband von Heinrich Heine.
Kraus hat also fremde Bibliotheken benützt; daß er zu den Lesern der Nationalbibliothek zählte, ist durch einen Ausweis belegt; vielleicht hat er auch private Bibliotheken benützt; oft schickte er Mitarbeiter Zitate suchen.
Ob nun die benützten Werke aus privatem oder öffentlichem Bestand stammten - Kraus griff auf sie zurück, basierend auf einem sehr breiten Lese- und Bildungshorizont. Kraus zitiert in der Fackel oft verborgen veröffentlichte Texte von Autoren; so etwa die Zitate zum Krieg "Worte von Jean Paul, Schopenhauer und Bismarck" (F 405, 1915, 5-13), manche Texte älterer Autoren, die er in seinen Vorlesungen brachte, oder Bibelstellen aus verschiedenen Übersetzungen.
Über die vielfältigen Spuren der Belesenheit in der 'Fackel' hinaus führen zwei Listen, welche Rechtsanwalt Oskar Samek in einem Streitfall im Jahr 1926/1927 anführt, die beweisen sollen, daß Kraus keineswegs nur ein Leser von Zeitungen sei. Diese Listen - wie immer genau sie im Einzelnen gemeint waren - bestätigen den Eindruck, den man aus der Lektüre der 'Fackel' gewinnt, wie groß Kraus' historische wie seine gegenwartsbezogene Literaturkenntnis war. Nur Romane machten ihm Schwierigkeiten, wohl wegen der Länge und Weitschweifigkeit, die im Gegensatz zu seinem gedrängten Zeitplan standen. So ist es ein besonderes Kompliment, wenn er Otto Stoessl gegenüber versichert, größere Teile seines jüngsten Prosawerks gelesen zu haben - und zwar mit Vergnügen.
Was Kraus nachts geschrieben oder korrigiert hatte, holte morgens ein Bote der Druckerei ab. Er brachte das Geschriebene zur Bearbeitung in die Setzerei oder ins Büro. Tagsüber kam Kraus in der Druckerei vorbei oder setzte sich per Telefon, Telegramm oder Rohrpostbrief mit dem Personal in Kontakt. Abends erhielt er die Bürstenabzüge der in der Setzerei bearbeiteten Texte (und die Ab- oder Reinschriften von Korrespondenzen, die im Büro hergestellt worden waren) zur Durchsicht.
Oft mußte die Post zur Beförderung herangezogen werden, sowohl innerhalb Wiens, als auch, wenn Kraus auf Reisen war. Häufig gab es Probleme, da die Ansprüche des Autors in Sachen Schnelligkeit und Pünktlichkeit sehr groß waren. In Fällen des Nicht-Funktionierens beschwerte sich Kraus nachdrücklich. Der Erfolg war bei der Post wohl geringer als bei Herrn Jahoda oder den Mitarbeitern der Druckerei, die sich gelegentlich für Fehlleistungen entschuldigen mußten.

Kraus' Schrift war schwer lesbar und wurde in seinen späteren Lebensjahren immer kleiner. Es bedurfte geübter Setzer und Bürokräfte, um unter dem starken Zeitdruck die gestellten Aufgaben (Satz der 'Fackel' und der Bücher, Satz der Plakate und Erledigung der Korrespondenz, aber auch eine Menge von einzelnen Kommunikationen technischer Art und der Verwaltung) zu bewältigen. Dazu war das Personal von Jahoda & Siegel zu größter Genauigkeit angehalten; es halfen Vater (Georg) und Sohn (Martin) Jahoda, über Jahrzehnte hinweg war Fräulein Wacha eine ganz wichtige Stütze.
Für die Sichtung, Erledigung und Ordnung der Korrespondenz waren in den frühen Jahren junge Helfer zur Hand, wie Ludwig Ullmann, Philipp Berger, Berthold Viertel, Paul Engelmann und andere.
Die Verwaltung der Vorlesungen besorgten in den ersten Jahren ebenfalls Helfer wie die oben genannten; ab 1917 besorgte dies Richard Lányi, der sein Kartenbüro und seine Buchhandlung in den Dienst von Kraus stellte.

 

KORRESPONDENZ ZUR "FACKEL"

Die Briefe zur Arbeit des Autors und Herausgebers der 'Fackel' spiegeln deutlich die Vielseitigkeit einer solchen Aufgabe wieder. Davon abgesehen, daß viele, aber keineswegs alle Dokumente erhalten sind, eröffnen sie Einblicke mehr in Punktuelles als in den Gesamtzusammenhang, und das mag bisher ein Hindernis gewesen sein, mit ihrer Veröffentlichung zu beginnen. Die Korrespondenzstücke und Notizen sind von zwei Faktoren gekennzeichnet: Kraus war ein penibler, genau alles Mögliche bedenkender und kalkulierender Mensch. Für die Kommunikation stand ihm zwar das Telefon zur Verfügung (er mochte es nicht besonders), aber für präzise Mitteilungen eignete es sich nicht. Er hielt also so viel wie möglich schriftlich fest, allerdings in einer Handschrift, die auch schon damals, als die Kurrentschrift noch üblich war, nicht leicht zu entziffern war. Hinzu kam Kraus' Grundsatz, jeden Brief zu beantworten, der ihn erreichte; es waren immer noch viele, selbst in den Jahren, als er sich via Warnung auf der vierten Umschlagseite der 'Fackel' alle Zusendungen verbat. Solche Briefe waren oft überraschend ausführlich - Kraus fehlte wohl die Zeit zu komprimieren -, oft auch aus Belehrsamkeit: Viele Leserbriefe waren gut gemeint, indem ihre VerfasserInnen glaubten, Kraus einen Fehler in seiner Zeitschrift nachweisen zu können; Kraus' Beweise, daß er recht habe und daß er sich von Besserwissern nicht irritieren lassen wolle, gerieten oft in einem zornigen Ton.

Aber wichtiger als die Beantwortung von Leserbriefen waren die an die Mitarbeiter gerichteten Schreiben. Sie zeigen, wie Kraus arbeitete: rasch, sprunghaft, doch rationell; sie zeigen, was er von den Mitarbeitern und gewiß auch von sich selbst forderte: schnelle Entscheidungen, Urteile und rasches, aber gewissenhaftes Schreiben. Das Feilen am Text gestand er selbstverständlich sich und den anderen zu; aber eine der wichtigsten Voraussetzungen war, den angesagten Textumfang und die Termine einzuhalten. Oft genug gelang das nicht ganz: Die zu verschiedenen Zeitpunkten gedruckten Umschläge und Titelseiten des Kerns der Zeitschrift tragen gelegentlich verschiedene Erscheinungsdaten des Hefts. Der Umfang eines Artikels konnte rasch je nach Aktualität geändert werden; die Aktualität war - vor allem in den ersten Jahren - häufig, aber nicht immer ein wichtiger Faktor bei der Termin- und Platzkalkulation.

