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Leseprobe 3
Ich kann nicht mehr! Schwankend ließ ich mich von dem Laufband rückwärts tragen und in den Raum spucken.
Na schön, genug für heute, gab Babsy nach und wir gingen hoch in unsere kleinen Wohnungen. Ich duschte, dann fiel ich stöhnend aufs Bett. Oh Gott, ich war so müde!
Seit einer Woche übernachtete ich nun bei Babsy in Düsseldorf und schuftete tagsüber mit ihr und den anderen im Tierheim am Niederrhein. Mein Körper war ein einziger Muskelkater. Außerdem kam es mir vor, als müsse ich mehr essen, als ich es ohnehin schon tat. Das war natürlich Blödsinn, ich aß nur anders. Dennoch war ich meistens pappsatt, meine blöden Müsliriegel hatte ich längst entsorgt. Es gab keinen kleinen Hunger mehr zwischendurch, es gab überhaupt keinen Hunger mehr! Im Gegenteil, an manchen Abenden hätte ich gut auch ohne Abendessen ins Bett gehen können und hatte das einmal sogar auch getan, aber mit der Konsequenz, dass ich am nächsten Morgen ein Kilo mehr und nicht eins weniger auf die Waage brachte.
Glaubst du mir jetzt, wie wichtig es fürs Abnehmen ist, abends etwas Eiweißhaltiges zu essen?
Ja, ja, ja.
Inzwischen wusste ich, dass sie mich nach einer Insulin-Trennkost mästete, aber das war mir wurscht. Es wirkte, es fühlte sich nicht an wie eine Diät und ich spürte, dass ich auf dem richtigen Weg war. Trotzdem, zwischendurch hing mir die Fresserei zum Hals raus! Immerhin schüttete ich mittlerweile täglich auch noch mindestens zwei Liter Wasser in mich hinein, wenn nicht mehr. Klaus hatte bereits ein neues Loch in meinen Gürtel gestochen und Barbara jagte mich grinsend jeden Morgen nach dem Aufstehen auf die große Waage und notierte sich gewissenhaft jede Veränderung meines Gewichts. Inzwischen lag es bei 93 Kilo.
Trotz meiner allabendlichen Erschöpfung fühlte ich mich tagsüber ungewöhnlich lebendig. Morgen für Morgen lief ich auf dem Laufband neben meiner Schwester meine Übung ab, Abend für Abend noch mal. Babsy hatte es sich in den Kopf gesetzt, meine Wadenmuskeln zum Verbrennungsmotor meiner Fettreserven zu machen und sie ließ sich einfach nicht beschwatzen.
Ernährung ist das eine, Bewegung das andere, beharrte sie. Etwas Ausdauersport kann nicht schaden und Gehen ist genau das Richtige für dich.
Gehen! Dass ich nicht lachte! Die ersten Laufbandübungen waren langsam und wohltuend gewesen, wie ein entspannter Spaziergang am See. Aber kaum hatte ich mich darauf eingestellt, da stellte sie das Gerät schneller ein. Nicht mehr lange und ich würde traben.
Mir taten die Arme weh. Frustriert rieb ich meine Ellbogen. Ich hatte heute wieder den Stall der Fohlen ausgemistet. Na gut, da war nicht viel zu misten, aber Stroh blieb Stroh und das wog halt, ganz zu schweigen von der blöden Mistgabel, wenn man den Umgang mit dem Ding nicht gewohnt war. Ich durfte gar nicht daran denken, wie viel Arbeit es war, die Ställe sauber zu halten, wenn die Pferde im Winter von der Koppel kamen. Das Letzte, was ich mir allerdings zuziehen durfte, waren ein Tennisarm oder eine Sehnenscheidenentzündung.
Klaus war am Freitagmorgen nach Holland gefahren, um sich mal ein wenig nach meinem Mann umzusehen. Der hatte mich nicht einmal zurückgerufen, nachdem ich die SMS geschrieben hatte. Stattdessen kam nur ein Dreizeiler. Seine lapidare Antwort lautete:
Alles bestens, wie immer. Gutes Wetter, gute Stimmung. Bis bald. Lu
Hatten wir uns eigentlich nichts mehr zu sagen und ich hatte es nur noch nicht bemerkt? War diese Minimalkommunikation inzwischen unser Standard? Oh Himmel!
