Erst im vergangenen Jahr präsentierte er bei einer Lesereise in Deutschland und der Schweiz seinen jüngsten Roman „Der Schneeleopard“. Am 10. Juni 2008 erlag er im Alter von 79 Jahren den Folgen einer schweren Lungenentzündung: Tschingis Aitmatow, der große kirgisische Schriftsteller, einer der letzten Epiker des 20. Jahrhunderts, der es wie kaum ein anderer verstand, mündliche Tradition mit kritischer Gegenwartsanalyse zu verbinden. Er war die „Stimme Kirgisiens“, der bekannteste nicht-russische Schriftsteller der Sowjetunion, ein Wegbegleiter Gorbatschows, ein Botschafter seines Landes. Seine literarischen Arbeiten wurden weltweit übersetzt, über 20 seiner Erzählungen und Romane sind auf Deutsch erschienen. Der Schauspieler Dieter Wien spricht jetzt in einer Hörfassung zwei der bedeutendsten Prosawerke Tschingis Aitmatows: die Novelle „Der weiße Dampfer“ (1970) und den Roman „Der Schneeleopard“ (2006), beide erhältlich in der Edition GoyaLiT im Verlag Jumbo Neue Medien.
Geboren 1928 im Dorf Sheker (Talas-Gebiet), zog Tschingis Aitmatow 1935 mit seinen Eltern nach Moskau. 1937 fiel sein Vater, ein leitender kirgisischer Kommunist, den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Die Mutter floh mit den Kindern zurück in die kirgisische Teilrepublik. Aitmatow wurde Schreiber des Dorfsowjets, nach Kriegsende studierte er Veterinärmedizin und arbeitete als Viehzuchtexperte. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der 1950er-Jahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau, war Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift und der Zeitschrift „Novyj Mir“. 1986 rief er das internationale Issuk-Kul-Forum ins Leben, eine Konferenz von Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern aus der ganzen Welt. Ende 1989 wurde er Berater von Gorbatschow und vertrat die Sowjetunion in Luxemburg. Bis März 2008 war er Botschafter der Republik Kyrgyzstan in Brüssel.
Die 1970 erschienene Novelle „Der weiße Dampfer“ (dt. Ausg. 1992) löste in der Sowjetunion heftige Diskussionen aus. Zu deutlich brach Tschingis Aitmatov mit der Poetik des sozialistischen Realismus. Zu pessimistisch, zu tragisch sei der Schluss, lautete der Vorwurf. Sein namenloser Held, der siebenjährige Junge mit dem großen Kopf und dem dünnen Hals, wächst in einer abgelegenen Försterei nahe des Issyk-Kul-Sees auf. Von seinen Eltern im Stich gelassen, findet er allein im rührigen Großvater Momun einen Menschen, der ihn vorbehaltlos liebt. Momun erzählt seinem Enkel die alten Legenden und Naturmythen ihres Volkes, so auch die Geschichte von der Gehörnten Hirschmutter. Ehrfurcht vor der Natur, Demut und die Einbindung in die Traditionen der Urväter sind die Werte, die dem Jungen in einer bitteren Realität Halt geben.
Als Marale vor der Försterei auftauchen, wird Momun vom jähzornigen, sich und andere verachtenden Forstwart Oruskul gezwungen, die Hirsche zu erschießen. Der Junge muss miterleben, wie seine „Gehörnte Hirschmutter“ ausgeschlachtet wird. Oruskul und seine Trinkkumpane verzehren lärmend ihr Fleisch, während der Junge seinen Großvater gedemütigt und ohnmächtig auf dem Boden der Küche liegen sieht. Für den Jungen stürzt eine Welt zusammen. Er „bricht mit seiner Familie, er schwimmt im Fluss fort, weil er hofft, zum Großen See zu gelangen, wo sein Vater, der ihn verlassen hat, auf dem ‚Weißen Dampfer’ fährt“, so Tschingis Aitmatow im Nachwort zur deutschen Ausgabe 1992.