Der sehr hohe Grad an Organisation und gleichzeitiger Aktivität (das Verfassen, Korrigieren und Redigieren von zahlreichen Artikeln für die kommenden Hefte der 'Fackel') allein mag ein Grund für die Entscheidung gewesen sein, die Zeitschrift lieber allein zu schreiben; denn ein Redaktionsteam scheint es auch in den Jahren der vielen Mitarbeiter nicht gegeben zu haben; Kraus machte die Arbeit der Themenauswahl und jene der Schreiber weitgehend selbst; nur selten wurden Entscheidungen an Mitarbeiter übertragen (in geringem Ausmaß etwa an Karl Hauer für die kurze Zeit der deutschen Parallelausgabe der 'Fackel'); nur wenige Personen durften sich Kritik oder Ratschläge erlauben - dazu gehörten Robert Scheu, Ludwig von Janikowski, aus distanzierterer Position auch Adolf Loos. Überhaupt gab es mehr dienende Geister im Umkreis der Zeitschrift als Personen, deren eigene Entscheidungen (etwa über einen Beitrag) oder deren abweichende Meinung ohne Bruch der Beziehung hingenommen wurde. Zur letzteren Gruppe gehörten eine Weile Erich Mühsam, Peter Altenberg, Otto Stoessl, Frank Wedekind - auch wenn da drei ganz verschiedene Formen von Freundschaft impliziert waren.
In anderen Fällen umwarb Kraus Personen, von deren Bedeutung er überzeugt war: so etwa den altliberalen Politiker Joseph Schöffel, der am Ende seiner Laufbahn als Politiker nur mehr Hohn und Verachtung für die Leistungen des schwerfälligen Parlamentarismus übrig hatte; dafür schätzte ihn Kraus ebenso wie für seine Charakterstärke im Widerstand gegen das Cliquenwesen; Schöffel deckte in den 1870er Jahren die Verflechtungen von Wirtschaft, Politik und Presse auf, die eine gewinnträchtige Verwertung des Wienerwalds beabsichtigten, nämlich den Verkauf und die Abholzung. Nicht nur seine Rolle als Antikorruptionist oder seine Freundschaft mit Ferdinand Kürnberger, einem souveränen Schriftsteller und Feuilletonisten, gefiel Kraus; der Erhalt der Waldflächen westlich von Wien war ihm ein ebenso wichtiges Band der Sympathie, weil Kraus den Wienerwald als Kind wie als Erwachsener liebte.
Die Verehrung ging so weit, daß Kraus 1905 die Memoiren Schöffels im Verlag von Jahoda & Siegel herausbringen ließ - ein Freundschaftsdienst, der sich wiederholte, als es galt, Schriften von der 'Fackel' nahestehenden Autoren zu drucken; die gesammelten Aufsätze Karl Hauers, die zumeist vorher in der 'Fackel 'erschienen waren, kamen hier 1912 als Buch heraus; in den 1920er Jahren auch einige Werke von Mechtilde Lichnowsky ("Halb und Halb", 1926, "Das Rendezvous im Zoo", 1928).

Gelegentlich mußte Kraus selbst einspringen und schreiben, wo er gehofft hatte, daß ein Beitrag von anderer Hand kommen würde; Beispiel dafür ist der Artikel zum 50. Geburtstag Peter Altenbergs, den zu schreiben Kraus Otto Stoessl recht spät bat, nämlich am 15. Februar 1909, zwölf Tage vor dem Erscheinungstermin des Hefts (F 274). Am 16. Februar begründete Stoessl, warum er der Einladung nicht nachkommen könne - die Weigerung ist ein seltenes Zeichen sehr guter Freundschaft - sodaß Kraus einen Altenberg-Artikel in wenigen Tagen schrieb, trotz der Belastung, die er in der Endphase der Arbeiten an seinem ersten Aphorismenbuch "Sprüche und Widersprüche" hatte. Damit wird wohl auch zu begründen sein, daß die Nummer 274 ein schmales Einzelheft von 24 Seiten wurde; in diesem Jahr gab Kraus zumeist Doppelhefte heraus, später immer häufiger umfangreichere Hefte in größerem Zeitabstand.

Insgesamt jedoch waren die Beziehungen, in denen von Ausgewogenheit gesprochen werden kann, selten. Zumeist entschied Kraus, und sei es auf Kosten von Eingriffen in Texte anderer.

 

FINANZIELLE ASPEKTE DER "FACKEL"

Unabhängigkeit ist die Prämisse für ein Blatt, das keine Rücksichten nehmen will. Einer Tageszeitung kann es nicht gelingen, ohne Inserate oder andere stützende Parallelmaßnahmen zu existieren; einer Zeitschrift, wenn sie eine hohe Auflage verkaufen kann, schon. Auf dieser Überlegung basierte nicht nur Kraus' Verständnis eines Mediums, das einem ethischen Prinzip, etwa der Gerechtigkeit oder der Wahrheit, dienen und in der Lage sein will, unverhohlen Mißstände aufdecken zu können. Kraus konnte seine aggressive 'Fackel' nur deshalb konzipieren, weil die finanzielle Selbständigkeit gewährleistet war: für die erste Nummer durch eine Garantie seines Vaters; da sie ein eindeutiger Erfolg war, trug der Verleger das Risiko für die nächsten Nummern leicht.
Die erste Nummer der 'Fackel' erschien Ende März mit der Datierung "Anfang April 1899" in einer Auflage von 10.000, die rasch vergriffen war. Der Nachdruck war doppelt so groß. Die Sensation der neuen Zeitschrift, die sich so ganz anders vernehmen ließ, aber nicht nur durch Aggressivität hervorstach, hielt die Verbreitungszahlen - vor allem in Österreich-Ungarn - hoch. Selbst in wirtschaftlich schwieriger Zeit sanken sie nicht ins Bodenlose. 1926 stellte Kraus' Rechtsanwalt in einer Entgegnung fest, daß die 'Fackel' seit Jahren in einer Auflage zwischen 8.500 und 10.000 Exemplaren erscheine.
'Die Fackel' blieb bei schwankender aber durchschnittlicher Auflagenhöhe zwischen 7.000 und 10.000 Exemplaren zumindest bis Ende der 20er Jahre ein kommerziell aktives Unternehmen. Der Wohlstand des Herausgebers trug dazu das Seine insofern bei, als Kraus nicht von den Erträgen leben mußte. Wie weit Honorare für Mitarbeiter (soweit überhaupt welche bezahlt wurden) von den Erträgen oder von Kraus' privatem Konto beglichen wurden, läßt sich zur Zeit nicht klar entscheiden; ebensowenig ist durchschaubar, auf welche Guthaben Kraus, wenn er auf Reisen war, zurückgriff (manchmal auf von Jahoda verwaltetes Geld, manchmal auf solches aus der väterlichen Firma).
Kraus - wohl von den peniblen Grundsätzen seines Vaters geprägt (er schrieb z. B. Mitarbeiterinnen die jeweilige Portoklasse von postalischen Sendungen vor) - stellte die Unterlagen für seine Steuererklärung selbst zusammen. Sein Schwager Albert Weingarten bearbeitete sie und leitete die Meldung der Finanzbehörde weiter. Sie sind für einige Jahre erhalten und werfen ein positives Licht auf die Einnahmenseite; die Ausgaben sind erstaunlich gering angesetzt.
Ein wichtiger finanzieller Aspekt lag in der Wohltätigkeit, die Kraus aus den Erträgen der Zeitschrift und seiner Vorlesungen speiste. Die über lange Jahre in der 'Fackel' protokollierten Zuwendungen gingen sowohl an Einzelpersonen wie an Gruppen oder Projekte. Ein besonderes Anliegen war es Kraus, nicht nur Menschen, sondern auch Tieren zu helfen; der Wiener Tierschutzverein war häufiger Empfänger von Spenden; eine namentlich ausgestellte Urkunde hing im Vorzimmer von Kraus' Wohnung.
Erst in den 30er Jahren geriet 'Die Fackel' in die roten Zahlen; so zählt zumindest die "Nachweisung des Nachlasses" Negativ-Ergebnisse seit 1931 auf. Gründe für den schlechteren Verkauf der Zeitschrift lagen in ihrer Stellung zur Politik in Österreich und in Kraus' hartnäckiger anti-sozialdemokratischer und recht leidenschaftlicher Parteinahme für Dollfuß; noch mehr jedoch in der politischen Situation in Deutschland seit 1933, die alle Aspekte des Publizierens für Kraus so veränderte, daß er Zeit brauchte, die Entwicklungen in Worte zu fassen. Andererseits wurde seine erste Stellungnahme dazu so gründlich mißverstanden, daß sich daraus publizistische Auseinandersetzungen ergaben, die vom Hauptthema ablenkten. Da konnte auch der Plan des Rückzugs auf das ultimativ Essentielle, die Sprache, nicht mehr die frühere Begeisterung des Publikums zurückbringen. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß die Abonnenten und Käufer der 'Fackel' in Deutschland durch die Verbote der nationalsozialistischen Kulturpolitik die Zeitschrift nicht mehr beziehen konnten.
Die genannten Hindernisse, die einer kontinuierlichen Erscheinungsweise und Verbreitung der 'Fackel' entgegenstanden, sind deutlich an der Zahl der Hefte und ihrem Umfang abzulesen: 1931 erschienen vier Hefte mit zusammen 396 Seiten; 1932 vier Hefte mit 404 Seiten; 1933 ein Heft von 4 Seiten, 1934 zwei Hefte mit 331 Seiten; 1935 fünf Hefte mit 168 Seiten, 1936 ein Heft mit 112 Seiten. Zum Vergleich: Im Jahr 1923 hatten drei Hefte 560 Seiten enthalten.
Erschwerend kam für die Druckerei hinzu, daß Kraus ein sehr umfangreiches Heft vorbereitete, das er nicht fertigstellte (Kraus arbeitete daran von Mai bis September 1933; der Inhalt erschien erst 1952 - mit einigen Eingriffen - unter dem Titel "Die dritte Walpurgisnacht"); nur Teile davon verwendete Kraus - mit Veränderungen - für das umfangreiche Heft 890-905, das Ende Juli 1934 erschien. Die Druckerei arbeitete, aber ohne verkaufbares Ergebnis: Der Stehsatz band Arbeitspotential, die Leistungen setzten sich nicht in Erlös um. Die Finanzen von Jahoda & Siegel waren durch den Produktionsrückgang und den Rückgang von Einnahmen so beansprucht, daß man einen Kredit aufnehmen mußte, um einen solchen bei Kraus ansuchte und ihn erhielt.

