Von Wilfried Mommert
Neben Marcel Reich-Ranicki gilt Joachim Kaiser zweifellos als der andere „Kritikerpapst“ der Republik, eine vor allem auch als Musikkritiker der „Süddeutschen Zeitung“ geachtete und von manchen auch gefürchtete „letzte Instanz“ auf seinem Gebiet. Im Vorfeld seines 80. Geburtstages (18. Dezember) hat Kaiser jetzt mit tatkräftiger Hilfe seiner Tochter Henriette Kaiser unter dem ebenso augenzwinkernden wie auch etwas melancholischen Titel „Ich bin der letzte Mohikaner“ (Ullstein) seine Erinnerungen an ein „kultursattes Leben“ vorgelegt, das Leben eines Mannes, der schon als 16-, 17- Jähriger 400 Mal im Jahr ins Theater und Konzert gegangen ist (die Nachmittagsvorstellungen mitgezählt), ob man das glauben kann oder nicht.
Es hat Joachim Kaiser ein Leben lang Spaß gemacht, zu vermitteln, „was das Leben lebenswert macht“ – seiner Meinung nach. Sein von Schiller und dem großen Kritiker-Vorbild Alfred Kerr (1867-1948) entlehntes Berufsmotto „Speere werfen und die Götter ehren“ könnte auf seinem Schreibtisch stehen, sofern er dort die Übersicht hat, wie Kaiser selbst einräumt. Seine Unordnung ging seiner langjährigen Sekretärin („die Kühlchen“) doch „schrecklich auf die Nerven“. Von einer anderen Sekretärin, die sich beworben hatte und unbedingt bei Kaiser arbeiten wollte, weiß er, „dass sie mich geliebt hat“. Aber sie schrieb Vivaldi „wie Waldi“ und bekam den Posten nicht – „es flossen literweise Tränen“.
Vermengt mit einigen seiner berühmtesten Kritiken und Aufsätzen (von insgesamt 8.000) und auch den Vater nicht schonenden persönlichen Befragungen von Henriette Kaiser durchwandert der Leser noch einmal einen ungemein vielseitigen und wieder lebendig werdenden Kosmos der bundesrepublikanischen Zeit- und Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu gehören Begegnungen mit Autoren wie Günter Grass und Max Frisch oder Musikern wie Leonard Bernstein und Artur Rubinstein. Für jeden einigermaßen kulturell interessierten Leser ein ungemein spannendes Buch, woran die Tochter und Filmemacherin Henriette Kaiser, die zuvor schon ein TV-Porträt über ihren Vater gedreht hat („Musik im Fahrtwind“) einen nicht unwesentlichen Anteil hat.
Das geht bei einem „Kritikerpapst“ auch nicht ohne manche Eitelkeiten, gleichzeitig wird klargestellt: „Im geistigen Leben ist keiner ‚Papst’. Er wird vielmehr von anderen, die das anscheinend nötig haben, dazu gemacht.“ Denn „wir sind alle keine Genies“, wie Kaiser in einem dpa-Gespräch offenherzig betont. „Und eitel sind auch Kritiker – wenn ein Kritiker kritisiert wird, dann geht für ihn die Welt unter“. Aber übermäßige Kritik-Empfindlichkeit bei Künstlern und Autoren wie zum Beispiel bei Günter Grass oder Martin Walser, mit dem Kaiser gut befreundet ist, nennt er „krankhaft“. Andererseits hat er Walsers heftig umstrittenen Roman „Tod eines Kritikers“ verteidigt, was ihm Reich-Ranicki „ungeheuer übelgenommen“ habe. „Fast zerbrach unsere Freundschaft daran“, die nun schon ein halbes Jahrhundert besteht.
Aber der Kritiker muss sich Vertrauen schaffen und erarbeiten. Das weiß Kaiser nur zu gut. Dazu gehört Sachkenntnis und Emotionalität. Irrtümer sind nicht ausgeschlossen. Es könnte sein, räumt er in dem Buch ein, „dass ich Bölls Roman ‚Billard um halbzehn’ zu hoch bewertete, weil ich bei einigen Stellen eine Emotionsgewissheit verspürte. Ziemlich sicher ist, dass ich Sartres Stück ‚Die Eingeschlossenen von Altona’ überschätzt habe, weil ich die Problemstellung so toll fand.“ Möglicherweise habe er auch Ionescos „Fußgänger der Luft“ überschätzt. Und von dem Verriss von Richard Wagners „Rheingold“ 1951 in Bayreuth ganz zu schweigen – Kaiser lacht heute darüber („Das Werk ist auffallend arm an menschlichen und musikalischen Höhepunkten“, schrieb der junge Kritikerspund damals nassforsch in den „Frankfurter Heften“.
Das gab Ärger und Gegner. „Gegner habe ich auch heute, doch früher waren es mehr. Vermutlich ein Zeichen, dass ich unwichtiger werde.“ In seiner Berufswelt sei er „vielleicht kein Kollege, sondern ein Naturereignis“, das verliere sich im Redaktionsbetrieb aber wieder, dessen „widerwärtigen Druck, unter allen Umständen aktuell zu sein“, Kaiser bedauert. Aber das war bei diesem Buch dann endlich einmal anders. „Ich habe das Projekt manchmal auch verflucht, meine Tochter hat mir ja Löcher in den Bauch gefragt, 60 Gesprächsstunden, 2.000 Manuskriptseiten. Es war für uns alle auch keine leichte Zeit – meine Frau Susanne lag im Sterben, sie starb im Juni 2007. Ich habe schon amüsanter geredet als in diesen Monaten, das kann man wohl sagen.“ Ihr ist das Buch auch gewidmet. Bei der Deutschen Grammophon ist dazu eine CD-Box mit den Lieblingsaufnahmen Kaisers erschienen.
Literaturangaben:
KAISER, HENRIETTE / KAISER, JOACHIM: Ich bin der letzte Mohikaner. Ullstein Verlag, Berlin 2008. 398 S., 24,90€.
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