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Leseprobe 1
Die Liebe ist Deichmann und du bist ein Schuh, erklärt mir mein Jüngster unvermittelt beim Frühstück. Obwohl im ersten Moment bin ich nicht sicher, ob er wirklich mit mir spricht oder aber mit seinen Cornflakes, denn er hält den Blick gesenkt, während er redet. Seine volle Aufmerksamkeit scheint auf die letzte verbliebene Frühstücksflocke konzentriert. Er jagt sie mit einem Suppenlöffel durch die Milch wie ein Walfänger einen Meeressäuger.
Wie bitte?, erkundige ich mich. Es ist erst ein paar Tage her, dass ich mich von meinem letzten Lebensabschnittsgefährten getrennt habe. Obwohl man das eigentlich nie so nennen kann, denn ich bin ein regelrechter Beziehungsnomade. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass mich mein Leben im Rondell des Grauens voll und ganz ausfüllt. So nämlich nennen meine Geschwister und ich den Bereich um unseren Reihenhausblock herum, in dem wir in drei Generationen Tür an Tür leben.
Meine vier Brüder, deren Freundinnen und Kinder sowie meine Eltern und natürlich Helga halten mich ordentlich auf Trab. Dafür bietet mir aber auch immer irgendjemand die dankbare Option, ihn für die eine oder andere gescheiterte Beziehung verantwortlich zu machen, sodass mein Gewissen meist nahezu unbefleckt bleibt, während ich mein Lotterleben mit serieller Monogamie bereichere.
Jedenfalls lebe ich seit einer knappen Woche wieder allein mit meinen beiden Söhnen. Den jüngeren, der mir gegenüber am Frühstückstisch sitzt, betrachte ich nun stirnrunzelnd. Ich hoffe, mich verhört zu haben. Vielleicht ist die Liebe seltsam und ich bin eine Kuh. Mit dieser Aussage könnte ich mehr anfangen.
Mein Sohn wiederholt seinen Satz jedoch wortgetreu, während er Moby Crisp mittels Löffelspitze an den Rand der Cornflakesschüssel treibt. Nun liegt der Wal halb auf dem Trockenen, klebt in erbarmungswürdiger Haltung an der weißen Keramik und kann nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Ein fieser Hinterhalt.
Die Liebe ist Deichmann und du bist ein Schuh, murmelt er und führt seine Feststellung um einen Atemzug weiter aus: Vielleicht musst du Tausende Schuhkartons öffnen, um das passende Gegenstück zu finden. Das kommt auf den Laden an.
Oh, antworte ich nichtssagend. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er mich doch nicht in sein Gespräch mit der Schüssel integrieren will. Ein Zustand, den es aufrechtzuerhalten gilt, denn wenn ich mich direkt angesprochen fühlte, wäre ich unsicher, wie ich reagieren sollte. Ich schelte mich schon dafür, überhaupt nachgehakt zu haben.
Ehrlich gesagt finde ich es toll, wieder die uneingeschränkte Vollmacht über die Fernbedienung zu besitzen in der wenigen Zeit, die mir bleibt neben meiner Arbeit als erfolgloser Autorin und vor allem meiner unfreiwilligen Funktion als Dreh- und Angelpunkt in einem Pulk von einem knappen Dutzend blutsverwandter Irrer plus Helga von gegenüber. Auch, wenn ich jetzt keinen anständigen Fernseher mehr habe, weil ich den zusammen mit seinem formalen Besitzer vor die Tür gesetzt habe, sodass ich mich mit einer popeligen Bildröhren-Spende aus der Nachbarschaft begnügen muss, die reichlich verloren auf dem Pressholz-Board von POCO kauert. Für Letzteres habe ich immerhin einen saftigen Mitleidsrabatt ausgehandelt. Den dazu notwendigen Blick beherrsche ich nahezu perfekt. Um ihn zu lernen, habe ich viele Stunden vor dem Körbchen meines Hundes verbracht mit mahnend erhobenem rechtem Zeigefinger, einem halben Pfund Rheinischer Schinkenwurst in der Linken und einem strengen Bleib! auf den Lippen.