 

DIE DRUCKEREI JAHODA & SIEGEL

"[...] Mitschöpfer, nicht bloß Wirker am Format;
[...] Mitdiener Du am anspruchsvollsten Wort"
['Die Fackel' Nr. 649-656 von Anfang Juni 1924, S. 1: "An meinen Drucker"]

Um die Intensität im Erscheinungsrhythmus der 'Fackel' durchzuhalten (häufiges Erscheinen von einfachen Nummern und selteneres von Mehrfachnummern machten wohl einen ähnlich großen Aufwand aus), war effizientes Arbeiten erforderlich. Die Druckerei hatte den Ansprüchen des Herausgebers an die Texte, die grafische Gestaltung und den Terminplan zu genügen - gewiß keine leichte Aufgabe, der sich jedoch Georg Jahoda, den Kraus ab Herbst 1901 mit der Herstellung der Zeitschrift betraut hatte, und nach dessen Tod 1926 sein Sohn Martin Jahoda sorgsam unterzogen.
Kraus ließ hier nicht nur die 'Fackel' drucken, sondern auch die Programme und Plakate für seine Vorlesungen - deren Herstellung er mit nicht geringerer Genauigkeit überwachte.
In den 20er Jahren wurden die Aufgaben der Druckerei erweitert. War sie schon zuvor Sitz des Zeitschriftenverlags und der Redaktion der 'Fackel' gewesen, firmierte sie ab 1919 auch als "Verlag 'Die Fackel'" und damit auch für Herstellung und Vertrieb der Schriften von Kraus (zuvor waren damit andere Verleger - Leopold Rosner, Albert Langen, Kurt Wolff betraut gewesen, was neben dem von ihm angeregten Geschäft des Verlags Jahoda & Siegel einherging. Jahoda & Siegel druckte auch die Werke Kraus', die im Verlag Richard Lányis herauskamen.
Das Verhältnis zwischen dem Drucker und Kraus verlief nicht ohne Konflikte; sie konnten jedoch das insgesamt offenbar gut eingespielte Zusammenwirken nicht beeinträchtigen. Es dauerte immerhin 35 Jahre. Zu einem möglichst reibungslosen Funktionieren gehörten nicht nur die permanente Disponibilität der Setzer und der Drucker und ihrer Maschinen; Kraus Aufträge hatten zweifellos Vorrang vor allen anderen.
Zudem ließ Kraus viel von seiner Korrespondenz über den "Verlag der 'Fackel'", also von Mitarbeitern der Firma Jahoda & Siegel, erledigen - sowohl die Zeitschrift und die Bücher wie die Vorlesungen oder Aufführungsrechte betreffend. Briefe, die vom "Verlag Die Fackel" [verschiedene Schreibweisen in Büchern und in der Korrespondenz] abgingen und oft nur einen Stempel und eine Chiffre trugen, waren in den allermeisten Fällen von Kraus selbst konzipiert und korrigiert worden. Gewisse Standards der Antworten blieben der Selbständigkeit von Frieda Wacha, der langjährigen ersten Bürokraft für Kraus bei Jahoda & Siegel, überlassen. In jedem Fall jedoch (ob Anruf, Besuch, Brief oder Erledigung von Kommunikationen) mußte sie darüber berichten; viele der Mitteilungen oder vielmehr innerbetrieblichen Fragen an Kraus sind erhalten. Sie zeigen, daß Kraus im Grunde nichts dem Zufall oder fremdem Einfluß überließ.

 

EIN TEXT ENTSTEHT: "WICHTIGES VON WICHTEN"

"Er sagte oft, er habe die kostspieligste Art zu arbeiten."
[Helene M. Kann in: Dokumente und Selbstzeugnisse, Zürich, 1946, S. 18]

"Wichtiges von Wichten" ist zur Gänze eine Reaktion auf Angriffe der sozialdemokratischen und der kommunistischen Emigration. Daß Kraus 1933 geschwiegen und insbesondere daß er im Februar 1934 Dollfuß' brutales Vorgehen gegen die österreichischen Arbeiter unzweideutig bejaht hatte, konnten viele seiner Anhänger, unter denen doch die 'Linken' überwogen, weder verstehen noch verzeihen.
Zielscheiben der Polemik sind hier exemplarisch die im Brünner Exil erscheinende und regelmäßig nach Österreich geschmuggelte 'Arbeiter-Zeitung' - der "Brünner Wisch" - und der kommunistische Publizist Franz Leschnitzer.
Dieser hatte in Radio Moskau Kraus angegriffen (weshalb wohl Kraus in wenig sympathischer Weise wiederholt auf dessen Sprachfehler anspielte) und vermutlich eben diesen Angriff unter dem Titel "Sakrileg an Kraus?" 1935 in der Moskauer Zeitschrift 'Internationale Literatur' veröffentlichte; in der 'Brünner Zeitung' - gegen die und deren Mitarbeiter Sonka (Hugo Sonnenschein) Kraus und seine Erben von 1934 bis März 1938 einen Prozeß führten - erschienen immer wieder Angriffe auf den Satiriker.
Kraus ergriff die Gelegenheit, sich noch einmal deutlich zu führenden politischen Persönlichkeiten des 'Ständestaats' (Ernst Rüdiger Starhemberg, Walter Adam) und damit zu dessen politischen Zielen zu bekennen, den Emigranten generell ein Verkennen der nationalsozialistischen Gefahr vorzuwerfen - "Gehirnpest, Rassenwahn, Religion des Raubes. Heuchelmord" seien mit dem Begriff 'Faschismus' nicht adäquat zu fassen - und insbesondere sich deutlicher als je sonst vom Marxismus als politischer Ideologie zu distanzieren.

Dieser Artikel, der letzte des letzten Hefts der 'Fackel', ist ein Beispiel für zwei wichtige Aspekte der Arbeit von Kraus: Er nimmt mit hartnäckiger Genauigkeit Bezug auf den Streit, der aus der Differenz zwischen seinem peniblem Verhalten und dem aggressiv-beiläufigen eines Journalisten entstanden ist. Er zeigt andererseits, wie Kraus einen kurzen Text - ohne daß man die Motivationen dazu genau belegen könnte - zu einer wilden Tirade größerer Länge entwickelt. Hier münden die Lust zu fabulieren und die Entrüstung über den Anlaß in eine energiereiche Arbeit, die symptomatisch Kraus' Art der Arbeit an seinen Texten zeigt (es sind einige Beispiele der Textentwicklung für die 'Fackel' erhalten, doch dies ist die umfangreichste): Aus der Notiz, die auf drei Blatt mit der Hand geschrieben, im Druck kaum eine Seite ergeben hätte, wird ein vielschichtiger Artikel von 19 Druckseiten. Die Formulierung geschieht jedoch keineswegs in einem Guß; im Gegenteil, Kraus überarbeitet den Text neunzehn Mal (zumindest sind so viele Satzkorrekturen ganz oder teilweise erhalten). Der Text wird nach jeder Korrektur in die Druckerei gesandt und im Satz entsprechend Kraus' Eingriffen in den Text verändert. Der Artikel wächst also schubweise hin zu der Form, die Kraus schließlich als seinen Absichten entsprechend für richtig hält. Über den Zeitraum, den diese Arbeit einnimmt, geben die Satzkorrekturen keine Auskunft (Jahoda & Siegel hat nur den Satz für den Buchdruck mit Datumstempel versehen, nicht jedoch die unzähligen Bürstenabzüge für die 'Fackel'; vermutlich haben beschriftete Umschläge geholfen, Ordnung in den vielen, oft gleichzeitig ablaufenden Herstellungsvorgängen zu halten; und freilich auch das aktuelle Wissen um die Beiträge, resultierend aus der täglichen Arbeit von Kraus und den Setzern und anderen MitarbeiterInnen).

