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Doping und Sp(r)itzenathleten

Die pharmakologische Aufrüstung der Körper

© Die Berliner Literaturkritik, 18.09.08

 

Sie bewegen sich in unglaublichen Sphären: der 21-jährige Jamaikaner Usain Bolt, mit einem Fabel-Weltrekord von 9,69 Sekunden, und Michael Phelps, der Wunderschwimmer der Olympischen Spiele 2008. Sind sie „sauber“ oder gedopt? Wir wissen es nicht. Der Hochleistungssport liebt Edelmetall, wir alle lieben Sieger, doch das Misstrauen bleibt – nicht nur bei Ausnahmeathleten. Amphetamine, EPO und anabole Steroide sind weltweit im Einsatz. Dazu kommen Wachstumshormone und Insulin, eine teuflische Kombination, kaum nachweisbar.

Ist Fairness zunehmend eine Fiktion, der Sieg nur noch Pharmazie, das Spiel ein Fake? Gibt es noch Grenzen, oder sind wir dabei, die letzten Hürden zu überschreiten? Die Schriftstellerin Ines Geipel hinterfragt. In „No Limit“ erzählt sie eine drastische Geschichte, die Geschichte von pharmakologisch aufgerüsteten Menschen, von korrupten Systemen und den verheerenden Folgen – und sie weiß, wovon sie spricht.

Die heute 47-Jährige war ehemals Rekordsprinterin, gehörte zur DDR-Nationalmannschaft. 1984 holte sie mit der Staffel des SC Motor Jena einen Weltrekord, der bis heute gilt: 4 x 100 Meter in 42,20 Sekunden: Was niemand ahnte: Sie und ihre Clubkameradinnen wurden systematisch gedopt – von Staats wegen. Oral Turinabol hieß die Wunderwaffe der DDR, verabreicht als harmlose Vitaminpillen, geschluckt von ahnungslosen jungen Menschen, die voll ihren Trainern vertrauten.

Als die junge Athletin Ines Geipel davon erfuhr, gab sie den Leistungssport auf. Sie flüchtete 1989 über Ungarn in die BRD, studierte Philosophie und Soziologie in Darmstadt. 2000 wurde sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings, unterstützte den Entschädigungsfonds für DDR-Dopinggeschädigte und schrieb das Buch „Verlorene Spiele“ (2001). 2005 gab sie ihren Staffelweltrekord zurück, da er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.

Ines Geipels „No Limit“ beginnt nicht im Profisport – sondern mitten in der Gesellschaft, im Fitnessstudio, im Hörsaal, an der Börse. Die chemische Aufrüstung hat längst den Alltag erreicht: mit Prozac oder Ritalin gegen die Prüfungsangst, mit Speed auf die Party, mit „Testo“, „Stromba“ und „NitroNox“ zum muskelbepackten Body.

Auf dem Weg zum „Homo optimus“ werden Körper designt, die Seele gedimmt, das Hirn gepuscht. Pharmakologische Schmiere bringt die körperlich-geistige Performance auf Höchstform; der Mensch wird getrimmt, manipuliert, auf maximale Effizienz geschaltet. Kürzere Regenerationsphasen, optimierte Energiebereitstellung, dazu „Neuro-Enhancement“, der gezielte Eingriff in kognitive und emotionale Prozesse. Die Körper spielen russisches Roulette. „Der Glaube, schrankenlos über sie verfügen zu können, wird in diesem ungedeckten Wechsel zu einer Form der Selbstenteignung“, schreibt Ines Geipel. Nach dem Selbstverlust lauert die innere Leere, der Absturz, wenn nicht gar der Zusammenbruch.

Doch wen kümmert es? Die Höchstleistung zählt, der Glamour, der Erfolg, der Ruhm. Im Glanze von „One world, one dream“ und inszenierter Harmonie fiel das böse D-Wort nur jenseits des offiziellen Olympia-Hauptprogramms. Bewusste Ignoranz oder Verharmlosung angesichts einer Entwicklung, die mehr denn je besorgniserregend ist?

