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Mariusz Wilks karelisches Tagebuch

Zwei Jahre an den Ufern des Onegasees

© Die Berliner Literaturkritik, 07.01.09

 

Zehn Jahre lebte er auf den Solowjezki-Inseln, 2003 zog er in das Dorf Konda Bereschnaja am nördlichen Onegasee, er kaufte ein riesiges, hundert Jahre altes Holzhaus, setzte es instand und zog dort ein: der Schriftsteller Mariusz Wilk. Er ist der wohl eigenwilligste polnische Autor, war 1981 Pressesprecher der Solidarnoœæ in Danzig, wurde als Mitglied der polnischen Oppositionsbewegung während der 1980er-Jahre insgesamt viermal inhaftiert und arbeitete nach 1989 zuerst als Korrespondent in Berlin und später in Moskau. Von dort zog er 1993 gen Norden, von den Inseln im Weißen Meer berichtete  er regelmäßig in der polnischen Zeitschrift „Kultura“, 2003 erschien sein viel gelobter Reportageband „ Schwarzes Eis. Mein Russland“.

Und nun Russisch-Karelien, der Saonesch, die nördliche Region am Onegasee. Mariusz Wilk war der Trubel auf den Solowjezki-Inseln zu viel geworden, er hatte sich „in Karelien verliebt, in seine Augen von der Farbe des Onega und die darin verborgene Tiefe“. Zusammen mit seiner Frau Natalia lebte er in Konda Bereschnaja – ohne Fernseher, ohne Radio, er las keine Zeitung. Er ließ elektrischen Strom legen, renovierte die großen gemauerten Öfen seines Hauses, dichtete die zugigen Fenster ab und setzte sich in aller Stille zum Schreiben. „Das Haus am Onegasee“ nennen sich Mariusz Wilks Aufzeichnungen, 2006 erschienen sie in Warschau, jetzt liegen sie in deutscher Übersetzung von Martin Pollack vor.

Auf rund 270 Seiten entfaltet sich ein Brevier der Jahre 2003 bis 2005, dieses sei mehr als „bloß eine Kontemplation der Zeit“, schreibt Wilk, „es ist auch eine Form der Lebensbuchhaltung“. Wilk notiert die Mühsal des Alltags, den Wechsel der Jahreszeiten, er lernt die Nachbarn aus dem Saonesch näher kennen, berichtet von gemeinsam begangenen Festtagen und den sporadischen Besuchen von Freunden. Entstanden ist ein sehr vielschichtiges Buch, eine subjektive Bestandsaufnahme aus der Sicht eines belesenen und aufmerksamen Autors, der sich auf die Suche begeben hat: nach der Seele Kareliens, nach der Gegenwart und Geschichte des russischen Nordens.

Karelien, das „Land der blauen Seen, schroffen Felsen, wilden Flüsse und unendlichen Wälder“, ist einsam, wunderschön und eine der ältesten Kulturlandschaften Europas. In Besow Nos, einer Landzunge am östlichen Ufer des Onegasees, zeugen jahrtausendealte Petroglyphen von der frühen Verbindung von Magie und Kunst. Seit dem 12. Jahrhundert siedelten in der Region russische Bauern, lebten, meist in Eintracht, mit Kareliern, Wespen und Samen. Altrussische Bylinen als auch das karelisch-finnische Epos „Kalevala“ zählen zu den einmaligen Denkmälern der Weltliteratur. Dank fruchtbarer Böden und ihres Fisch- und Holzreichtums gehörte die Onegaregion bis ins 19. Jahrhundert zu den wohlhabendsten und am dichtesten besiedelten im russischen Norden.

Und doch: „In dieser Landschaft gibt es keine Spuren früherer Kulturen, keine Säulen, keine Aquädukte, nicht einmal die Überreste einstiger Straßen ...“ Es hat den Anschein, „der Mensch sei hier, kaum habe er das Neolithikum verlassen, gleich in die russische Stube eingezogen, dann habe er aus Holzziegeln eine Sowchose errichtet, und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sei er überhaupt spurlos von hier verschwunden“. Auch Konda Bereschnaja ist nicht mehr auf den Landkarten verzeichnet, es gilt als „njeschjlaja“, ausgestorben. Wer konnte, zog nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Städte, zurück blieben die Alten, die Gebrochenen, diejenigen, die zu schwach oder unwillig waren, die russische Gublinka, die entlegene Provinz, zu verlassen.

Früher einmal waren die Leute befähigt, gemeinsam an drei Tagen eine Kirche zu errichten oder dem abgebrannten Nachbarn das Haus wieder aufzubauen, heute können sie gemeinsam nur saufen und prügeln“, beschreibt Wilk den Verfall des einst stolzen Bauernstandes. Er kam, er blieb zwei Jahre. Warum? Weil man auch denen ins Gesicht schauen müsse, die am Ort der Zerstörung ausgeharrt haben, sagt er – und weil er in der Einsamkeit und Weite des Saonesch unzählige Themen entdeckte, die sich zu verfolgen lohnten. Mariusz Wilks gedankliche Fäden führen zum Schamanismus, der ältesten Religion der Menschheit, zur nomadischen Lebensform, zur Spiritualität des Nordens als auch zu sehr drängenden Fragen der ökologisch-ökonomischen Zukunft der Onegaregion.

Es ist diese thematische Vielgestaltigkeit, dazu der genaue Blick auf das Detail und das stilistische Können, die Mariusz Wilks Chronik lesenswert machen. Nicht als Fremder, als Außenstehender berichtet er, sondern als einer, der tief eintaucht in den langsamen Rhythmus der nordischen Natur, dem die Axt ein notwendiges Werkzeug ist wie die Tastatur seines Laptops, der aus dem Onegasee das Wasser schöpft und aus dem Erlebten des Tages die Wirklichkeit der Literatur. Sein Blick gleitet vom Computerbildschirm zum Fenster: „Der Onegasee taucht aus dem bleifarbenen Halbdunkel der winterlichen Dämmerung. Derselbe weiße, nicht beschriebene Fleck. Leere ...“

Literaturangaben:
WILK, MARIUSZ: Das Haus am Onegasee. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 270 S., 19,90 €.

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