War der erste Entwurf zu diesem Artikel noch in die Umgebung anderer Notizen eingebettet, die im Lauf der Änderungen unterschiedlich verändert, zum Teil auch verselbständigt wurden, bezeichnen Änderungen in den einleitenden Worten, im nun hinzugefügten Titel wie in der Paginierung in der elften Satzkorrektur die Wende zum geschlossenen Essay; spät, wie Christian Wagenknecht analysierte, kommt der gewichtige und grundsätzliche Schluß hinzu, genau auf eine Zeilenzahl hin geschrieben, die Kraus vom Setzer erfragt hat.
[Sigurd Paul Scheichl / Heinz Lunzer]

 

THEATER, VORLESUNGEN, "THEATER DER DICHTUNG"

"Vortrag: Glauben Sie denn wirklich, daß man meine Sachen vorlesen kann? Man kann sie nicht lesen, man muß sie nachlesen."
[Karl Kraus an Herwarth Walden, Brief vom 5. Juli 1909, Kraus-Walden 17]

Eindrücke vom Theater und der Schauspielkunst haben von verschiedenen Seiten her auf Kraus gewirkt.
Da waren die Erlebnisse des jugendlichen Theaterbesuchers (das genaue Gedächtnis Kraus' hat das Gesehene wie das Gehörte lebenslang behalten, etwa den Tonfall eines Schauspielers), die in ihrer Stärke die Bildung eines persönlichen Wertgefüges beförderten. Die Eindrücke vom alten Burgtheater - des Hauses wie der Aufführungen -, das Kraus wohl oft besucht hat (er soll auch an dessen letztem Abend zugegen gewesen sein, als Sonnenthal die Abschiedsworte sprach), die er zum Teil erlebte, zum Teil wohl von Begeisterten erzählt bekam, formten seine Norm der Qualität. Von da her kontrastierte Kraus mit viel Verachtung die Bemühungen des "neuen" Burgtheaters am Ring, wo - in seinen Augen - mit weniger guten Schauspielern unter oft ungenialischer Regie ein Weg zwischen dem klassischen Theater und den modernen Strömungen gesucht wurde. Hier wie auf den meisten anderen Bühnen herrschte auch bei neuen Inszenierungen älterer Stücke (seien sie von Shakespeare, Nestroy oder Offenbach) ein Ton, der Kraus nicht genügte.
Hinzu kamen Lese-, vielleicht auch Vorleseerlebnisse von Texten sowie Erzählungen von Darbietungen jener Theaterwelt, die Kraus selbst nicht mehr erlebte, aber die Generation vor ihm prägte und die zu seiner Lieblingslektüre zählte: Ferdinand Raimund und Johann Nestroy als Schauspieler und Autoren, aber auch Jacques Offenbach, der sich häufig in Wien aufhielt und die Inszenierungen seiner Stücke überwachte.
Zum Vergleich mit dem, was war, schuf Kraus die Vorstellung von dem, was sein könnte - eine phantasievolle Vorstellung vom Theater, das man selbst machte, wo man selbst die Akzente auf das Wesentliche setzen könnte; und dieses war nicht die wild wuchernde Ausstattung, das war die Wirkung der Sprache und der Stimme. Was die Wirkung eines Theaterstücks ausmache, so Kraus, sei nicht so sehr das, was das Publikum sieht; vielmehr das, was der Text, verständlich, eindrucksvoll und dramatisch dargebracht, beim Hörenden auslöse. Nicht ein fertiges, durch geschauten Reichtum verblüffendes Theater, sondern ein im Kopf des Zuhörenden sich realisierendes Gebilde aus sprachlicher Information und evozierten Bildern sei das Wesentliche.
Konsequent fand Kraus für das Theater, das er aus Eigenem schaffen konnte, die Bezeichnung "Theater der Dichtung"; diese mit ihrer über die Sprache transportierten Kraft der Evokation stand im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Die intensive Beschäftigung mit dem Theater schon als Kind ließ im Jugendlichen den Drang wachsen, selbst Theater zu spielen und vorzutragen. Der Versuch mißlang, als Franz Moor in Friedrich Schillers "Die Räuber" an einem Abend im Jänner 1893 im Theater von Schwenders Kolosseum zu reüssieren. Mit Vorlesungen (die erste im Oktober 1892 unter dem reißerischen Titel "'Im Reiche der Kothpoeten' oder 'Zwei Stunden modern'") hatte Kraus deutlich mehr Erfolg, doch setzte er sie nach 1894 vielleicht aus Zeitdruck vorerst nicht fort.
Der Wunsch, Theater zu spielen, verdichtete sich angesichts der Stücke Frank Wedekinds - trotz der Zensur, die die Moral behüten zu müssen glaubte. "Die Büchse der Pandora" erlebte, von Kraus organisiert, zwei Aufführungen auf einer mittelgroßen, gemieteten Wiener Bühne am Ende der Frühjahrssaison 1905: Der Plan, "Der Totentanz" ein Jahr später in einem größeren Wiener Theater aufzuführen, fiel Widrigkeiten der Organisation im Theater, der Zensur und mangelnder Zeit zum Opfer: Kraus hatte gerade seine Begeisterung für das Cabaret mit einer heftigen Rauferei und einem aufregenden Prozeß abgeschlossen.
Zögernd erst fanden die ersten Vorlesungen aus eigenen und Schriften anderer im Jahr 1910 statt; erst in Berlin, dann in Wien, für ein Publikum, das sich nach Ankündigungen in der 'Fackel' melden und auf Namen ausgestellte Karten kaufen mußte. Der Erfolg war so groß, daß von da an die Vorlesungen einen integralen Bestandteil der Publizität von Kraus' Werken und seiner Tätigkeit ausmachten.
Im Verlauf von 26 Jahren hielt er 700 Vorlesungen. Nachdem anfangs oft nur Teile von Theaterstücken gelesen worden waren, ging Kraus in den 1920er Jahren dazu über, ganze Stücke mit allen Rollen vorzutragen, selbst Operetten, bei denen er sich am Klavier begleiten ließ.

 

DAS "ALTE BURGTHEATER"

"Und daß dieser große Chor unserer Jugend verstummt ist, ohne den Jugend zu haben uns heute nicht mehr denkbar scheint: Die Glocke, die Charlotte Wolter hieß; der Hammer, der mit Lewinskys Stimme das Gewissen schlug; und einer Brandung gleich die Rede des Cyklopen Gabillon; Zerlines Flüstern; und Mitterwurzers Wildstroms Gurgellaune; [...] Und aller der Sänger und Instrumente Organ und Manier, deren Verstimmung noch von so eindringlichem Geiste war, daß wir sie bewahren gegen das Gleichmaß, mit dem die Narren der Zeit und der Szene ihre Schellen schlagen."
['Die Fackel' Nr. 391-392 vom 21. Jänner 1914, S. 40: "Das Denkmal eines Schauspielers"]

Das Theater als erste Bildungs- und normgebende Instanz im Staat, das sprachliche und optische Medium, das die erlesensten Produkte des Intellekts vermittelt - für Kraus hatte es noch diese Bedeutung, wie Lessing sie postuliert hatte. Kraus verteidigte diese Rolle, nicht nur traditionsbewußt, sondern auch im Wissen, daß es sich um Kulturgut handle, dessen Verwässerung er als scharfer Beobachter nicht unkritisiert hingehen lassen dürfe. Er hatte das Glück, eine Generation besonders talentierter Schauspieler kennenzulernen - wie weit er sie idealisierte, muß dahingestellt bleiben. Doch die Impulse, die er von ihr in seiner Jugend empfing, sprechen für sie und für ihn.