„Kein Antidopinglabor der Welt kennt auch nur die Hälfte der Substanzen, die gerade gehandelt werden“, sagt der australische Dopingexperte Robin Parisotto im Interview mit Ines Geipel. „Ich bin mir sicher, dass es Experimente in Teilen Chinas gibt, von denen niemand etwas weiß, auch die Regierung nicht [...] wir werden es bei den Spielen mit so etwas wie Oxygent, Fluosol und Actovegin, also Kälberblutderivaten, zu tun bekommen. Kälberblutextrakte sind laut gültigen WADA-Regeln nur verboten, wenn sie durch Infusionen zugeführt werden. Injektionen sind erlaubt.“

Das Reich der Mitte ist bekanntlich Exportweltmeister für Dopingrohstoffe, den großen Reibach machen andere: Hightech-Doper aus Amerika und Europa, zusammen mit unseriösen Blutbanken, skrupellosen Ärzten und Sportmedizinern. Aufstrebender Newcomer des boomenden Pharmaziesports: Gendoping. „Wenn das im großen Stil da ist, wird jede analytische Ausrüstung und Wissenschaft völlig machtlos sein“, so Parisotto. Die vorderste Front der Leistungskörper verlässt sich da auf unauffällige Kleinstlabore, über 100.000 sind angeblich existent.

Ohne zeitliche Verzögerung zu den Fortschritten der klinischen Gentherapie könnte hier nachgeschneidert und individuell appliziert werden, was als Segen für Schwerstkranke gedacht war: das Einschleusen von DNA- und RNA-Molekülen in den menschlichen Organismus mittels eines Vektors. Die Kosten wären minimal. „Funktioniert diese Art Gendoping, wird sie sich jeder leisten können, der heute bereits Geld für anabole Steroide und niedermolekulare Substanzen ausgibt“, so die deutschen Genexperten Patrick Diehl und Ute Friedel.

Im  Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 reiste Ines Geipel nach Peking, besuchte das offiziell geplante Dopingkontrolllabor. Eine Farce. Sie sprach mit dem chinesischen Schriftstellerkollegen und Regimekritiker Zhou Qing. 2004 erschien sein Buch „What Kind of God“, in dem er die Zustände in der chinesischen Lebensmittelindustrie offenlegt: Verhütungsmittel beschleunigen das Fischwachstum, Hormone werden zu Lebensmittelzusätzen, Tiere mit Antibiotika, Wachstumshormonen und Gentherapien hochgezüchtet. China ist bereits Weltmacht auf dem Gebiet gentechnisch veränderter Organismen und unbestritten „Versuchslabor der Welt“.

Kein nennenswerter ethischer Diskurs, kein Recht auf die Unversehrtheit des menschlichen Körpers steht dem im Wege. Menschenrechtsanwälte werden verhaftet, gefoltert oder unter Hausarrest gestellt. In Peking verhinderte der chinesische Geheimdienst Geipels Interview mit Zhou Qing, es wurde anlässlich seines Besuches in Berlin aufgezeichnet.

Die Autorin unternimmt in „No Limit“ eine bedrückende Bestandsaufnahme. Die chemische Beeinflussung der körperlich-geistigen Leistungsfähigkeit ist mitnichten nur ein Problem des Sp(r)itzensports. Es geht um mehr: um uns und um unsere Kinder: Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen für den Traum vom optimierten Menschen? Welche alptraumhaften Folgen erwarten uns angesichts der Entgrenzung der Körper? Wir wissen nur zu gut – trotz aller offiziellen Beteuerungen: Die Wahrscheinlichkeit, dass es mit rechten Dingen zuging, als Usain Bolt im Vogelnest von Peking die extraordinären 9,69 lief, ist äußerst gering. Und Chinas umjubelter Goldmedaillensegen verdankt sich, wenn auch nicht nachweisbar unerlaubter Mittel, so doch einem rigiden System von hartem Drill, Angst und Repression.

Ines Geipel, die ehemalige Weltklasseläuferin und jetzige Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, legt den Finger in die Wunde: Sie sucht weniger den Eklat, denn Antworten auf drängende Fragen: „Die Osmose zwischen Gesellschaft und Sport ist so intensiv wie nie. Beide sind Komplizen und auf engste miteinander verschaltet, wenn es um die konzertierte Optimierung unserer Körper geht. Doch welche inzwischen globale Ideologie verbirgt sich dahinter? Und was geschieht mit dem Sport, dem großen Maschinenraum der neuesten Körper?“

Die Maxime des „höher, schneller, weiter“ stößt vor in unglaubliche Sphären. Lassen sich Freakshow und Monstersport überhaupt noch verhindern? Wie leben wir mit den biotechnisch aufgerüsteten Körpern, die demnächst unter uns weilen?

Literaturangaben:
GEIPEL, INES: No Limit. Wie viel Doping verträgt die Gesellschaft. Klett-Cotta, Stuttgart 2008. 182 S., 17,90 €.

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