|
Nybbas Träume
Nach etwa fünfzig Metern fiel ihr am linken Straßenrand eine Gestalt unter einer flackernden Straßenlaterne auf. Der Mann war in seiner dunklen Hose und dem modernen weißen Kurzarmhemd für diese Gegend viel zu gut gekleidet. Schwarzes Haar reichte ihm über die Ohren und eine Strähne fiel vor sein zu Boden geneigtes Gesicht. Als ihr Passat auf seiner Höhe war, blickte er auf und sah sie an. Der Augenkontakt dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber er reichte aus, um Joana wissen zu lassen, dass dieser Mann im schlimmsten Viertel der Stadt absolut nichts zu suchen hatte. Er wirkte deplatziert, sein Blick schien ihr nahezu verloren. Für einen Moment überlegte sie, anzuhalten und zu fragen, ob er ein Taxi bräuchte, verwarf den Gedanken aber wieder. Er würde schon seine Gründe haben, gerade hier spazieren zu gehen. Und seit wann sah man Menschen ihre Gesinnung schon auf den ersten Blick an?
Im Rückspiegel verfolgte sie, wie er ihr nachsah, sich dann umdrehte und die Straße zurück schlenderte. Joana schüttelte den Kopf und hätte den Mann vergessen, wenn ihr nicht im nächsten Moment eine zweite Person ins Auge gefallen wäre. Der Anblick brachte sie dazu, alle Fenster hochzulassen, auf die Bremse zu treten und sich umzudrehen. Ein weiterer Mann versteckte sich hinter den Betonpfeilern einer Hofeinfahrt. Die Augen verbarg er trotz der Dunkelheit hinter einer Sonnenbrille. Eng drückte er sich an die Mauer und beachtete Joana in ihrem Taxi nicht, sondern blickte dem anderen Mann nach, ohne dass dieser ihn hätte sehen können.
Sie war nicht sicher, aber sie glaubte, das Blitzen eines Messers wahrgenommen zu haben. Wurde sie jetzt hysterisch?
Sie verbarg sich hinter ihrem Sitz und beobachtete, wie der Mann seine Kapuze über den Kopf zog, sich hastig umsah und dann in raschen Schritten hinter dem anderen hereilte, der soeben um eine Ecke bog. Dort führte eine Sackgasse zu einem leer stehenden, mit Brettern verrammelten Supermarkt. Man hatte den Bau längst abreißen wollen. Ansonsten gab es da nichts. Vor allem keine Zeugen.
Sie griff nach ihrem Handy und hatte die erste Zahl schon gewählt, als ihr klar wurde, wie albern es wäre, jetzt die Polizei anzurufen. Die würden sie nicht ernst nehmen, schließlich war überhaupt nichts passiert. Noch nicht. Sie sollte weiterfahren. Es war dumm, nein, es war abgrundtief dämlich, in Gegenden wie dieser die Nase zu tief in die Angelegenheiten fremder Leute zu stecken. Andererseits war da diese düstere Vorahnung.
Wenn sie morgen im Radio erfuhr, dass hier etwas passiert war, würde sie sich Vorwürfe machen. Zu recht. Verdammt.
Sie legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück. Eine rot-weiße Absperrschranke verhinderte, dass Fahrzeuge in die Straße einfuhren, in der die Männer verschwunden waren. Joana konnte ein ganzes Stück weit sehen, aber da war niemand. Die Männer waren
weg.
Shit, flüsterte sie. Gar nicht gut. Ihr Mund wurde trocken. Die Straße war wie ausgestorben. Nur in einem nahen Café flackerten Lichter hinter den Fenstern.
Weiterfahren. Der kleine Teil von ihr, dem Sicherheit das höchste Gut war, sprach zu ihr. Doch der Rest hatte schon entschieden, etwas völlig anderes zu tun.
Sie parkte ihren Wagen am Straßenrand. Es war der Wunsch zu helfen, redete sie sich ein. Eine gewisse Sorge um diesen Mann, der so unschuldig ausgesehen hatte. Vielleicht die Tatsache, dass sie seit Jahren auf Menschen fluchte, die in solchen Situationen einfach weitergingen. Wie viele hatten wohl registriert, dass Sascha in Schwierigkeiten gewesen war? Wie viele mochten weitergegangen sein, die Intuition verleugnend, die sich ihnen aufgedrängt hatte? Sascha könnte noch leben, wenn jemand einen Blick riskiert hätte.
