Margaret Atwood: Moralische Unordnung (Erzählungen) |
Margaret Atwood: Moralische Unordnung |
InhaltsangabeDie schlechten NachrichtenDie Ich-Erzählerin möchte gern noch ein paar Minuten im Bett liegen bleiben, während ihr langjähriger Lebensgefährte Gilbert ("Tig") bereits Zeitung liest und sie mit schlechten Nachrichten bombardiert, obwohl er weiß, dass ihr das unangenehm ist. Selbstkritisch meint sie: Wenn Tig mein Bedürfnis achten soll, von schlechten Nachrichten unbehelligt noch ein bisschen im Bett zu liegen, sollte ich da nicht sein Bedürfnis achten, Katastrophales auszuspucken, damit er es los wird? Die Kunst des Kochens und AuftragensDie Ich-Erzählerin ist elf Jahre alt, als der Vater ihr anvertraut, dass die Mutter schwanger ist. Meine Mutter – sagte mein Vater – sollte nicht mehr fegen oder schwere Dinge tragen, wie beispielsweise Wassereimer, sie sollte sich nicht bücken oder große Gegenstände anheben. Wir müssten alle mithelfen, sagte mein Vater, und zusätzliche Pflichten übernehmen. Es sei Aufgabe meines Bruders, von jetzt an bis Juni den Rasen zu mähen. Im Juni fuhren wir nach Norden. Da oben gibt es keinen Rasen. Und mein Bruder würde sowieso nicht da sein. Er fuhr in ein Jungencamp, um in den Wäldern irgendetwas mit Äxten anzustellen. Was mich anging, so sollte ich mich einfach allgemein nützlich machen. Noch nützlicher als ohnehin schon, fügte mein Vater hinzu, es sollte ermutigend klingen.
Den ganzen Sommer über strickt die Elfjährige eifrig Sachen für das erwartete Geschwisterchen und lenkt sich auf diese Weise von ihrer Angst um die Mutter ab. Im Oktober, zwei Wochen bevor sie zwölf Jahre alt wird, kommt die Schwester zur Welt. Der kopflose Reiter
Mit vierzehn verkleidet sich die Ich-Erzählerin an Halloween als kopfloser Reiter – und macht ihrer Schwester Leonie damit ungewollt Angst. Mein Umhang dämpfte alles, was ich sagte, deshalb musste ich die Antwort oft wiederholen. "Der kopflose Reiter." – "Der kopflose was?" Und dann fragten sie: "Und was hast du da?" – "Das ist der Kopf. Vom kopflosen Reiter." "Ach so, jetzt versteh ich." Dann wurde der Kopf bewundert, aber mit diesem übertriebenen Getue, das Erwachsene veranstalten, wenn sie eine Sache insgeheim ungeschickt und lächerlich finden.
Die Mutter nimmt seit Leonies Geburt ab, und ihr Haar wird spröde: Sie hat sich mit einer Drüsenkrankheit infiziert. Meine letzte HerzoginIn der Highschool ist ihr Mitschüler Bill, dem sie auch beim Lernen hilft, ihr Freund. Neben mir ging Bill auf dem Weg über das Footballfeld, keiner von der Sorte, die in Gruppen herumzog und über Mädchenbrüste krakeelte; glaubte ich jedenfalls. Er war zu ernsthaft für so was, er hatte Besseres zu tun, er war ehrgeizig. Er wollte die Leiter rauf. Als mein offizieller Freund begleitete er mich jeden Tag ein Stück meines Heimwegs, außer freitags, dann begann er seinen Wochenendjob in einem Lebensmittelladen, der in entgegengesetzter Richtung lag. Freitags nach der Schule, samstags bis drei – er sparte Geld für die Universität, weil seine Eltern sich das nicht leisten konnten oder es nicht bezahlen wollten. Weder seine Mutter noch sein Vater hatte studiert, und es war ihnen trotzdem sehr gut gegangen. Das war, laut Bill, ihre Haltung, aber er schien es ihnen nicht übelzunehmen.
In diesem Alter durchlaufen Beziehungen stets die gleichen Phasen: "Das erste Rendezvous, das erste zaghafte Händchenhalten, der Arm um die Schultern im Kino, das langsame enge Tanzen, das von Schnaufen begleitete Fummeln in geparkten Autos, die Vorstöße und Gegenangriffe der Hände, der Krieg der Reißverschlüsse und Knöpfe". Bevor es zu ernsthaften sexuellen Kontakten käme, muss Schluss sein. Das andere HausDer Ich-Erzählerin ist jede Ortsveränderung willkommen. Acht Jahre lang zieht sie herum und wohnt in wechselnden Pensionen bzw. Apartments. Aber was, wenn ich irgendwo eine Abzweigung übersah – wenn ich meine Zukunft verpasste? Sie hat auch den einen oder anderen Liebhaber. Es ist die Zeit der Flower Power und der Hippie-Bewegung, aber sie wuchs im "Zeitalter der Tüchtigkeit" auf und fühlt sich zu alt für Liebesperlen oder Marihuana.