Neuerdings bestimme ich auf jeden Fall wieder allein über die Badetemperatur. Niemand schnarcht mich nachts um das bisschen Schlaf, das meine Familie mir lässt, oder brabbelt mich gleich morgens mit nervtötenden Belanglosigkeiten in diese spezielle Art von Wachkoma, ausgelöst durch einen Automatismus, der sich bei mir einschaltet, sobald Schlagworte wie Fußball oder Motorwäsche fallen. Ich entscheide allein, was am Abend auf den Tisch kommt. Ich koche selbst und ab und zu extra ungesund, aber dafür schmeckt es dann richtig gut. Wenigstens manchmal. Im Haus trage ich wieder Jogginghosen, Sport-BH und Wollpullover und in der Öffentlichkeit wieder eine entspannte Miene. Weil niemand neben mir herumsteht, mithört und keine Gelegenheit verpasst, seine Besitzansprüche auf mich zu erwähnen und zwar mit einer Penetranz, die mich befürchten lässt, dass er mir gleich an den Knöchel pinkelt, um mich als sein Eigentum zu markieren.
Apropos markieren: Mein Hund darf wieder im Garten toben, ohne Gefahr zu laufen, ein Ohr an den sabbernden Rottweiler meines Ex zu verlieren. Ich spare eine Menge Zeit, weil ich nicht ständig hinter dieser dementen Töle hersaugen und -wischen muss. Zeit, die ich meinen konsequent wechselnden Hobbys, meiner Arbeit, meinen halbwüchsigen Söhnen und meinen Freunden widmen kann. Oder eben der Fernbedienung.
Theoretisch.
Mein jüngerer Sohn zeigt sich von all diesen Vorzügen völlig unbeeindruckt und versucht seit Wochen, mich an alles zu vermitteln, was menschlich und männlich ist: an langjährige Freunde, an den Bio-Bio-Leichtkost-Frost-Mann, den Postboten, den Paketzusteller, den Heizungsinstallateur, diverse Prominente, Lehrkräfte, Kassierer, den Tankwart ...
Nicht nur in dieser Hinsicht ist er absolut kritiklos und sehr direkt, womit er mich schon einige Male in große Verlegenheit manövriert hat. Ich hoffe sehr, dass diese Phase bald vorübergeht.
Dass er nun den Kopf hebt und mich erwartungsvoll über seine Schüssel hinweg ansieht, während er den frisch erlegten Zerealienwal in seiner Mundhöhle zwischenlagert, beeinträchtigt meine Hoffnung darauf leider immens. Offenbar hat er sehr wohl mit mir gesprochen und wartet nun auf eine Antwort, obwohl er streng genommen überhaupt keine Frage gestellt hat.
Muss ich die alle anprobieren?, erkundige ich mich hilflos. Ich weiß, dass es eine blöde Frage ist. Schuhe probieren keine Schuhe an. Aber er übergeht meinen Logikfehler gnädig.
Bei den meisten sieht man sofort, dass es nicht passt. Er winkt ab, wobei aus seiner Stimme die gesammelte Weisheit aus elf Jahren und drei Tagen Lebenserfahrung klingt. Dann runzelt er die Stirn, schiebt sich den Zeigefinger in den Mund und versucht, Moby Crisp, der sich verzweifelt an seinen Gaumen klammert, seinem Schicksal entgegenzuführen, während er hinzusetzt: Es sei denn, man ist betrunken oder sehr verwirrt.
Oh, wiederhole ich und transplantiere das Bild, das er mit seinen Worten malt, auf meinen Lebenslauf. Demnach war ich eindeutig zu oft bei Deichmann und zweimal sogar so verwirrt oder betrunken, dass ich den Laden schließlich mit fremden Schnürsenkeln verlassen habe. Mein erster Sohn ist vier Jahre älter als der Kleine.