Aber möglicherweise trieb sie auch etwas ganz anderes aus ihrem Wagen. Der Drang, sich durch den Nervenkitzel endlich wieder lebendig zu fühlen.
Zu lange schon versank sie in Gleichgültigkeit. Jetzt, in diesem Moment, spürte sie ihren dröhnenden Herzschlag so intensiv, als hätte sie ihn seit Jahren nicht mehr wahrgenommen. Er pulsierte bis in ihre Fingerspitzen und machte ihr unmissverständlich klar, dass sie lebte. Leben wollte. Es fühlte sich gut an. Sie wollte mehr davon. Klar war das leichtsinnig und wenn schon.
Mit fahrigen Bewegungen verriegelte sie ihr Taxi und steckte Handy, Autoschlüssel und ihr Asthmaspray in die Taschen ihrer Cargohose. Dann huschte sie über die Straße und ging die Gasse entlang. Nur zwanzig Schritte, entschied sie. Wenn ihr bis dahin nichts verdächtig vorkam, könnte sie guten Gewissens wieder fahren.
Nach mehr als zwanzig Schritten blieb sie stehen und lauschte. Nur die Geräusche einer vielbefahrenen Straße lagen in der Luft. Irgendwo bellte ein Hund, in weiter Entfernung vernahm sie grölendes Lachen. Sie zählte weitere zwanzig Schritte ab. Nichts.
War da ein Rascheln? Sicher nur Ratten.
Hallo?
Sie hatte rufen wollen, doch aus ihrem Mund kam nur ein Flüstern. Das T-Shirt klebte ihr inzwischen schweißnass zwischen den Schulterblättern. Verdammte Hitze. Zu allem Überfluss fröstelte sie dennoch und bemerkte, wie sich ihre Brustwarzen unangenehm auffällig unter dem dünnen, schwarzen Stoff abzeichneten.
Nein, hier war niemand. Mit verschränkten Armen drehte sie sich um und eilte zurück zu ihrem Wagen. Dabei beobachtete sie, wie ihr Schatten vor ihr den Gehweg entlang floss und schwächer wurde, bis er unter der nächsten Laterne für einen Moment verschwunden war. Als er nach ein paar Schritten wieder vor ihr auftauchte, erschien dicht daneben ein zweiter, größerer Schatten.
Für einen Augenblick konnte sie nicht atmen, dann fuhr sie herum, gleichzeitig nach dem Handy sowie dem Asthmaspray greifend. Ein Vibrieren hallte durch ihre Knochen, wie nach einem Stromschlag.
Vor ihr stand der Mann mit den schwarzen Haaren.
Er war viel größer, als sie ihn eingeschätzt hatte und sah kein bisschen hilflos mehr aus. Die Arme hatte er verschränkt und seine Muskeln spielten provokant unter der Haut und den Ansätzen einer Tätowierung, die sie an der Innenseite des rechten Unterarms erahnen konnte.
Ich wollte dich nicht erschrecken. Seine Stimme war leise und ein wenig rau, die Worte unaufrichtig.
Joana biss die Zähne zusammen, damit sie nicht zu klappern begannen. Das ist Ihnen ja wunderbar gelungen, presste sie hervor.
Er zog einen Mundwinkel zu einem selbstgefälligen Lächeln hoch. Verzeihung.
Himmel, wie hatte sie eben noch denken können, er sähe verloren aus? Er blickte auf sie herab, wie die Schlange auf das Kaninchen. Dass er dabei nahezu verboten gut aussah, schmälerte die bedrohliche Aura, die ihn zu umgeben schien, in keiner Weise. Seltsam war, dass sie keine Angst hatte. Sie war fast zu Tode erschrocken, aber nun wurde sie mit jedem Herzschlag gefasster. Der Schreck ließ nach und wich einem Gefühl, das sie entfernt an trotzigen Widerstand erinnerte.
Was wollen Sie? Joana wunderte sich, wie ruhig und fest ihre Stimme war. Ihre Finger schlossen sich in ihrer Hosentasche um das Asthmaspray.
Gar nichts.
