Jean Améry: Die Schiffbrüchigen (Roman) |
Jean Améry: Die Schiffbrüchigen |
Inhaltsangabe:
Als der jüdische Handelsreisende Siegfried Althager 1913 starb, hinterließ er seiner Ehefrau, einer christlich-frommen Halbjüdin, und ihrem einzigen Kind, dem vier Jahre alten Sohn Eugen, eine Villa und ein beträchtliches Vermögen. Aber das Geld zerrann der lebenslustigen Frau, bis sie schließlich mit ihrem Sohn das überschuldete Haus verlassen musste. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als eine Mietwohnung in Wien zu nehmen, und Eugen eine Stelle als Verkäufer in einer Buchhandlung zu besorgen. Erst langsam und schwierig brach das Wissen in ihm auf, dass ihn die Zeit mit allen anderen seiner Rasse verfemt hatte. Seine Schuld war es wohl, dass er nicht wusste, worin seine Zugehörigkeit zu dieser Rasse bestand. Nichts galten ihm ihre Werke, Riten, unwesentlich erschien ihm die Urkunde seiner Geburt, bedeutungslos der verstorbene gütig-dumme Handlungsreisende, der ihn gezeugt hatte, unwichtig die bürgerliche Halbjüdin, die zum heiligen Antonius gebetet hatte, aus deren Leib er stammte. Nichts band ihn an das Volk, zu dem er nun gehören musste, oder: nichts wusste er von Bindungen an es. (Seite 19) Mit Heinrich Hessl, der ebenfalls Halbjude ist, verbindet ihn seit dem ersten Schultag vor achtzehn Jahren eine enge Freundschaft. Der Theologiestudent, der kurz vor dem Rigorosum steht, ringt seit Jahren um den christlichen Glauben, während Eugen einen kompromisslosen Nihilismus vertritt.
Aber es wird dennoch der erwähnte Weg einer neuen Wertgebung vielleicht einmal beschritten werden, es wird dennoch vielleicht einmal das empirisch Überprüfte zauberhaft und metaphysisch genug sein und es wird dann nicht mehr nötig sein, den Glaubensersatz im Unerkennbaren zu suchen. Als Agathe merkt, dass sie schwanger ist, kommt für sie nur eine Abtreibung in Frage, denn sie will keine Mutter sein. Sie bittet Eugens Freund um 200 Schilling für den Eingriff, aber Heinrich Hessl behaupt, so viel Geld weder zu besitzen noch beschaffen zu können. Ihre Schwester Hilde, die vor einem Jahr eine kurze Affäre mit dem wohlhabenden Ingenieur Ernst Höllmer hatte, erzählt ihr, dass dieser für Agathe geschwärmt habe und rät ihr, sich an ihn zu wenden. Erst nach den Gesprächen mit Heinrich und Hilde teilt Agathe ihrem Geliebten mit, dass sie schwanger sei und fügt gleich hinzu, es gebe nur eine Möglichkeit, die Abtreibung zu bezahlen: Mit Höllmer zu schlafen.
Dann sagte er: Du wirst es wohl tun müssen – ich werde es wohl leiden müssen. Durch ihre Schwester Hilde lässt Agathe dem Ingenieur ausrichten, dass sie zu ihm kommen werde. Kaum hat sie das Haus des Vierzigjährigen betreten, will sie sich ausziehen und das "Geschäft" erledigen, wird jedoch von Höllmer zurückgehalten. Er habe sich vor einem Jahr in sie verliebt, erklärt er und kniet sich vor ihr hin, aber wegen ihres Verhältnisses mit Eugen Althager keine Chance für sich gesehen. Als Hilde ihm nun von Agathes Lage berichtete, beschloss er, sie auszunutzen, um mit Agathe zusammensein zu können, auch wenn er nicht erwarten kann, dass sie seine Gefühle jemals erwidern wird.
Ich liebe Sie, sagte der Mann zwischen schweren Atemzügen.
Die Erregung, die Agathe erfasst, wirft sie aus der Bahn: Sie begreift, dass es außer Eugen noch andere Männer gibt und wird sich ihrer eigenen Lüsternheit bewusst. Höflich und rücksichtsvoll bemüht Höllmer sich jeden Tag um sie, bis sie sich auf ein Verhältnis mit ihm einlässt – jetzt nicht mehr aus finanzieller Not, sondern um ein besseres Leben führen zu können. Schließlich überredet Höllmer sie, ihre Stelle in der Weingroßhandlung aufzugeben und mietet eine Zwei-Zimmer-Wohnung für Agathe.
An jenem heißen und abscheulich stickigen Sommernachmittag, da du mir von Herrn Höllmer und Hildes Vorschlag erzähltest, legte sich unsere Liebe schwerkrank hin und an dem anderen Nachmittag (heiß auch er und städtisch-sommerlich), der dich in der Wohnung des fremden Mannes sah, verstarb sie.
Obwohl Eugen ahnt, dass es von Höllmer kommt, nimmt er das Geld, das Agathe ihm weiterhin jeden Monat schickt. Auch in diesen Tagen dachte Eugen nicht ernstlich an die Ausführung, aber immer noch erschien ihm der freigewählte Tod als die einzige Sterbensmöglichkeit. Denn willenlos und ins Müssen gebannt einmal dazuliegen und das große Vergehen zu erwarten, war eine Vorstellung, die er nicht ertrug. (Seite 236) Während Heinrich Redakteur bei der Zeitschrift "Stimmen aus deutschen Klöstern" wird und auf eine erfolgreiche Karriere hinarbeitet, kommt Eugen immer weiter herunter. Dass die österreichische Regierung den sozialistischen Aufstand am 12. Februar in Wien von Polizei und Militär blutig niederschlagen lässt, das Standrecht verhängt und sowohl die SPÖ als auch die Gewerkschaften verbietet, raubt Eugen die letzte Hoffnung. In allen Ländern saß am Steuer die Macht. Hier war man aufgestanden wider sie und zu Boden geschlagen worden. Aufgestanden wider sie waren mit tausend zufälligen Armen und Rechtlosen die alten zerschabten Ideen: Freiheit, Menschlichkeit, Demokratie. Am Boden lagen sie hier und vorbereitet wurden unparierbare Schläge gegen sie in aller Welt. Kolonnenweise marschierte die uniformierte Macht über die Erde, die Einzelnen in ihre Reihen verschluckend, schweigsam und kriegerisch. (Seite 239f)
Im Café Schloderer versucht Eugen sein Glück im Kartenspiel. Nachdem die schäbige Prostituierte Mimi, die er dort kennenlernt, eine Nacht mit ihm verbracht hat, trennt sie sich von ihrem Zuhälter, dem dreißigjährigen ungarischen Juden Herrnhäuser, der seine Abende am Spieltisch im Café Schloderer verbringt. Statt von Agathe – deren nächstes Geld er mit einem Rest von Selbstachtung zurückschickt – wird Eugen also nun von Mimi ausgehalten. Herrnhäuser tut zunächst so, als finde er sich mit dem Verlust der Prostituierten ab, aber nach ein paar Tagen lässt er Eugen unerwartet von zwei Männern zusammenschlagen. |
Buchbesprechung:
Verzweifelt über die Machtergreifung der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 in Deutschland und die blutige Niederschlagung des Februaraufstandes in Österreich, schrieb Jean Améry 1934/35 den Roman "Die Schiffbrüchigen".
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 Jean Améry (Kurzbiografie) |