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Leseprobe 2
Sich in Düsseldorf zur Mittagszeit mal richtig satt zu essen, war keine Kunst, aber ich stocherte nur lustlos in meiner Lasagne. Nach einem abschließenden Espresso blieb ich träge und immer noch wütend in der Pizzeria gegenüber meinem Erbe sitzen und überlegte.
Während des Essens hatte ich ausreichend Gelegenheit, mir einen ersten Eindruck von der Nachbarschaft zu machen. Edel ging anders, aber die Gegend war gut genug, dass ich sicher einen anständigen Preis für das Haus erzielen würde. Das Gebäude sah gut gepflegt aus, hatte Parkplätze vor der Tür und offensichtlich auch auf einem Hof, den ich von meinem italienischen Sitzplatz aus nicht einsehen konnte. Laufkundschaft gab es eine Menge, auch wenn niemand einen Blick in die großen Schaufenster von Fit Ladies im Erdgeschoß warf. Viel Betrieb herrschte dort nicht, lediglich eine einsame Rothaarige lief verbissen auf einem Laufband. Gut sah sie aus, ihr straffer Körper war in aufreizend eng anliegenden Stoff gezwängt, und ihr zuzusehen, wie sie zielgerichtet Meile um Meile nirgendwo hinmarschierte, als sei sie mit ihren Gedanken ganz woanders, hatte etwas erstaunlich Beruhigendes.
Früher waren Lu und ich viel gewandert, wir waren im Urlaub mit unseren Rucksäcken von Gasthof zu Gasthof gelaufen. Die ersten Kilometer hatte ich immer gehasst, aber dann, wenn ich merkte, wie die Muskeln meiner Waden ihren Rhythmus fanden, hätte ich mich ewig von ihnen weitertragen lassen können. Inzwischen empfand ich schon den Gang zum Briefkasten, der ganz am Ende unserer langen Hofeinfahrt aufgestellt war, als Herausforderung. Lu bestand jedoch hartnäckig darauf, dass ich mich um die Post kümmerte und nannte das zynisch mein Sportprogramm.
Lu. Meine Güte, ich musste ihn anrufen, er ahnte ja gar nicht, was geschehen war. Schnell fummelte ich das Handy aus meiner Tasche, die eher einem kleinen Seesack glich und vollgestopft war mit nutzlosem Kram und Müsliriegeln für den Notfall.
Burg, meldete sich nach endlosem Klingeln schließlich ein piepsiges Stimmchen, das erst in einigen Jahren eine männliche Note bekommen würde.
Hallo, Till, mein Schatz! Hier ist Mama! Wie geht es dir?
Oh, Mama! Hallo! Mir gehts super! Ich habe eben einen Seestern gefunden und darf ihn behalten!
Ich sah förmlich das arme Tierchen in Tills Plastikeimerchen herumtreiben und verzweifelt nach einem Ausgang suchen. Vielleicht wirfst du ihn gleich einfach zurück ins Wasser, damit er seine Familie finden kann, was meinst du?
Nein! Tante Yvonne hat gesagt, er hat keine Familie mehr und ich muss ihn retten!
Tante Yvonne. Soso. Unsere kleine Meeresbiologin. Ganz großartig.
Wo ist Papa? Kannst du ihn mal ans Telefon holen?
Das geht nicht, der bringt Tante Yvonne schon den ganzen Morgen das Schwimmen bei, damit sie nicht ertrinkt. Das ist gefährlich hier, weißt du? Man muss ganz schön aufpassen, wenn die Wellen einen rausziehen. Becky und ich können ja schwimmen, aber Tante Yvonne nicht. Die quietscht immer und geht dann unter. Deshalb muss Papa sie festhalten und ihr zeigen, wie das geht, dass sie über Wasser bleibt.
Tills fröhliches Geplapper jagte mir eine Gänsehaut über den Körper. Vielleicht sollte ich diese ganze Erbschaft doch schnellstens vergessen und nach Holland fahren, um mich selbst mal ein bisschen um Yvonnes Schwimmunterricht zu kümmern. Schön weit draußen.
Ich zwang mich durchzuatmen und meiner Stimme einen fröhlichen Klang zu geben. Und, was habt ihr sonst so gemacht?
Ach, Becky sammelt Muscheln, die anderen sind reiten. Mama, ich muss jetzt aufhören, mein Seestern hat Hunger. Tschüüühüüüß!
Zack, weg war er.
Vor der Geburt der Jungen hatte ich mir das Rauchen abgewöhnt und schon seit Jahren trank ich keinen Alkohol mehr. Was für ein Fehler! Nichts ersehnte ich im Augenblick mehr, als einen Cognac und eine Zigarette. Folgerichtig riss ich die Hand hoch, als der Kellner in meine Richtung blickte, und bestellte entsprechend. Ehe er mich darauf aufmerksam machen konnte, dass Rauchen im Restaurant nicht möglich sei, nickte ich bereits und verlagerte meinen Standort nach draußen, unter einen der breiten Sonnenschirme.