 

DAS BUDAPESTER ORPHEUM

"Nun, man wird doch da sehen - heißt es in den Stücken jener 'Budapester Orpheumgesellschaft', die nicht nur in den Leistungen der Herren Eisenbach und Rott das einzige reelle Theatervergnügen bietet, das Wien nach Girardi heute zu bieten hat, sondern die auch als das einzige künstlerische Abbild einer Kulturformation, welches heute auf einem Podium gezeigt wird, mit allem Unflat alles überbietet, was die Theater- oder Taschenspielerei der Berger und Reinhardt imstande ist."
['Die Fackel' Nr. 324-325 vom 2. Juni 1911, S. 23: "Distanzen"]

In zwei wichtigen Glossen verglich Kraus das Jargontheater mit der hehren Institution des Burgtheaters; ein Jahr später verstärkte er den Spott gegen die große Bühne und schlug sie mit dem Vorschlag eines glatten Tauschs; Budapester ins Burgtheater. Das war ein wohl nicht unbeabsichtigter Affront gegen Alfred von Berger, den Kraus schätzte, bevor er Burgtheaterdirektor wurde und Harden verteidigte; nun war ihm kein Vergleich zu derb, um gegen die 'Falschheit' der dortigen Schauspielkunst zu opponieren. Die Budapester waren zwar beliebt - aber nicht unbedingt aufgrund ihrer Schauspielkunst oder der künstlerischen Aussage. Attraktion waren die jüdischen Sujets, die Witze und Anspielungen, Sprache und Gestik, die dem Publikum Anlaß gaben, sich lustig zu machen: über die armen Juden, zu denen man nicht mehr gehörte, über die 'Ostjuden', deren angebliche Naivität man hinter sich gelassen hatte, über soziale Ausweglosigkeit, die man nicht teilen mußte. Das jüdische Bürgertum amüsierte sich über seinesgleichen und seine Vorfahren; wohl weniger aus glatter Selbstironie oder heiterer Erkenntnis eines Fortschritts; wohl eher aus Unbekümmertheit über das Schicksal von Mitmenschen; aus einer Position heraus, die scharfe Kritik hervorrief angesichts des weniger bekannten, echten jiddischen bzw. ostjüdischen Theaters und im Bewußtsein der Überheblichkeit, mit der gespielt und die akklamiert wurde.
Kraus' Position überrascht nicht wegen der Drastik des Vergleichs, sondern wegen des Lobs für die "Jargonbühne". Es ist bekannt, daß Kraus nichts gegen trivialere Formen der Unterhaltung hatte - ins "Café Reklame" ging er gern mit Freunden und amüsierte sich über die auf der Bühne des Kaffehauses (nicht zu verwechseln mit der des Trianon-Theaters, das ab 1905 meist "Intimes Theater" hieß, im selben Haus) agierenden Sänger, z. B. den "American Negro-Comiker" Joe Beckles, so wie er 1906 die grellen Darstellungen des "Cabaret Nachtlicht" schätzte, ehe er sich mit dessen Leiter Marc Henry und der Diseuse Marya Delvard spektakulär zerstritt.
Kraus hat sich im Budapester Orpheum nicht nur unterhalten, sondern auch eine positive Einstellung zu dessen Ambivalenz zwischen Amüsement und drastisch-nestroyscher Darstellung gefunden. Hier fand er richtig, was auf dem Burgtheater nur schiefgehen konnte. Und natürlich waren mit dem provokanten Vergleich auch die Journalisten gemeint, die so 'mindere' Kunst nicht mit Rezensionen bedachten; die fast täglichen Hinweise auf die Budapester in den Blättern waren bezahlte Anzeigen und enthielten keine objektive Kritik, sondern nur Werbetexte, was aber jeder Leser wußte.

"Das tonangebende Gesindel, das die Premieren ablaust und dem kein Burg- oder Volkstheaterdurchfall zu uninteressant ist, um darüber Feuilletons zu schreiben und zu lesen, hielte es für 'paradox', und die Behörde selbst würde erschrecken, wenn man behaupten wollte, daß eine 'Singspielhalle' ihre Konzession zu Wirkungen ausnützt, denen in der Ursprünglichkeit, Geschlossenheit und Zielkraft nichts, was heute zwischen Wien und Berlin geleistet wird, und wenig von den Erinnerungen an echte Theaterzeiten verglichen werden kann." ['Die Fackel' Nr. 343-344 vom 29. Februar 1912, S. 18: "Mein Vorschlag"]

 

JOHANN NESTROY

"Journalistische Schmarotzer [...], Operettenwucherer und Coulissiers [...] tummeln sich auf der Scene, die einst Nestroy und einem herrlich verwienerten Offenbach gehört hat."
['Die Fackel' Nr. 1 von Anfang April 1899, S. 15: "Die Vertreibung aus dem Paradiese"]

Nestroy (ebenso wie Shakespeare, Raimund und Offenbach) von Verkürzungen, Verballhornungen und Verstümmelungen, wie sie auf den modernen Bühnen gang und gäbe waren, zu befreien war die erklärte Absicht Kraus'; fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors sah er sich veranlaßt, auf die ursprünglichen Texte, die eigentlichen Intentionen zurückzugreifen und die Kraft der Texte des "größten Satirikers" aufzuzeigen.
Schon in seinen frühen Vorlesungen brachte Kraus Couplets und Szenen aus Nestroys Stücken; ab 1916 trug er auch ganze Stücke Nestroys vor.
Die Art, wie freizügig mit Nestroys Texten umgegangen wurde, war ein Punkt der Kritik. Begleitet wurde sie von der Bemühung, den Überlieferungsstand der Texte Nestroys zu verbessern; es gab unterschiedliche Fassungen nebeneinander - verursacht von den verschiedenen Aufführungen und ihren Geschichten; manche waren nur in Manuskripten und Abschriften erhalten; zu manchen Stücken war die ursprünglich komponierte Musik erst wiederzufinden. (Eine Gesamtausgabe, die den verwickelten Textgeschichten Rechnung trug, wurde erst in den 20er Jahren, von Kraus gefördert, bewerkstelligt.) Doch Kraus' Absicht war es in erster Linie, zum Witz und Spott Nestroys hinzuführen und mit eigenen Zusatzstrophen zu ergänzen. Nestroy selbst hatte oft aktuelle Einschübe in seinen Stücken vorgenommen. Das bildete für ihn das einzige Mittel, um der Theaterzensur zu entkommen und das Publikum mit aktuellen Meinungen zu versorgen - das natürlich in erster Linie kam, um seine Possen, seine satirischen Geschichten und seine pointierten schauspielerischen Fähigkeiten zu erleben, aber die Sentenzen gerne mitnahm.
Die Gelegenheit für Zusatzstrophen dieser Art war auch in Offenbachs Operetten gegeben; Kraus nützte die alte Tradition gründlich, auch wenn keine staatliche Theaterzensur mehr waltete, sondern nur noch die Journalisten lobten oder verdammten.
Auch machte er die kurzfristig eingebrachten (wenn auch nicht gänzlich improvisierten) Texte zum Spannungsmoment für sein Publikum. So erfüllten sie ihre Aufgabe besser als in der gedruckten Form; die Texte seiner Nestroy-Bearbeitungen und seine "Zeitstrophen" verkauften sich nicht so gut wie die 'Fackel', in der allerdings die Theaterstücke nicht erschienen.
Mit dem Druck seiner Nestroy-Bearbeitungen beauftragte Kraus einen anderen Verlag als den der Fackel, nämlich den der Buchhandlung Lányi in der Kärntnerstraße. Es schien naheliegend, Richard Lányi, der seit 1915 die Vorlesungen organisierte und den Kartenverkauf besorgte, auch die Herstellung und den Vertrieb der Textbücher zu überlassen. 1920 erschien hier "Das Notwendige und das Überflüssige. (Nach 'Die beiden Nachtwandler'.) Posse mit Gesang" und 1925 "Der konfuse Zauberer oder Treue und Flatterhaftigkeit. Zauberspiel [...] nach 'Der konfuse Zauberer' und 'Der Tod am Hochzeitstag'".
In den folgenden Jahren wurden auf gleiche Weise auch Kraus' Bearbeitung der Operette "Madame l'Archiduc" von Jacques Offenbach und Albert Millaud veröffentlicht ("Perichole" erschien 1931 im Musikverlag der Universal-Edition, "Vert-Vert" 1932 im Verlag 'Die Fackel') sowie die Texte der Shakespeare-Bearbeitungen - "Timon von Athen" 1930 einzeln, die Sammlungen "Shakespeares Dramen. Für Hörer und Leser bearbeitet" 1934 und 1935 in zwei von vier geplanten Bänden.