Miniröcke und Bellbottoms tauchten für kurze Zeit auf, nur um sofort durch Sandalen und handgefärbte T-Shirts ersetzt zu werden. Bärte sprossen, Kommunen wuchsen aus dem Boden, überall tummelten sich dünne Mädchen mit langen glatten Haaren und ohne Büstenhalter. Sexuelle Eifersucht war so verpönt wie etwa der Gebrauch einer falschen Gabel, die Ehe war ein Witz, und die schon Verheirateten mussten mit ansehen, wie ihre einst festen Bindungen bröckelten wie schadhafter Stuck. Die Losung hieß jetzt: locker bleiben, Erfahrungen sammeln, ein rollender Stein sein. Monopoly
Nell arbeitet freiberuflich als Lektorin. Eines Tages erhält sie von einem Verleger den Auftrag, sich einer Autorin anzunehmen, die unter dem Titel "Die Femagierin" einen Superweib-Selbsthilfe-Ratgeber geschrieben hat. Nell überarbeitet das Manuskript komplett. Auf diese Weise lernt sie Oona kennen. Moralische Unordnung
Inzwischen haben Nells Eltern sich damit abgefunden, dass ihre Tochter mit einem verheirateten Mann zusammenlebt. Das weiße Pferd
Als ihre Freundin Billie vom Land in die Stadt zieht, übernimmt Nell deren weiße Stute Gladys. Kaum hat Nell zu Reiten angefangen, muss sie damit aufhören, denn sie ist schwanger. Die Wesenheiten
Nell und Tig beschließen, wieder in die Stadt zu ziehen, weil in ihrer Gegend immer häufiger eingebrochen wird und das Kind zur Schule kommt. Sie wenden sich an die Immobilienmaklerin Lillie. Als sie sich das erste Mal begegneten, hatte Oona eine ungeheure Strahlkraft besessen. Sie war nicht nur attraktiv gewesen – auf eine wollüstige Art, dachte Nell missbilligend –, sie hatte auch einen starken Willen gehabt und starke Meinungen und die Entschlossenheit, das zu kriegen, was sie wollte. Zumindest war das der Eindruck, den die meisten Leute von ihr bekamen. Dabei neigte sie durchaus auch zu Depressionen.
Inzwischen kann Oona sich kaum noch zu einer Anstrengung aufraffen. Sie ist unzufrieden. Seit sie und Tig die Scheidung eingeleitet haben, versucht sie, mehr Geld von ihm zu bekommen. Mehrmals wechselte sie ihren Rechtsanwalt in der Hoffnung, dass der neue mehr herausschlagen würde. In ihrem Glauben, Tig und Nell würden sie übervorteilen, macht Oona sie bei jeder Gelegenheit schlecht. Dabei hat Tig ihr und den Söhnen von Anfang das maximal Mögliche bezahlt. Das Labrador-Fiasko
Die Mutter der Ich-Erzählerin liest ihrem Ehemann, der vor sechs Jahre einen Schlaganfall erlitt, einen Bericht über eine Expedition von zwei Männern in die letzte unkartografierte Wildnis von Labrador im Jahr 1903 vor (Dillon Wallace: The Lure of the Labrador Wild, Fleming H. Revel Co., 1905). Die Jungs vom Labor
Die Ich-Erzählerin blättert in einem Fotoalbum ihrer einundneunzig Jahre alten Mutter, die seit einem Jahr im Bett liegt, nichts mehr sieht und auf einem Ohr taub ist. Die ältesten Bilder stammen aus dem Geburtsjahr 1909. 1955 hatte die Mutter aufgehört, noch weitere Fotos einzukleben. |
Buchbesprechung:
Während die Originalausgabe den Titel "Moral Disorder and other Stories" trägt, bezeichnet der Berlin Verlag das Buch von Margaret Atwood als Roman. Tatsächlich handelt es sich bei "Moralische Unordnung" um eine Sammlung von elf teilweise schon an anderen Stellen veröffentlichten Erzählungen. Sie handeln
|
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Margaret Atwood (Kurzbiografie / Bibliografie) |