Saphia Azzeddine: Bilqiss (Roman) |
Saphia Azzeddine: Bilqiss |
Inhaltsangabe:
In einem muslimischen Dorf steht eine junge Frau vor Gericht. Ein Käfig verhindert, dass Bilqiss, so heißt sie, im Gerichtssaal gelyncht wird, aber die Gitterstäbe können sie nicht vor Spucke oder Hieben mit einem Gürtel schützen. "Nichts anderes hat mir jemals so viele Ärgernisse beschert." Ihre Eltern starben, als sie noch ein Kind war. Ihr Großvater verkaufte sie dem ehemaligen Fischer Qasim, und der 46-Jährige, der inzwischen als Chauffeur und Spitzel für die Mullahs arbeitete, nahm die 13 Jahre alte Waise zur Frau. Die Schule durfte sie nicht länger besuchen, aber das Gebäude wurde im Jahr darauf ohnehin niedergebrannt – ebenso wie die kommunale Bibliothek. Bilqiss wurde von ihrem Mann misshandelt, bis sie ihn vor einem Jahr mit einer vom Herd genommenen Frittierpfanne totschlug. Dank hunderter, mit Fensterputzen im Haus verbrachter Stunden hatte ich einen so athletischen Arm, dass es keines dritten Schlages bedurfte. Am nächsten Morgen wandte sich Bilqiss an die beiden US-Soldaten Dick Stone und Sergeant Ramirez aus der nahen Kaserne, in der sie putzte. Weil Bilquiss nicht verriet, dass Stone und Ramirez in einem Nebengebäude Haschisch rauchten und Pornos guckten, durfte sie deren Laptop mit Internet-Antenne benutzen. Respekt vor Frauen kannten die Männer nicht einmal in ihrer Heimat: Amerikas Frauen waren alle Schlampen, die für Gleichberechtigung plädierten, ohne ihren Anteil im Restaurant zu bezahlen.
Die beiden Soldaten hatten Erfahrungen mit Kollateralschäden und schlugen die Stirn der Leiche ein paar Mal gegen den Boden, damit es so aussah, als sei Bilqiss' Ehemann beim Reparieren der Satellitenschüssel vom Dach gestürzt. Die Polizei fiel darauf herein. Dass Qasims Nase verbrannt war, wunderte offenbar keinen der Ermittler. Bevor wir ihn verließen, drehten wir ihn auf den Rücken in der Hoffnung, er würde in seinem eigenen Erbrochenen ersticken. Weil der Zeitpunkt für den Ruf des Muezzin gekommen war, betrat Bilqiss spontan das Minarett und stieg die Wendeltreppe hinauf. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, rief sie von der Turmspitze zum Morgengebet. Die Höhe gab mir Flügel, und ohne zu überlegen, wandelte ich hier und da ein paar allzu doktrinäre Passagen ab, um sie mit Nuancen, Erbarmen und Alltäglichem anzureichern.
Damit erregte sie den Zorn der Dorfbewohner. Deshalb steht sie vor Gericht. Die von Herrn Karzi vertretene Anklage wurde bereits um etwa 20 Sittenwidrigkeiten ergänzt. Bilqiss wird beschuldigt, Make-up verwendet, Seidenstrümpfe und Stöckelschuhe getragen zu haben. Bei der Plünderung ihres Hauses fand man ein Plüschtier, einen persischen Gedichtband und Kassetten mit Liedern von Abdelhalim Hafez. Außerdem lagen in ihrem Kühlschrank Zucchini und Auberginen, obwohl Frauen phallisch geformtes Gemüse vom Händler auf dem Markt in Stücke schneiden lassen müssen. – Und Sie, haben Sie die Erlaubnis? fiel ich ihm ins Wort. [...] Ist der Name Allahs ein eingetragener Markenname? Sie haben Sein Wort gestohlen und es als Geisel genommen, um aus Ihm eine Marionette zu machen, deren Bauchredner Sie sind. Eine spontan formulierte Passage in Bilqiss' Adhan lautete: "[...] Allah ist erfreut, [...] den Gläubigen zu sehen, der etwas vollbringt; so wie du, Bäcker, den ich zu deinem Laden gehen sehe, wo du dein Brot kneten wirst, um die Gemeinde zu ernähren, wie du, Gemüsebauer, der du deine Ernte auf deinem Stand ausbreitest, um der Erste und Bestplatzierte auf dem Markt zu sein, wie du, Gärtner, der du unsere Gärten stündlich gleichmäßig bewässerst, damit sie üppig gedeihen, und wie du, ja auch dich sehe ich, Lehrer für Geschichte und Geografie, der du deine Schularbeiten im Schein einer Straßenlaterne korrigierst, damit die Jungen, wenigstens die, trotz allem lernen, dass die Welt weit und nicht festgefahren ist, euch alle sehe ich von da aus, wo ich bin, und ich glaube, dass Allah euch sehr lieb hat, obwohl ihr heute Morgen vergesst zu beten. Gott ist groß."
Aufgrund der Anschuldigung, das Morgengebet versäumt zu haben, ordnet das Gericht nun an, den Bäcker, den Gemüsebauer, den Gärtner und den Lehrer zum Dorfplatz zu bringen und jeden von ihnen mit 20 Peitschenhieben zu bestrafen. Mir gefiel es, über triviale Dinge zu lachen, Zwänge hinter mir zu lassen, mich von einer trübseligen Existenz loszulösen und auch, ich gebe es zu, weniger an Gott zu denken. Weniger an Ihn zu denken, um Ihn mehr zu lieben.