 

"VORLESUNG KARL KRAUS"

"Wenn ich vortrage, so ist es nicht gespielte Literatur. Aber was ich schreibe, ist geschriebene Schauspielkunst." ['Die Fackel' Nr. 336-337 vom 23. November 1911, S. 41: "Pro domo et mundo"]

Kraus erlaubte das Fotografieren während seiner Vorlesungen nicht; in München machte er Josef Breitbach den Prozeß, nachdem ihn dieser trotz des bekannten Verbots abzubilden versuchte. Die Negative mußten zerstört werden.
Glücklicher war Tim Gidal, der unentdeckt blieb. In seinen drei Fotografien, am gleichen Tag wie Breitbachs Versuch gemacht, ist die Anspannung des Vortragenden deutlich zu erkennen. Außerdem aber auch das Klavier, an dem an diesem Abend Franz Mittler saß, der Kraus an den Stellen, wo es vorgesehen war, begleitete.
Eine andere Aufnahme ist einige Monate später in Wien gemacht worden, weniger dramatisch, zu Beginn oder Ende der Vorlesung, von oben, ähnlich unscharf.
Dies sind die einzigen Fotografien von Kraus beim Vortrag - sieht man von den ebenfalls eindrucksvollen Standbildern aus dem 1934 gemachten Film ab, der seinerseits die einzigen bewegten Bilder von Karl Kraus bewahrt.
Die Aufnahmen von Joël-Heinzelmann im Jahr 1921 sind hingegen im Atelier entstanden. Man merkt ihnen die Unbewegtheit, die Pose an, eine Ruhe, die noch durch die Zigarre in der Hand unterstrichen wird. Hier trägt niemand vor, hier liest einer still und nachdenklich vor sich hin.
Neben den Porträts, die Oskar Kokoschka von Kraus gemalt hat, die mehr Pose als beredten Vortrag wiedergeben, existieren Bleistiftzeichnungen von Alfred Hagel aus den zwanziger Jahren, die Kraus mit ausdrucksvollen Bewegungen beim Lesen zeigen.
Der junge Fritz Lang war zeichnerisch tätig, ehe er zum Film ging, und wie Hagel ein glühender Verehrer von Kraus. Er brachte eine Zeichnung zu Lányi, um sie für den Druck einer Ansichtskarte zu verwenden - was zwar geschah, aber mit Folgen: "Karl Kraus never forgave me for that."

Es war Herwarth Walden, der Kraus den Vorschlag machte, seine Texte öffentlich zu lesen, um ein neues Publikum für die 'Fackel' in Deutschland zu gewinnen. Daher fanden die ersten drei Veranstaltungen in Berlin statt, im Jänner 1910; ihr Erfolg bewog Kraus, Gleiches in Wien zu versuchen.
Vorsicht war geboten, denn Kraus wollte ein Publikum erreichen, das aus 'Fackel'-Lesern wie aus neu zu begeisternden Menschen bestand, aber er wollte in keinem Fall die konventionelle Kulturindustrie der Presse zu Werbung und Berichterstattung benützen. Als Veranstalter wählte er eine gut funktionierende studentische Organisation, den Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien; als Ort den Festsaal des Ingenieur- und Architekten-Vereins in der Eschenbachgasse (den er auch später oft benützte) und eine relativ komplizierte Form des Kartenverkaufs: Die Fackel kündigte an, daß man sich schriftlich beim Akademischen Verband anmelden möge, um Karten für die geschlossene Veranstaltung zu erhalten. Der Ertrag war wohltätigen Zwecken gewidmet. Auf dem Programm standen zum Teil noch nicht veröffentlichte Texte.
Die Grundkonzeption - Werbung für die in der 'Fackel' enthaltenen Autoren - blieb bestehen; der Erfolg ließ die zögernd begonnene Aktivität zu einem zweiten Schwerpunkt werden; in 36 Jahren gab Kraus 700 Vorlesungen, davon über 400 in Wien und über 100 in Berlin. Er wechselte die Säle - je nach den Inhalten und dem zu erwartenden Publikum - und sprach vor Schülern wie vor Arbeitern. Obwohl das Publikum seine eigenen Schriften am liebsten hörte, tendierte Kraus zu fremden Texten, die er bekannt machen (etwa Werke seiner Mitarbeiter in der 'Fackel') oder mit denen er besondere Aussagen verbinden wollte (etwa mit dem Ernst blutrünstiger Dramen Shakespeares oder mit der in Nestroys Possen versteckten Zeitkritik).
Im sechsten Jahr seiner Vorlesungen - nun brachte er auch ganze Theaterstücke - nahm sich Kraus vor, ein Theater zu gründen, das den Namen des unübertrefflichsten aller Theaterautoren tragen sollte; doch aus dem Plan der Shakespeare-Bühne wurde nichts - vielleicht auch deshalb, weil es Kraus in den Kriegsjahren drängte, ein möglichst breites Spektrum von Weltliteratur zum Vortrag zu bringen. Gewiß auch aus finanziellen Gründen. Diese waren erneut im Wege, als 1930 von einem Personenkomitee um den Architekten Karl Jaray zur Gründung einer permanenten Bühne und einer Schauspielertruppe aufgerufen wurde. Der Erfolg der Inszenierungen für den Rundfunk hatte dazu ermutigt. Es blieb bei dem seit 1925 so benannten "Theater der Dichtung", in welchem Kraus Texte, selbst alle Rollen eines Theaterstücks, allein oder höchstens mit Klavierbegleitung vortrug. Das gelang ihm nach Aussagen des ihn adorierenden Publikums ganz vorzüglich; er sprach vermutlich die meisten Texte auswendig. Seine Stimme und seine Ausdruckskraft waren reich an Abwechslung, beherrschten die sanftesten und die wildesten Texte, waren unglaublicher Steigerungen fähig - wie die Film- und Tonaufnahmen so etwa von Hauptmanns "Hanneles Himmelfahrt" auch einem heutigen Publikum, das einen ganz anderen Redestil gewohnt ist, eindrucksvoll beweisen.

 

JACQUES OFFENBACH

"Und die unnachahmliche Doppelzüngigkeit dieser Musik, alles zugleich mit dem positiven und dem negativen Vorzeichen zu sagen, das Idyll an die Parodie, den Spott an die Lyrik zu verraten; die Fülle zu allem erbötiger, Schmerz und Lust verbindender Tonfiguren - hier erscheint diese Gabe am reichsten und reinsten entfaltet. Es ist der Gipfel eines Genres, worin sich das Unnatürliche so von selbst versteht wie daß im Versdrama Leben und Sterben im Hochschritt des Sprachgedankens geschehen. Enthielte dieses Werk nichts als den musikalischen Champagnertaumel des Domestikenfestes [...], so wäre es noch immer ein Schatz der heiteren Bühne. Aber es enthält unter all den Perlen die Briefarie der Metella, jenes unbeschreiblich süße Gedicht, das den entfernten Schreiber - den armen Baron Frascata, der im Norden von den Pariser Seligkeiten träumt und an deren Spenderin den Überbringer empfiehlt - in seinem rührenden Nichtvorhandensein zu der einprägsamsten Gestalt des Stückes macht. Dies, als einen der stärksten Augenblicke, die das Bühnendasein überhaupt kennt, und alles rund herum, was da aus den Abenteuern der Herren Gardefeu und Gondremark gediehen ist, die als solche unsereinen sonst blutwenig angingen, reklamiere ich als "Theater der Dichtung" im besten, edelsten Sinne."
['Die Fackel' Nr. 757-758 vom April 1927, S. 47f: "'Offenbach-Renaissance'"]