Der Gedanke, wie viel er mit Yvonne lachte und schwatzte, während ich mit zehn lausigen Wörtern abgespeist wurde, hatte mich so wütend gemacht, dass ich die erste Ladung Brombeeren, die ich mit Babsy am Heim pflückte, vor Wut auf den Boden warf und hemmungslos zertrampelte.
Gott sei Dank hatte ich genug Arbeit, um mich abzulenken.
Am Montag kam der Tierarzt. In dem Moment, als der Wagen des Veterinärs auf den Hof fuhr, war kein Hund mehr zu sehen. Gemeinsam suchten wir sie in allen Verstecken, die infrage kamen, und führten jeden einzeln Barbara und dem Scharfrichter vor. Bei den Katzen war es kaum anders. Die sich sträubenden Tiere einzufangen und ins Haus zu tragen, erforderte starke Nerven und einen langärmeligen Pullover, den ich nicht hatte. Paul war so nett, mir seinen zu leihen, dennoch sahen meine Hände anschließend so aus, als wäre ich psychisch krank und würde mich ritzen.
Nach den Hunden und Katzen waren die Schweine dran. Die großen ließen sich problemlos untersuchen, aber die kleinen sprachen sich ab und flitzten wie geölte Blitze immer wieder zwischen meinen Beinen durch, wenn ich mich bückte, um sie zu fangen.
An dem Abend war ich so platt, dass ich beinahe mit dem Kopf in meinen Salat fiel, als Barbara und ich uns nach dem Laufbandtraining endlich zum Essen in ihrer Küche trafen.
Erzähl mir von deinem Mann!, forderte sie mich auf, um mich irgendwie wachzuhalten, aber mir wollte nichts einfallen, außer, wie anstrengend unser Leben gewesen war, als die Kinder klein waren und wir noch umbauten. Ich gähnte an einem Stück, also gingen wir schlafen.
Tagsüber kümmerte ich mich um die Fohlen, während Paul schlief, er übernahm dafür die Nachtschicht. Es würde noch ein paar Wochen dauern, bis sie langsam auf Eimerfütterung umgestellt werden konnten.
Die meiste Zeit verbrachte ich jedoch bei den dichten Brombeerhecken. Beim Pflücken half Barbara am Ende doch nicht mit, und während ich die Früchte in der Küche pürierte, mit dem Gelierzucker verrührte und langsam aufkochen ließ, war ich auch alleine. Jedes Mal, wenn ich von einem der heißen Gläser die frischen Marmeladenkleckse abwischte und nach dem nächsten griff, musste ich an Lu denken.
Es war zum Verrücktwerden, ich hatte mich völlig in die Vorstellung verrannt, dass ich meinem Mann zunehmend gleichgültig wurde. Dabei benahm er sich genauso wie seit Jahren. Im letzten Sommer hatten wir in sechs Wochen auch nur sechsmal telefoniert. Damals war ich aber auch nicht so bescheuert gewesen, ihm zum Zeitvertreib eine frisch geschiedene männergeile Mutti einzupacken.
Ich war infolgedessen nicht besonders gesprächig, wenngleich zu allen freundlich, selbst zu Paul. Stundenlang zuzusehen, wie Obst zerkochte, zermürbte mich jedoch und ich dachte ernsthaft daran, aufzugeben und heimzufahren. Klaus schien das zu spüren und sprach mit Barbara, sodass ich nach meiner Brombeer-Orgie schließlich in der Krankenstation helfen durfte. Es war zwar nur Putzen, aber immerhin. Außerdem sollte ich Carola bei den Schweinen zur Hand gehen, aber sie war mir gegenüber immer noch sehr reserviert, seit ich die Schlacht-Frage gestellt hatte.