Ich möchte das Thema nur ungern vertiefen und versuche verlegen, davon abzulenken. Was machen wir denn heute?, erkundige ich mich wie beiläufig, während ich meinen Toast mit drei Schichten Haselnusscreme bestreiche und sich der Zerealienwal unter Einsatz von ein wenig Geschick und etwas mehr Gewalt mit einem schnalzenden Geräusch von seinem rosigen Gaumen löst und unhörbar, aber spürbar schreiend mit der Fluke voran in seine Speiseröhre hinabstürzt. Jonas und der Wal sind quitt, denke ich.
Keine Schuhe kaufen, schlägt mein Schnürsenkel vor und schenkt mir ein schelmisches Grinsen. In der SonderBar tritt heute dieser Siggi von Vote Deine Nummer Eins auf. Den würde ich mir gerne mal ansehen.
Einverstanden, willige ich ein. Ich bin froh, dass das Schuhthema damit vorerst abgewendet ist. Als ich das tiefgründige Lächeln entdecke, das sich in seine eiswasserblauen Augen geschlichen hat, lange ich über den Tisch und nötige ihn, meinem eindringlichen Blick standzuhalten, indem ich ihn am Kinn packe und sein Gesicht weit in meine Richtung ziehe. Aber ohne Verkupplungsversuche, ermahne ich ihn.
Das Lächeln löst sich mit einem unhörbaren Plopp! und seine Schultern sinken einen Dezimeter tiefer.
Ohne Verkupplungsversuche?, wiederholt er enttäuscht. Offenkundig wirft diese Auflage seinen Freizeitplan ordentlich durcheinander.
Keinen Einzigen, bestätige ich. Ich bin lesbisch.
Seit wann?, entfährt es ihm perplex. Seine Überraschung wirkt aufrichtig. Ernüchternd, was mein Sohn mir so alles zutraut. Aber ich lasse mir den ohnehin nur leichten Schrecken nicht anmerken.
Ab sofort, erkläre ich. Also?
Also gut, willigt er niedergeschlagen ein, und während er kopfschüttelnd nach Milch und Kakao greift, ziehe ich mich an den Schreibtisch zurück.
Es ist Samstag und bis zum Abend habe ich nicht besonders viel vor. Ich kann vielleicht noch ein paar Zeilen in irgendeine Datei hacken, ehe ich in den zweifelhaften Genuss eines Kneipenauftritts eines übergewichtigen, wahrscheinlich nicht unerheblich übergeschnappten ehemaligen Superstar-Kandidaten gelange. Hatte ich erwähnt, dass ich mit wechselndem Erfolg leidenschaftliche Kinder- und Jugendbuchautorin bin? Bin ich jedenfalls.
Was schreibst du denn gerade?, verlangt mein Sohn schlürfend zu wissen.
Ich überlege kurz. Eigentlich arbeite ich gerade an einem Abenteuerroman, der um das Jahr 80 v. Chr. in Großbritannien spielt. Aber solange mein Jüngster noch frühstückt, werde ich mich kaum auf historische Zusammenhänge, keltische Lebensart und römische Arroganz konzentrieren können.
Ich denke, ich schreibe ein Buch über uns, entscheide ich spontan. Eine Geschichte über das Leben mit deinem Bruder und dir im Rondell des Grauens.
Dann sind danach alle Leute beleidigt, die du kennst!, gibt mein Sohn zu bedenken. Allen voran die Helga!
Ich benutze Fantasienamen. Ich winke ab.
Au ja, freut sich mein Sohn. Dann möchte ich bitte Cengiz heißen!
Schengitz?
Cengiz, verbessert mich mein Sohn.
Kein Mensch liest ein Buch über einen Jungen, der Schengitz heißt.
Aber ... Er will protestieren, doch ich schneide ihm mit einer Geste das Wort ab. Ich kann sehr resolut sein.
Kein Aber, entscheide ich. Du bist und bleibst mein Sohn, Sohn.
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