An Offenbachs Operetten faszinierte Kraus vor allem die ungemein reiche Musik, aber auch die Texte, die vor keiner Institution zurückschrecken und alles der Satire unterwerfen, ob antike oder moderne Götter, Herrscher, Märchen, die Technik oder die falsche Moral.
Die Begeisterung für das, was Kraus im Carltheater und im Theater an der Wien an Aufführungen erlebte, hielt ein Leben lang, verstärkt durch das intensive Kennenlernen der Offenbachschen Vielfalt. Jene Inszenierungen trugen noch deutlich die Prägung der Theaterarbeit des Meisters, der ab den sechziger Jahren häufig in Wien war und die deutschsprachigen Uraufführungen etlicher seiner Werke selbst betreute und dirigierte.
Die Kraft seiner Werke war sofort vom alten Nestroy erkannt und umgesetzt worden (zuerst in unautorisiert aus den Klavierauszügen nachkomponierter Musik, bald vertraglich abgesichert in den kompletten Orchesterfassungen und in Übersetzungen von Karl Treumann und Julius Hopp). Die Werke Offenbachs wurden in Wien meist noch im Jahr der Pariser Uraufführung produziert und waren so beliebt, daß mehrere Theater einander mit den Erfolgen Konkurrenz machten (wenn auch Eduard Hanslick häufig Kühle in seinen Kritiken walten ließ). Wiener Komponisten und Textdichter waren rasch und geschickt zur Stelle, den Trend zu nutzen, allerdings mit dem Ergebnis, daß innerhalb weniger Jahrzehnte das Feld der Operette tief trivialisiert war; simple Musik überbot noch simplere Texte (freilich zum Gaudium eines anspruchslosen Publikums), was Kraus als gräßliche Kulturlosigkeit und als Sakrileg an der Operette anprangerte.
Die alte Schönheit, die Tiefen und den Witz der Texte hielt er dem entgegen, selbst unter weitgehendem Verzicht auf die Wirkung von Orchester und Gesang - er, der mitreißend vortrug und im Sprechgesang viel von der Musikalität der Partien vermitteln konnte, ließ sich von ausgezeichneten Pianisten (wie Otto Janowitz, Georg Knepler, Franz Mittler) am Klavier begleiten.
Von den über hundert Operetten Offenbachs bearbeitete Kraus vierzehn, zumeist ausgehend von den alten Textbüchern, oft mit aufwendiger Recherche, um unter den verschiedenen französischen Versionen die Intentionen der Textdichter und Offenbachs herauszufiltern, sodaß das Ergebnis zumeist als Übersetzung, nicht nur als Bearbeitung bezeichnet werden könnte.
Den Anfang machte 1926 "Blaubart", rasch gefolgt von "Die Großherzogin von Gerolstein", "Pariser Leben", "Die Seufzerbrücke", "Die Prinzessin von Trapezunt", "Fortunios Lied", "Die Schwätzerin von Saragossa", "Perichole" und hin bis zum letzten für das "Theater der Dichtung" aufbereiteten Stück, "Die Kreolin" im November 1935.
Mit diesem Werk verband Kraus ein besonderes Erlebnis: Die amerikanisch-französische Schauspielerin Josephine Baker, die ihn während ihrer Tournee in Wien im Jahr 1928 begeistert hatte, spielte in einer Pariser Produktion 1934 die Rolle der Dora in "Die Kreolin". Mittels einer Telefonübertragung aus Paris erlebte Kraus Teile der Aufführung, wie er stolz im Vorwort zu seiner letzten öffentlichen Vorlesung [V. 689] betonte. Kraus wählte dieses Werk jedoch nicht nur wegen der bewunderten Baker; es diente ihm auch als Gleichnis für die Gegenwart der Verfolgungen in Hitler-Deutschland, wo Farbige und Juden entrechtet wurden, worauf er in einigen Zeitstrophen ausdrücklich Bezug nahm.

 

THEATER-UND RUNDFUNKAUFFÜHRUNGEN

"Seine außerordentliche Begabung für das Theater ließ Karl Kraus bis jetzt leider gänzlich brach liegen. Er wäre der erste, der dem Schauspieler den Weg zu der Darstellungskunst zeigen könnte, die unsere Zeit fordert. [...]"
[Frank Wedekind in: "Rundfrage über Karl Kraus". Innsbruck, 1917, S. 14]

Wie rasch die Grenzen des Spielbaren am Theater erreicht sind, erfuhr Kraus an fast allen seinen eigenen Stücken; mehr noch als Aspekte zu geringer Bühnenwirksamkeit waren politische Rücksichten Grund für die geringe Zahl von Aufführungen; allerdings hat Kraus die meisten Stücke gerne selbst vorgetragen und so verbreitet.
Zur Spielbarkeit seines "Stücks für ein 'Marstheater'", "Die letzten Tage der Menschheit", verhielt er sich selbst ambivalent; einmal kokettierte er mit der Rücksicht auf die Aufführungschancen, denen zuliebe rund 20.000 Szenen ungeschrieben geblieben wären. Einmal wollte er dem Gedanken einer Aufführung nicht nähertreten, dann wieder gab er Hinweise zur Auswahl von Szenen, die gelesen einen oder zwei Abende füllen könnten. Das Stück hatte jedenfalls zu Lebzeiten des Autors nur Erfolg in gelesener Form, nicht als Theaterstück auf der Bühne. Nur der Epilog "Die letzte Nacht" gelangte zur Aufführung (1923 auf der Neuen Wiener Bühne); ein Gastspiel in Prag wurde von der 'Deutschen Zeitung Bohemia' verhindert; 1930 wurde das Stück einmal auf der Versuchsbühne des Theaters am Schiffbauerdamm in Berlin gebracht, mit der Musik von Hanns Eisler.
"Traumstück", ein Dramolett, das (ähnlich wie "Die letzten Tage der Menschheit" den Krieg in typisierenden Gesprächsszenen) die junge Republik kritisiert, ist öfters von Kraus vorgetragen, aber nur selten aufgeführt worden - 1924 in Berlin und Wien (Regie: Berthold Viertel, "Die Truppe"), 1928 in München unter heftiger Bedrohung durch die Nationalsozialisten.
"Wolkenkuckucksheim", das auf Grundlage der "Vögel" von Aristophanes entworfene "republikanische Weihefestspiel", wurde mehrfach angekündigt und zuletzt 1929 zur Aufführung in Berlin vorbereitet; keines dieser Vorhaben kam zustande.
Das kurze Spiel "Traumtheater" ist der Erinnerung an Annie Kalmar gewidmet; es wurde mit dem "Traumstück" 1924 in Berlin und Wien gespielt.
Auch die politische Satire gegen Békessy und Schober, "Die Unüberwindlichen", wurde zuerst von Kraus gelesen und dann gespielt: 1929 in Inszenierungen vom "Studio Dresdner Schauspieler" und von der "Berliner Volksbühne", jedoch nur jeweils einmal. In Dresden drohte Camillo Castiglioni mit einer Klage, was die Absetzung des Stücks bewirkte; in Berlin erzwang der österreichische Gesandte, wohl im Auftrag seines Vorgesetzten, Bundeskanzler Schobers, das Unterbleiben weiterer Aufführungen.
Die "magische Operette" "Literatur oder Man wird doch da sehn" blieb ungespielt; sie war in erster Linie eine literarisch-satirische Replik innerhalb der Polemik gegen Franz Werfel und nicht dafür konzipiert, die Bühnen zu erobern.