Der Schauspieler Dieter Wien, von 1964 bis 2001 festes Ensemblemitglied des Maxim-Gorki-Theaters Berlin und bekannt aus Film und Fernsehen, spricht die Erzählung. Mit einfühlsamer Stimme, zeternd, schreiend, aber auch säuselnd und zart, verleiht er ihren Figuren Ausdruck und Kontur, lässt die Welt und Tragik des namenlosen Jungen in einer Intensität hör- und erlebbar werden, die im Tiefsten berührt und den Hörer gefangen nimmt. Gleiches Lob gilt für die zweite Höredition, Aitmatow letztes Werk, die Geschichte des alten Schneeleoparden Dschaa Bars und des desillusionierten Journalisten Arsen Samantschin, zweier Protagonisten, die nichts voneinander wussten, „erst recht nicht, wie sie auf Erden zusammenhingen“.
Dieter Wien spricht den von Friedrich Hitzer übersetzten Roman in einer autorisierten Audiofassung. Mit kraftvoller Stimme drosselt oder dehnt er das Tempo, lässt die Handlung sich langsam steigern bis zum dramatischen Finale hoch oben am Pass des Usengilesch-Hügels. Der Hörer lauscht gebannt, folgt dem inneren Kampf Arsens, den Vorbereitungen zur Jagd auf Dschaa Bars, das einst als göttlich verehrte Tier, und der sich unausweichlich zuspitzenden Handlung. Alte kirgisische Motive (so die Gesänge von der „Ewigen Braut“, Gleichnis menschlicher Schuld und Liebe) wechseln mit spannungsgeladenen Schilderungen sozialer und wirtschaftlicher Gegenwart. Dieter Wien überträgt die Unmittelbarkeit der Prosa Aitmatows in gesprochenes Wort. Die Musik von Ulrich Maske gliedert die Lesung, setzt Pausen und verleiht ihr atmosphärische Dichte.
„Der Schneeleopard“ ist ein Vermächtnis, ist moralische Mahnung und Erinnerung zugleich. Tschingis Aitmatow verknüpft die alten Legenden seiner Heimat mit schonungsloser Kritik an der gegenwärtigen Entwicklung in einem Land, das nach seiner Unabhängigkeit (1991) zunächst als „Insel der Demokratie“ gepriesen wurde. Seine Bilanz ist ernüchternd. Die Auswüchse der Globalisierung, der Raubbau an der Natur, zunehmende Verarmung und Kriminalisierung zerstören die Lebenswerte eines Volkes und gefährden seine existenziellen Grundlagen. In einer Welt des entfesselten Kommerzes und des Jagdbusiness, in der Macht und Mammon das Sagen haben, scheint es für beide keinen Platz mehr zu geben: weder für den alten Schneeleoparden, einst das Symbol reiner Kraft und Stärke, noch für den unabhängigen Journalisten Arsen, der längst als utopischer Spinner und weltferner Idealist ins Abseits gedrängt wurde.
„Der weiße Dampfer“ als auch „Der Schneeleopard“ sind Schlüssel zum Verständnis Tschingis Aitmatows. Beide Werke trennen zwar über 30 Jahre, gemeinsam sind ihnen jedoch nicht nur biografische Bezüge, sondern auch die Grundthemen fast aller fiktionalen Werke Aitmatows: die Macht der Liebe, die Verantwortung des Menschen vor sich und der Natur und die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Realität seiner Zeit. Die Tragik des namenlosen Jungen und der Tod Arsen Samantschins hoch oben vor der Höhle Molotasch erwachsen aus der lebenslangen Überzeugung ihres Autors, dass Kunst den Menschen zu wandeln vermag. Der Einzelne steht vor der Entscheidung: Erkenne dich und handle danach. Wir sollten zuhören, ganz Ohr sein, wenn der Schauspieler Dieter Wien die Texte des großartigen Erzählers und Moralisten Aitmatow spricht.
Literaturangaben:
AITMATOW, TSCHINGIS: Der Schneeleopard. Gesprochen von Dieter Wien, mit Musik von Ulrich Maske. GoyaLiT Jumbo Neue Medien und Verlag, Hamburg 2007. 6 CDs, 27,99 €.
AITMATOW, TSCHINGIS: Der weiße Dampfer. Gesprochen von Dieter Wien. GoyaLiT Jumbo Neue Medien und Verlag, Hamburg 2007. 4 CDs, 19,95 €.
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