Unser Verhältnis besserte sich, als sie mich dabei erwischte, wie ich den Wasserschlauch in das Schlammloch hielt, in dem sich die Tiere so gerne suhlten. Wir hatten eben erst gemeinsam gegessen, die anderen waren dran mit Spülen, und ich hatte nichts zu tun, daher wanderte ich ein wenig umher und nuckelte an meiner Wasserflasche. Da sah ich, wie trockener Staub aufstieg, als sich ein paar Ferkel quiekend durch die sonst so matschige Kuhle jagten. Ich hatte beobachtet, wie Carola sie wässerte, also griff ich nach dem langen Schlauch und drehte das Wasser auf. Plötzlich stand sie neben mir.
Süß, oder?
Das kannst du wohl laut sagen, sagte ich.
Wusstest du, dass Schweine unglaublich intelligent sind?
Das hatte ich nicht gewusst, aber mich wunderte inzwischen nichts mehr.
Sie sind auch ausgesprochen sauber, selbst wenn man das kaum glauben kann, wenn sie so aussehen wie jetzt. Da mochte sie recht haben, sauber ging anders, dachte ich, als die Schlammschichten auf den Körpern der Schweine in der Sonne bereits wieder zu trocknen begannen. Man kriegt sie sogar stubenrein, wenn man will. Und sie gehorchen aufs Wort, wenn sie entsprechend erzogen werden.
So einiges, was ich in den vergangenen Tagen erfahren hatte, arbeitete in meinem Kopf, aber noch kam ich mir vor, als würde ich Ferien auf dem Bauernhof erleben und vermied es geflissentlich, tiefer einzutauchen in das Thema Tierschutz. Jeder hier war sehr darin involviert, und wenn sie aus Lindas Büro kamen, in dem sich die kleine Gruppe mehrmals am Tag zu Besprechungen traf, dann waren sie alle unwahrscheinlich ernst und in sich gekehrt. Ich hatte festgestellt, dass ich in solchen Momenten am ehesten etwas Falsches fragen oder sagen konnte, und ich ahnte, dass dort oben im Haupthaus hinter der verschlossenen Tür unseres ehemaligen Gästezimmers selten Themen auf den Tisch kamen, die Heiterkeit verbreiteten.
Kann ich nicht wenigstens mal zuhören?, fragte ich Klaus zwischendurch einmal.
Später vielleicht. Noch ist es zu früh.
Wofür zu früh?
Für dich.
Was meinte er damit? Hatte er Angst, ich könne den anderen erzählen, wie gut mir das kleine Stück Fleisch schmeckte, das ich mir allabendlich briet, weil Babsy darauf bestand? Auch wenn ich sicher war, dass die Stücke, die sie mir wortlos hinlegte, täglich kleiner wurden, als wolle sie mich langsam entwöhnen? Wurst gab es in meinem Leben schon nicht mehr, sollte ich nun auch auf Fleisch verzichten? Oh nein, dachte ich, kommt nicht infrage. Ich war eh schon auf Entzug, einmal war ich nachts sogar aufgewacht, weil ich von Mettbrötchen mit Zwiebeln geträumt hatte.
Barbara, Klaus, Linda und Paul lebten vegetarisch, Carola und Richard sogar vegan, wenn ich das richtig beobachtet hatte. Sie rührten nichts an, was in irgendeiner Form mit tierischen Produkten zu tun hatte.
Wir diskutieren unsere Essgewohnheiten nicht mehr, das gibt zu viel Stress, teilte mir Barbara auf der Rückfahrt mit, als ich sie danach fragte. Solange kein Fleisch ins Haus kommt, bleibt es friedlich. Aber wir hatten hier auch schon ganz andere Zustände. Krieg eigentlich.
Ich war fassungslos. Und wer hat gewonnen?, fragte ich naiv.
Niemand. Wenn es um unsere Nahrung geht, dann gibt es nur Verlierer, und das sind leider immer noch unsere Nutztiere und alle Lebewesen, die sich der Mensch meint, in den Mund stopfen zu dürfen.
Na gut, dann frage ich andersrum. Wann wurde der Krieg beendet?