Die Offenbach-Renaissance war besonders geeignet für eine Umsetzung im Hörfunk - der jungen Alternative zu den Printmedien. Zwölf Stücke Offenbachs realisierte die Berliner "Funk-Stunde" in den Jahren 1930 bis 1932; es lagen ihnen Kraus' Bearbeitungen zugrunde, der Autor führte die "Wortregie"; für den musikalischen Teil, der größer als in den Vorlesungen dimensioniert werden konnte, waren seine Mitarbeiter, vor allem Georg Knepler, verantwortlich. Radio Wien brachte nur eine Produktion unter der Regie von Kraus zustande: 1932 "Madame l'Archiduc"; um so wichtiger waren dem Wiener Kraus-Publikum die Übertragungen von anderen Sendern, zu denen zum Teil wie zu öffentlichen Darbietungen eingeladen wurde.
"Perichole" wurde 1931 in der Berliner Staatsoper aufgeführt - mit dem Text von Karl Kraus nach den beiden französischen Fassungen von Henry Meilhac und Ludovic Halévy.
Mehrere andere Bühnen im deutschsprachigen Raum wollten die Textversionen von Kraus für ihre Aufführungen verwenden; sie glaubten jedoch, mit Kraus' Text so freizügig umgehen zu können wie mit allen anderen und negierten damit die Akribie, mit der er dem von Offenbach intendierten Eindruck möglichst nahe zu kommen beabsichtigt hatte. Alarmiert durch den Mißbrauch, sandte Kraus Beobachter zu den Produktionen, die ihm Abweichungen von seinem Buch berichteten; in manchen Fällen erschien ihm der Umgang mit dem Text so sorglos, daß er gerichtliche Schritte gegen die Aufführungen unternahm; die negativen Erfahrungen waren schließlich so groß, daß er ab 1932 keine weitere Benützung seiner Texte mehr erlaubte.
Der Plan einer festen Theatergruppe, die im Sinn des "Theaters der Dichtung" spielen sollte, konnte nicht realisiert werden (1929/1931); ebensowenig der eines Tonarchivs, das zu gründen schon 1924 angeregt worden war.
Immerhin wurden auf Initiative der "Neuen Truppe" in Berlin, zumeist wohl im Zusammenhang mit den Hörfunkproduktionen, einzelne Tonaufnahmen angefertigt, die als Schallplatten teilweise in den Handel kamen, teilweise als "Privatpressungen" gesammelt wurden und so Kraus' Stimme in wenigen kostbaren Beispielen hörbar erhielten - so wie der 1934 gedrehte Film einen Eindruck von seiner Dramatik im Vortrag und in der Gestik vermittelt.

 

SHAKESPEARE

"Shakespeare hat alles vorausgewußt. Die Dialog-Stellen aus 'Maß für Maß' und 'Lear', die ich dieser Betrachtung als Motto erwählte, enthalten, so gruppiert, das letzte Wort, das über die Moral, die jenen Process ermöglichte und blähte, zu sagen ist, und selbst die unernste Meinung, daß auch die Namen einer Stadt und eines Advokaten vorgeahnt sind, soll meinen Glauben an die in alle Fernen reichende divinatorische Kraft des Genies beweisen. [...]"
['Die Fackel' Nr. 115 vom 17. September 1902, S. 3f: "Sittlichkeit und Criminalität"]

So ungebrochen, ohne Distanzierung oder Verschränkung, geradezu apodiktisch war die Bewunderung Kraus' für Shakespeare, stark wie für keinen anderen Dichter. Shakespeare-Zitate gelten wie eigene Worte, sie werden als "Einschöpfung" verstanden und verwendet - mehr noch: Sie enthalten für Kraus die Kraft, dort wieder Worte zu finden, wo das Entsetzen lähmt.

Was ist das Besondere an Shakespeare - neben der hohen künstlerischen und dramatischen Potenz? Warum stellt Kraus ihn derart auf ein Podest, an das allenfalls, aber nicht in allen Fällen Goethe oder Jean Paul oder Schiller heranreichen? Ist es die zeitunabhängige Verallgemeinerbarkeit, die den Wert für die Gegenwart ausmacht?
Die Rolle des Bewunderers blieb keine passiv empfangende. Sie enthielt dort einen kreativen Anteil, wo die Aneignung stattfand, nämlich in der Übersetzung: Kraus beschäftigte sich nicht mit dem englischen Original (er beherrschte diese Sprache nicht) - er tauchte in das Material, indem er unterschiedliche Übersetzungen ins Deutsche studierte, verglich und aus ihren Schöpfungen seine eigene "Komposition" generierte, weniger nah am Wortwörtlichen klebend als manche Übersetzer, dafür mit souveränem Blick auf die Aussage. Kraus übersetzte die Sonette und etliche Dramen. Die Sprachschöpfung in ihrer von den klassischen Übersetzern (insbesondere August Schlegel und Ludwig Tieck) tradierten Form nicht zu verbessern, sondern zu erhalten (jene "Flügel, die ein Wort bekommen hat"), keinesfalls zu verzerren oder zu verwerfen. Sie herauszuarbeiten, um sie optimal verstehen und genießen zu können war Kraus' Ziel, in Vortrag und Lektüre. Kraus hob also in seinen Übersetzungen den Widerspruch zwischen Ehrfurcht vor dem Wort des Dichters und Bearbeitung auf: auf dem Weg zur "Urform". Damit meinte er nicht eine Bearbeitung des Texts im literaturwissenschaftlichen Sinn, sondern das Ziel, die der Idee am geeignetsten entsprechende sprachliche Gestalt zu finden.
Als Kraus 1916 eine Vorlesung von "Die lustigen Weiber von Windsor" ansetzte, galt es, den 300. Todestag Shakespeares zu feiern - ein bewußter Akt gegen die ausländerfeindliche Stimmung der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg. Zugleich viel mehr als der Widerstand gegen das bis zur Absurdität propagandistisch forcierte Deutschtum (man denke nur an von Eindeutschern betriebene Bezeichnung "Treubruchnudeln" für Spaghetti): Kraus' Initiative, die bis zur Idee ging, ein "dekorationsfreies Shakespeare-Theater" zu gründen, war auch eine Antwort auf das revueartige Gepränge der Inszenierungen Max Reinhardts und wollte zu den in seinen Augen unzulänglichen Produktionen am Wiener Burgtheater einen Kontrapunkt setzen. Was Kraus an positiven Charakteristika des Theaterspielens in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts erlebt und erkannt hatte, brachte er in seine Bearbeitungen und in seine Vortragskunst ein. Einen Schwerpunkt 'Shakespeare' in seinen Vorlesungen verwirklichte Kraus Mitte der 20er Jahre, als er ganze Vortragszyklen aufs Programm setzte. In ihnen stand das gehörte und erlebte Wort im Zentrum der Aufmerksamkeit, das "Theater der Dichtung" im Gegensatz zu einem Theater der Schaulust.

Je weniger Hoffnung die Politik gab, desto intensiver wandte sich Kraus dem Werk Shakespeares zu. Es war ein Spiegel, in dem Brutalität und das Unvermögen Einzelner so dargestellt waren, daß sie einem Publikum zeigen könnten, wohin das Fehlen von Werten, Verantwortungslosigkeit, Eigennutz führen.

"Die Wahrheit ist, daß vor dem Weltuntergang, dem wir heillos überantwortet sind - welchen politischen Namen und Vorwand die Lumperei immer führen mag, die die Macht erringt -, daß da nichts übrig bleibt als die Flucht in die geistigen Dinge, solange Gewalt, Gestank und Geräusch sie nicht völlig versperren [...] in das Theater der Dichtung und in die Sprachlehre [...]"
[F 845, 1930, 3]

Merkwürdig berührt die Koinzidenz, daß Kraus angesichts der beiden ungeheuerlichsten Ereignisse, die er erlebte, bei Shakespeare Zuflucht suchte und sich seiner Jugend, seiner eigenen "Ursprünge" erinnert; beides mit großer Intensität; beides mit jeweils neuen sprachlichen Mitteln. Während des Weltkriegs faßte er seine Theater- und Naturerlebnisse in lyrischen Formen; in den letzten 'Fackel'-Heften berichtete er von frühen Theatererlebnissen einschließlich seiner schmerzlichen, negativen Erfahrung als Schauspieler des Franz Moor, über die er bis dahin geschwiegen hatte.

Wiederholt strich Kraus den Sinngehalt des Rückzugs heraus (der nicht das bequeme buon retiro eines Intellektuellen war, sondern die Position der Verzweiflung); in der grundsätzlichen (manchmal durchbrochenen) Weigerung, eigene Schriften vorzutragen; in der Fassung neuer Schwerpunkte in der 'Fackel' (Shakespeare, Theater, Sprache); schließlich in einem Brief an Sidonie Nádherný, der sein letzter wurde:

"Die Weltdummheit macht jede Arbeit - außer an Shakespeare - unmöglich."
[BSN 1, 782, letzter Brief vom 15./16. Mai 1936]

 

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Claudia Bitter – Die Sprache der Dinge

14.09.2020 bis 25.02.2021 Seit rund 15 Jahren ist die Autorin Claudia Bitter auch bildnerisch...

Tipp
LITERATUR FINDET STATT

Eigentlich hätte der jährlich erscheinende Katalog "DIE LITERATUR der österreichischen Kunst-,...

OUT NOW flugschrift Nr. 33 von GERHARD RÜHM

Die neue Ausgabe der flugschrift des in Wien geborenen Schriftstellers, Komponisten und bildenden...