Er verliebte sich in Nafisa, aber ein Handwerker galt als nicht standesgemäß für die Grundschullehrerin. Das wurde er erst, indem er sich als Spitzel verdingte und zum Direktor aller Madrasas in den nördlichen Provinzen avancierte. Ohne Nafisa zu fragen, heiratete er sie.
Aus der Sicht des Regenwurms ist ein Teller Spaghetti eine Orgie.
Hasan stieg bis zur Spitze der Ulama des Distrikts auf und wurde Richter. Die Mullahs machten sich gleich daran, das Seil an dem einzigen soliden Ast zu binden, der einem Körper standhielt, der sich 37-mal aufbäumen würde.
Bevor Bilqiss an den Händen festgebunden wird, muss sie in aller Öffentlichkeit unter ihrer Burka alles ausziehen, damit die Peitschenhiebe ihre Haut zerfetzen können. Obwohl sie sich zu beherrschen versucht, schreit sie vor Schmerzen und nässt sich vor den Augen der Zuschauer ein. Sie befürchtet, dass die beiden Männer, die sich beim Auspeitschen ablösen, nicht zählen können und statt 37-mal vielleicht 89- oder 208-mal zuschlagen. Auf meiner Pritsche liegend flehte ich Gott an, er möge wirklich existieren.
Inzwischen werden Handy-Fotos und -Videos von Bilqiss ins Netz gestellt. Ein Video von der Auspeitschung fällt der amerikanischen Journalistin Leandra Hersham auf.
Ich [...] packte meine Sachen und entschuldigte mich, dass ich so überstürzt wegmüsse, doch man erwarte mich im Gefängnis für Madoffs wöchentlichen Blowjob, denn auch ich sei ehrenamtlich im Milieu des Strafvollzugs tätig.
Kenneth Smoller beschäftigt ausschließlich Frauen. Die sitzen alle in einem Großraumbüro, das er als seinen "Hühnerstall" bezeichnet. Seine neue Mitarbeiterin Leandra Hersham stößt bei der Suche nach einem ersten Thema, über das sie beim New York Magazine schreiben könnte, auf ein Video von Bilqiss' Auspeitschung im Internet. Ihre für eine NGO tätige Freundin Rula findet Einzelheiten über den Fall heraus, unter anderem, dass die ausgepeitschte Burka-Trägerin mit der Steinigung rechnen muss. Als Leandra ein Foto von Bilqiss' Gesicht sieht, kommt es ihr bekannt vor. Tatsächlich erhielt sie vor längerer Zeit nach einer Konferenz über häusliche Gewalt eine Tasse mit diesem Porträt geschenkt.
– [Leandra:] … In meinen Augen rechtfertigt nichts eine Steinigung … Ganz egal, ob einer schuldig ist oder nicht.
Kenneth Smoller teilt Leandra in einer SMS mit, dass die First Lady den Fall Bilqiss im Fernsehen erwähnt habe. Damit ist er auch für den Chefredakteur interessant geworden, und er fordert Leandra skrupellos auf, am "Tag X" gute Fotos zu machen. Veranstaltet Ihr Solidaritätsmärsche für die Millionen anonymer weißer Frauen, die durch Schläge von Männern sterben, oder ist es euch lieber, sie bleiben eine undefinierbare Masse in amtlichen Statistiken? Ich werde sterben, genauso wie sie, aber auf spektakuläre Art und Weise, denn wir haben eine Veranlagung fürs Demonstrative und Theatralische, wir lieben die Show, aber wir waren nicht intelligent genug, ein Business daraus zu machen, das ist alles. Eure emotionale Übereinkunft ist wie die Mikrowelle im Vergleich zur Kochkunst: einfach und schädlich.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Eine offene Liebeserklärung des Richters in ihrer Zelle weist Bilqiss höhnisch zurück. Der Gedanke, tot zu sein, erfüllt mich mit Schrecken. Als sie die Augen öffnet, blickt sie dem unmittelbar vor ihr liegenden Richter ins blutüberströmte Gesicht. Mit letzter Kraft flüstert der Sterbende: "Meine fünf Säulen waren auf Treibsand gebaut. Dich geliebt zu haben, hat den Sockel verstärkt. Es hat mich von den Dogmen entfernt, aber meinem Glauben nähergebracht. [...] Für dich zu sterben, wird meine Rettung sein. Und wenn es dir unmöglich ist, mich ebenfalls zu lieben, soll mein Besuch auf Erden wenigstens der Humus für dein zukünftiges Leben sein." |
Buchbesprechung:
Mit orientalischer Fabulierlust, aber nicht blumig ausschweifend, sondern flott und stringent, entwickelt Saphia Azzeddine in dem Roman "Bilqiss" die märchenhafte Geschichte von einer jungen Muslima, die sich gegen die hasserfüllte Anklage von Fundamentalisten stolz und zynisch verteidigt, während die Prozessbeobachter ungeduldig auf ihre Steinigung warten. Schon seit sieben Jahrhunderten ging es mit uns abwärts, wir sahen den Zug der Zukunft an uns vorüberfahren, ohne einsteigen zu können. [...] Seit sieben Jahrhunderten nannte man diese Situation fruchtbare Regression, anstatt sich den Stillstand einzugestehen. Weit zurück lag die Zeit, als der geistige Wert eines Muslims sich nach der Anzahl der Bücher in seinem Besitz richtete [...]
Zugleich kritisiert Saphia Azzeddine die Wohlmeinenden im Westen, die beispielsweise muslimische Frauen bemitleiden und nicht merken, wie anmaßend sie sich verhalten, wenn sie über andere Kulturen vorschnell urteilen und sich in Angelegenheiten fremder Gesellschaften einmischen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016 |