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Leseprobe 1 - Auszug aus Kapitel 8
Wieder eine Nebelbank. Der Wagen machte einen Satz, offenbar war der Rappe gegen ein Hindernis geprallt, denn man hörte sein Wiehern und einen Schrei, doch schon ging die wilde Fahrt weiter, durch grau und schwarz, schwarz und grau, und sie waren nur noch tatenlose Passagiere auf dieser Fahrt. Manchmal machte Tristran den Versuch, die Fahrt irgendwie zu lenken, aber das Pferd reagierte nicht, es raste in halsbrecherischem Tempo weiter. Nebel und Schnee wechselten sich ab, und mitunter wurden Kirja und die beiden anderen so sehr durchgerüttelt, dass nur noch ihre Hände sie am Wagen hielten, ehe sie wieder auf die schmale Bank zurückgeschleudert wurden. Kirja umklammerte Flocke so fest, dass ihr das Tier durch den Stoff in die Finger zwickte, aber sie ließ es nicht los, nicht einmal, als der Wagen plötzlich zuerst einen Satz machte und dann so abrupt anhielt, dass Juna und Kirja den Halt verloren und nach vorn aus dem Wagen geschleudert wurden. Kirja kam hart auf den Boden auf, überschlug sich, schrammte über Geröll und spitze Steine. Sie spürte ein scharfes Brennen an den Armen und einen dumpfen Schmerz im Rücken. Das Käuzchen unter ihrem Kleid versuchte wild mit den Flügeln schlagend zu entkommen, es kreischte schrill und panisch und Kirja nahm es rasch zur Beruhigung in beide Hände, während sie versuchte, sich zu orientieren. Wo war der Wagen? Wo Juna? Die Berge um sie herum verstärkten das Grollen der Schattenluchse, sodass die junge Frau nicht hören konnte, ob Juna oder Tristran nach ihr riefen, und sie selbst wagte es ebenso wenig, ihre Stimme zu erheben. Sie tastete stattdessen nach der Phiole und dem Beutel mit den Scherben, beides war unversehrt, ebenso wie Flocke, die nun wieder ruhig in ihrer Hand saß. Die Erleichterung darüber blieb Kirja im Hals stecken, als jemand den Stiefel auf sie setzte und ihr die Luft aus den Lungen presste. Sie unterdrückte den erschrockenen Aufschrei, konnte aber ein Aufkeuchen nicht verhindern. In dem Moment erklang ein Befehl, der es übertönte, und das, was immer auf ihr gestanden hatte, lief weiter, gefolgt von anderen Schritten, begleitet von einem leisen, wie aus der Ferne hallenden Gewitter. Kirja rollte sich zusammen und hoffte, dass man sie für einen Felsen halten würde. Ihr weißes Haar steckte unter der Kapuze, das Käuzchen saß neben ihrem Gesicht auf dem Boden. Vielleicht würden die Schiefernen sie ein weiteres Mal übersehen, sie für einen Felsen halten. Wenn es nur Juna gutging, und Tristran. Dem Rappen. War da nicht ein Wiehern im Nebel zu hören? Dann aber erklang wieder das Grollen, durchmischt mit einem Fauchen, das Kirja nie zuvor gehört hatte. Die Angst ließ sie zittern und sie kämpfte dagegen an. Das Zittern würde sie verraten. Fels bewegte sich nicht. Sie machte sich noch kleiner. Flocke knabberte tröstend an ihrer Nase. Etwas stieß ihr in die Seite, offenbar ein Soldat, denn dem Tritt folgte ein Fluchen, doch der Mann schien nicht zu bemerken, dass der Fels weicher war als Stein. Kurz darauf streifte sie etwas Großes, der scharfe Gestank nach Raubtier stieg ihr in die Nase, aber auch der Schattenluchs schenkte ihr nicht mehr Beachtung als der Soldat, sodass Kirja sich ein kleines Aufatmen erlaubte. Offenbar tat ihr Kleid wieder seinen Dienst, sie zu verbergen. Dann aber zerriss ein Schrei das Grollen, teilte die Welt in ein schönes Eben und in ein schreckliches Jetzt und Kirja meinte, selbst in tausend Stücke zu zerbrechen. Die Welt erstarrte um sie herum, jedes Geräusch verstummte. Nichts schien mehr Bestand zu haben, bis sich der eben gehörte Schrei auf Kirjas Lippen wiederholte. Sie stand plötzlich auf den Beinen ohne sich zu erinnern, aufgesprungen zu sein. Am