Als Klaus auf den Tisch schlug und alle aufforderte zu gehen, die sich nicht an die Regel halten wollten, dass wir keine Nahrungsdiktatur erlauben. Du kannst niemanden dazu zwingen, seine Einstellung zu ändern. Mit Druck geht das nicht weder in die eine noch in die andere Richtung. Sie zögerte einen Augenblick. Aber es ging nicht nur ums Essen.
Haben hier also vorher noch mehr Leute gearbeitet?
Ja, sicher doppelt so viele. Es kamen immer mehr, die über die sozialen Netzwerke von unserem Heim erfuhren, alle wollten helfen, jeder wollte mitmischen, es war unerträglich.
Diese Idioten, sagte ich und schüttelte den Kopf.
Sei nicht so voreilig. Das waren weiß Gott keine Idioten. Sie waren nur zum Teil so kompromisslos, dass man schon sagen konnte, sie seien radikal gewesen. Das ging manchmal auf Kosten der Tiere. Du kannst deine Energie nicht mit Scheingefechten vergeuden und meinen, es bliebe noch genug übrig für die Tiere. Oder für dein übriges Leben.
So ein Stress wegen ein paar Viecher?, wollte ich fragen, aber ich verkniff mir diese Bemerkung noch im allerletzten Augenblick. Was wäre denn, wenn jemand anderer als Paul mir bei der Versorgung der Fohlen hätte reinreden wollen? Er war ein unglaublich geduldiger Lehrer und brachte mir täglich mehr bei. Wenn nun jemand dahergekommen wäre, der alles, was Paul für richtig hielt, infrage gestellt hätte, wie hätte er sich dann wohl gefühlt?
Am Mittwoch kamen zwei neue Hunde im Tierheim an. Vollkommen verschreckt kauerten sie in ihren Transportboxen. Barbara hatte sie sofort in den Behandlungsraum bringen lassen und sie beide gründlich untersucht. Dann brachte sie sie in einen großen Zwinger.
Warum lässt du sie nicht mit den anderen frei laufen?, fragte ich.
Weil sie versuchen würden abzuhauen.
Aber sie kämen doch nicht weit, höchstens bis zum Außenzaun.
Das stimmt, deswegen ist der oben übrigens so gebogen, den nehmen sie nicht so leicht in einem Satz, sonst machen ihnen nämlich zwei Meter nichts aus. Nein, wir halten sie zurück, bis Daniela mit ihnen gearbeitet hat. Sie müssen erst sozialisiert werden.
Daniela stellte sich noch am selben Nachmittag als eine sehr ruhige und völlig auf Angsthunde spezialisierte Frau heraus. Sie schien mir etwas kontaktscheu, aber bald fand ich heraus, dass sie einfach keine Lust und auch keine Zeit hatte, sich mit uns Menschen aufzuhalten, wenn es galt, verstörten Hunden zu helfen. Ich beobachtete fasziniert, wie sie nach ein paar Worten mit Barbara schnurstracks in den großen und vom Rest des Tierheims abgetrennten Bereich verschwand, in dem auch die Zwinger waren.
Wenn du zuschauen möchtest, dann gerne, aber bleibe im Krankenzimmer, setz dich ans Fenster und mucks dich nicht. Keine schnellen Bewegungen, sprich sie und die Hunde nicht an, halte dich einfach zurück, verstanden?
Ich verbrachte an jenem Tag jede freie Minute auf einem Stuhl in der Krankenstation, von wo aus ich dieser Frau dabei zusah, wie sie im Zwinger umherging, sich den verängstigten Tieren mal seitlich näherte, sie mal zart berührte, immer im Wechsel, nie zu lang, alles in kurzen Dosierungen. Zwischendurch setzte sie sich auf ein Kissen und schlug die Beine unter, dabei sprach sie mit monotoner leiser Stimme, ohne sich nach den Hunden umzusehen.
Ich verließ meinen Fensterplatz ungern, aber das ließ sich leider nicht verhindern, und als ich zum Mittagessen ging, fragte Paul kauend: Haben sich die Hunde schon gerührt?
Nein, antwortete ich und beeilte mich mit dem Essen. Ich wollte nichts verpassen.
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