Klar. Und genauso wenig Wahrheit lag in seinen Zügen. Sein Grinsen war so falsch wie schön. Vielleicht könnte sie ihn mit ihrem Spray täuschen. Wenn sie schnell genug war, glaubte er sicher, es würde sich um Reizgas handeln. Die Ablenkung könnte ihr ein paar Meter bringen, wenn sie flüchten musste. Zum Auto oder in dieses Café.
Sein Blick erfasste die Bewegung ihrer Hand. Muss ich Angst haben, dass du eine Waffe ziehst?
Sie versuchte, das arrogante Grinsen zu erwidern Hättest du das denn verdient?
Seine Augen zuckten für einen Moment. Im Zwielicht konnte sie nicht mehr erkennen, als dass sie dunkel waren. Er neigte den Kopf leicht zur Seite. Touché. Sein Lächeln wurde ehrlicher.
Verwirrt suchte Joana nach Worten. Mit einem Mal schien er die unheimliche Art abgelegt zu haben. Entweder hatte sie Gespenster gesehen, oder er spielte ihr etwas vor. Bis eben hatte sie ihn für Mitte dreißig gehalten, doch nun war sie nicht mehr sicher. Mit diesem sanften Gesichtsausdruck würde er auch als zehn Jahre jünger durchgehen.
Bist du mir deshalb gefolgt?, fragte er. Weil ich es verdient habe?
Ein Schauer lief ihren Rücken hinab. Hatte er gerade zugegeben, es verdient zu haben, mit einer Waffe bedroht zu werden?
Nein. Sie musste sich räuspern. Ich bin dir gefolgt, weil
weil da ein weiterer Mann war. Er ist dir nachgeschlichen. Ich wollte nur sehen, ob alles okay ist.
Sie rechnete damit, dass er sie als dumm, leichtsinnig oder unvorsichtig schimpfen würde. Doch er murmelte: Interessant, und rieb sich das glattrasierte Kinn. Sein Blick bekam etwas Abschätzendes und glitt ihren Körper hinab. Sie fühlte sich begutachtet wie ein Stück Fleisch, dennoch straffte sie unweigerlich die Schultern und zog den Bauch ein. Er lachte leise. Ein Geräusch, das die Luft zu bewegen schien und auf ihrer Haut zu spüren war. Selbstbewusst und ganz schön mutig. Das gefällt mir.
Die Worte schmeichelten ihr nicht, sie mahnten zur Vorsicht. Ich muss zurück zu meinem Taxi. Wenn ich in zwei Minuten keine Meldung gebe, schickt meine Zentrale die Polizei.
Und nicht unvernünftig. Offenbar hatte er beschlossen, eine Bestandsaufnahme aller Eigenschaften durchzuführen, die sie ihm vorgaukelte. Schön, tu das. Und dann gehen wir etwas trinken.
Nein, ganz sicher keine Gespenster. Unbehagen formte einen Kloß in ihrer Kehle. Das war keine Einladung. Keine Bitte. Nicht mal ein ungehobelter Flirtversuch. Es war eine Anweisung.
Bitte? Was lässt dich denken, dass ich das möchte?, erwiderte sie, sich bewusst, dass sie zu lange gezögert hatte. Leider habe ich keine Zeit.
Er machte einen Schritt vor und das Licht der Laterne erreichte seine Augen. Tiefes Blau, dunkles Grau und vereinzelte weiße Schaumkronen vermischten sich in ihnen. Wie das Meer bei einem Unwetter. Eiskalt. Er verengte die Augen und die Sturmfarben schienen düsterer zu werden. Gleichzeitig berührten seine Fingerspitzen ihren Unterarm und jagten einen elektrischen Impuls durch ihren Körper, der ihr die Knie weich werden ließ. Ob aus Furcht, Nervenkitzel oder einer völlig unangebrachten Erregung heraus, konnte sie nicht sagen. Es kribbelte in ihren Schläfen, in ihren Armbeugen und an sensibleren Stellen ihres Körpers.
Ich möchte es, sagte er schlicht. Du hast Zeit.
Sie spürte sich nicken, als wäre diese Reaktion nichts weiter als eine logische Konsequenz auf die Selbstverständlichkeit, mit der er sie gerade gewaltsam von sich eingenommen hatte.
© http://www.andrae-martyna.de Weitere Leseproben
[Zurück zum Buch]
|
|