Mit zitternden Fingern fummelte ich eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie mir zwischen die bebenden Lippen und zündete sie an. Der warme Wind ließ mich unbeholfen vier Streichhölzer verschwenden. Komisch, dass man das Anzünden von Zigaretten verlernen konnte. Ich hatte immer gedacht, damit sei es wie mit dem Fahrradfahren, das man angeblich nie mehr verlernte. Nur ungesünder.
Hustend tat ich meine ersten Züge nach bald neunzehn Jahren. Den ekelhaften Geschmack im Mund spülte ich mit kleinen Schlückchen des wirklich hervorragenden Cognacs hinunter. Sofort stiegen mir der ungewohnte Alkohol und das Nikotin in den Kopf und sorgten dort für die ersehnte schwipsige Leere.
Was hatte mich Lu gefragt? Ob ich noch an unsere Träume dachte? Meistens nicht, das gab ich zu, aber jetzt löste die Kombination von längst vergessenen Suchtstoffen eine Welle der Erinnerung aus. Wie viele Nächte hatten wir bis in die frühen Morgenstunden an einem Strand in Holland gesessen, eine Flasche Rotwein geleert, uns unter einem funkelnden Sternenhimmel in den Dünen geliebt und die Zigarette danach genossen? Niemals, das wusste ich genau, war dabei die Rede davon gewesen, dass Lu einer Fremden das Schwimmen beibringen würde, sobald ich ihm den Rücken zudrehte.
Als ich endlich nach etlichen weiteren Zigaretten und zwei zusätzlichen Cognacs über die Straße zu Fit Ladies torkelte, hatte sich das bisschen Lasagne in meinem Magen zu einem Stein verhärtet und mir war zum Kotzen schlecht. Der durchtrainierte Rotschopf marschierte nach wie vor eisern im Schaufenster Richtung Wand.
Ich drückte die Tür auf und sofort begrüßte mich kühle Luft. Oh Gott, tat das gut! Schnell sah ich mich um und suchte eine Sitzgelegenheit. Ich entdeckte aber nur eine Bar am anderen Ende des großen Raumes, mit ein paar Hockern davor. Egal. Ich war so verzweifelt, ich hätte mich auch auf einen Melkschemel gesetzt.
Zielstrebig und ohne zu grüßen, marschierte ich durch das Studio, hievte mich auf einen Hocker und klammerte mich mit letzter Kraft an den Tresen. Keine zehn Pferde würden mich hier wieder wegbekommen.
Was kann ich Gutes für Sie tun?
Ich drehte mich ein wenig um, damit ich die Rothaarige vernünftig begrüßen konnte, die mich mit dem Blick einer professionellen Fitness-Trainerin einschätzte. Als Nächstes würde sie mir sicher ein Übungsprogramm anbieten, das damit begann, dass ich nie wieder etwas aß.
Mein Name ist
, setzte ich an, bemerkte aber sofort, dass ich lallte. Oh Gott, ich war ja richtig betrunken! Als ich mich erheben wollte, rutschten zu allem Überfluss auch noch meine Füße unkontrolliert von der Stütze des Barhockers und meine Beine versagten mir für einen peinlichen Augenblick den Dienst.
Ups! Schnell sprang die Schöne auf mich zu und griff mir beherzt und mit überraschend kräftigem Griff zielstrebig unter meine schweißnassen Achselhöhlen.
Mein Gott, das ist mir aber unangenehm, murmelte ich und ließ mich von ihr ohne Gegenwehr zu einem nahen Sportgerät führen, auf das sie mich langsam hinunterließ.
Legen Sie sich hin, ich hole ein Glas Wasser.
Willenlos sank ich zurück. Großartig. Hier lag ich also nun wie ein hilfloser Maikäfer auf dem Rücken und blamierte mich bis auf die Knochen.
Trinken Sie!, befahl die Trainerin. Sie schob ungefragt einen ihrer muskulösen Arme unter meinen Kopf und hielt mir ein großes Glas Wasser an die Lippen. Ausgerechnet. Dennoch nahm ich einen Schluck, dann einen zweiten und weitere, bis sie endlich das leere Glas entfernte und ich mich wieder zurücksinken lassen konnte.
Was für ein seltsamer Tag. Mein Vater war aus dem Grab gestiegen, um mich zu verarschen, meine Mutter hatte mich ihr Leben lang belogen und eine geile Brünette versuchte meinen naiven Gatten zu verführen. Zu allem Überfluss hatte ich geraucht und mehr Alkohol in mich geschüttet, als ich vertrug.
Gehts wieder?
Ich glaube ja, danke, sagte ich leise und versuchte mich vorsichtig aufzurichten.
Ich hole noch etwas Wasser, Sie sind ja vollkommen ausgetrocknet.