Rande nahm sie wahr, dass ihre Kapuze vom Kopf gerutscht war, ihr weißes Haar legte einen leuchtenden Schimmer auf mattgraue Rüstungen und reflektierte sich in den überrascht aufgerissenen Augen der Männer, die diese Rüstungen trugen. Ohne nachzudenken, schlug Kirja den ihr am nächsten stehenden Mann ins Gesicht und war an ihm vorbei, ehe er seiner Überraschung Herr werden konnte. Ein Brüllen ertönte, ein anderer Schieferner aus den hinteren Reihen befahl seinem Schattenluchs, ihr hinterherzujagen, Soldaten hechteten zur Seite, um dem riesigen Tier Platz zu machen. Wer es nicht rechtzeitig schaffte, wurde gnadenlos von den Pranken der Raubkatze getroffen. Schatten, die über sie hinwegglitten, sagten ihr, dass über ihr Nebelschleiereulen flogen, und schon stießen die Eulen auf sie herab. Die Schnäbel und Krallen rissen an ihren Haaren und verlangsamten so ihre Schritte. Blindlings schlug sie nach den Tieren, doch kaum hatte sie eine in die Flucht geschlagen, kam die nächste. Die junge Frau schlug Haken, wich Nebelschleiern aus, ehe daraus eine Eule wuchs, die Krallen nach vorn gestreckt wie zum Fangen einer Maus. Sie konnten Kirja ebenso wenig aufhalten wie die Schiefernen, die sie überholte. Stellte sich ihr doch jemand entgegen, rannte sie mit schier unmenschlich wirkenden Schritten an ihm vorbei, brachte ihn mitunter zu Fall. Einige Male flackerte kurz ein Schmerz in ihren Gedanken auf, sie achtete nicht darauf und lief weiter. Selbst die Schattenluchse bekamen sie nicht zu fassen, vier Tiere waren es, die sich hinter ihr brüllend einen Weg durch die Soldaten bahnten. Der Schrei auf ihren Lippen trug Kirja durch die Nebelwelt und plötzlich war da Wind, der ihr die Eulen aus dem Haar pflückte und sich den Schiefernen entgegenwarf. Aus dem Schrei wurde ein Lachen, das irgendwo zwischen Erleichterung und Wahnsinn anzusiedeln war und dann endete das Nebelfeld. Schneeflocken empfingen sie. Der schnelle Lichtwechsel verwirrte sie einen Augenblick, aber Kirja ließ sich nicht aufhalten. Hinter ihr griffen die Nebel nach ihr, lange, efeurankenartige Finger aus Grau suchten einen Weg vorbei an dem Wind, und kurz wirkte es, als würde der Schnee am Nebel ziehen, um ihm zu helfen. Von irgendwo kam ein Blitz und tauchte die Umgebung in grelles Licht. Kirja entdeckte den Wagen wenige Meter vor sich, er lag auf der Seite, ebenso wie der Rappe. Seine Flanke war aufgerissen, hellrotes Fleisch setzte sich deutlich von schwarzem Fell ab, doch Kirja hatte keine Zeit, dass Tier zu betrachten oder sich um Tristran zu sorgen, den sie nirgends sah. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem leblosen Körper, der nicht weit entfernt vom Wagen lag, der lange graue Rock bedeckte die Beine und das graue Haar, nicht länger zu einem Knoten aufgesteckt, verbarg ihr Gesicht. Der Schneesturm tobte unvermindert weiter, er drängte Kirja zurück, doch der Wind, von dem die junge Frau auf seltsame Weise spürte, dass es ein anderer war, schob sie dagegen an, und um sie herum bebte die Luft, als die beiden Winde aufeinander prallten. Ein Luftstoß drängte Kirja zurück. Dadurch schien es unendlich lange zu dauern, bis sie sich zu der reglosen Gestalt durchgekämpft hatte. Längst waren da keine Schiefernen oder Schattenluchse mehr, der schneedurchwebte Wind war ihr einziger Gegner, hartnäckig und schwer dagegen anzugehen, gleich wie sehr sie der andere Wind anschob. Jeder Schritt war ein Kampf. Kirjas Tränen vermischten sich mit denen, die ihr der Sturm in die Augen trieb, und als sie endlich neben ihrer Ziehmuter auf die Knie sank und sie auf den Rücken drehte, war da ein glänzender Schleier vor ihr, der alles verschwimmen ließ. Schluchzend wischte sie sich die Tränen aus den Augen.
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