Mir lief der Schweiß aus allen Poren, das erschien mir das Gegenteil von Dürre. Ich nahm ihr jedoch das Glas ab und leerte es in einem Zug. Irgendwie schien die geschmacklose Flüssigkeit den Alkohol in meinem System zu verdünnen. Kann ich noch eins haben?, fragte ich zaghaft.
Aber natürlich, einen Augenblick.
Mit jedem Schluck ging es mir besser. Mir war zwar noch schwindelig, aber ich konnte wenigstens wieder vernünftig durchatmen. In Gedanken schickte ich ein Stoßgebet ans Universum, dass bitte keine Kunden kämen. Es war schon schlimm genug, dass meine Mieterin mich so sah. Ich war inzwischen sicher, dass es Barbara Luchser war, die mich bemutterte. Sie hatte etwas von der Souveränität, die nur Chefinnen ausstrahlten.
Sind Sie Frau Luchser?, fragte ich etwas unsicher.
Ja, die bin ich.
Mein Name ist Susanne Sandig, ich bin
Susi?!
Verwirrt starrte ich sie an. Niemand hatte mich so genannt, seit ich ins Internat gekommen war und man dort beschloss, fortan sei ich Susanne und nicht mehr Susi.
Ich bins! Babsy!
Ich verstehe nicht.
Meine Güte, bin ich froh, dich wiederzusehen! Sie machte ein paar Schritte zurück. Dabei beäugte sie mich kritisch. Dann hellte sich ihre Miene auf und sie klatschte in die Hände.
Oh, Susi! Es ist so schön, dass wir uns nun wiederhaben! Mach dir keine Sorgen, jetzt wird alles gut, darauf kannst du dich verlassen.
Ich konnte meiner wild gewordenen Mieterin nicht folgen, und ich hatte nicht das Gefühl, als läge das an den drei lächerlichen Cognacs, die ich nicht vertragen hatte. Nein, mein Kopf war klar und trotzdem ergab nichts von dem, was diese Fremde von sich gab, einen Sinn.
Widerwillig wuchtete ich mich hoch. Genug war genug.
Es tut mir fürchterlich leid, sagte ich ein wenig atemlos, aber da sprang sie mir an den Hals und drückte mich.
Resolut befreite ich mich aus der Umarmung und sah sie etwas verärgert an. Nun kommen Sie bitte mal wieder runter, ja? Sie müssen mich mit jemandem verwechseln, ehrlich. Ich kenne Sie nicht, wirklich nicht!
Das glaubst du!, strahlte sie und faltete glücklich die Hände wie zum Gebet. Wir haben uns ja auch seit mehr als vierzig Jahren nicht gesehen. Ich war damals nur soooo groß! Sie zeigte etwa auf Kniehöhe. Und du warst schon ein Schulkind!
Ich schüttelte den Kopf und sah mich unauffällig nach meiner Tasche um. Es wurde Zeit, dass ich hier verschwand. Die hatte sie nicht mehr alle. Unauffällig machte ich mich auf den Weg zu meinem Barhocker. Das Gehen klappte noch nicht so gut, wie ich es erhofft hatte, mein Kreislauf schien noch nicht begriffen zu haben, dass wir uns im Fluchtmodus befanden.
Hören Sie, sagte ich freundlich und angelte nach meinem Beutel. Ich ließ die Verrückte dabei nicht aus den Augen. Ich muss leider wieder gehen. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben. Vielleicht sieht man sich ja mal irgendwann wieder.
Barbara Luchser runzelte die Stirn. Was heißt das, du willst gehen? Du bist doch gerade erst gekommen.
Ja, das stimmt, nickte ich verkrampft und hangelte mich unsicher von Sportgerät zu Sportgerät Richtung Tür. Mein Gott, was war nur los mit mir?
Susi?
Was?, antwortete ich instinktiv. Verdammt, fluchte ich in Gedanken, sie machte mich ganz bekloppt.
Du kannst nicht einfach gehen.
Ich blieb wie vom Donner gerührt stehen. Sicher zielte sie jetzt mit einer Waffe auf meinen Rücken. Das hatte man davon, wenn man zu dick oder zu besoffen war, um einfach wegzurennen. Ich spürte, wie ich langsam sauer wurde. Es konnte ja sein, dass ich etwas behäbig war, aber wenn jemand meinte, mich deshalb gegen meinen Willen festhalten zu können, dann würde der mich kennenlernen.
Und wieso nicht?, fragte ich und hoffte, dass meine Stimme einen schneidenden und gefährlichen Ton hatte. Wütend verkrallte ich eine Hand in meinen Beutel, das Einzige, womit ich mich gegen die Irre wehren konnte.
Als ich mich langsam umdrehte, stand sie gelassen mit verschränkten Armen hinter mir.
Wieso nicht? Das musst du wirklich fragen? Ich bin doch deine Schwester, verdammt noch mal!
Meine was?
Deine Schwester! Willkommen zu Hause, Susi!
Sie fiel mir lachend in die Arme, gerade früh genug, um mich aufzufangen, ehe ich endgültig zu Boden glitt.
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