Pat Barker: Der Eissplitter (Roman) |
Pat Barker: Der Eissplitter |
Inhaltsangabe: Wäre das Thema Schwangerschaft nur nicht zu einer solchen Obsession geworden. Lauren erinnerte ihn an einen dieser weiblichen Fische, die in Zeiten schwieriger Umweltbedingungen überhaupt keine Männchen mehr brauchen und die männlichen Keimdrüsen in einem Beutel am eigenen Leib tragen. Ach, scheiß drauf, dachte er [...]. Er hatte es satt bis hinter die Backenzähne, eine wandelnde Samenbank mit Sprachfunktion zu sein. (Seite 19)
Dadurch ist ihre Ehe in eine Krise geraten. Seit einem Jahr unterrichtet Lauren an der St. Margaret's School of Art in London, kommt nur an den Wochenenden nach Hause – und auch das nicht regelmäßig. Inzwischen strebt sie die Scheidung an. Schon in seinen ersten Praxismonaten hatte er [Tom] gelernt, dass jene, die das Elend mit nach Hause nehmen, ausbrannten und schließlich keinem mehr etwas nutzten. Er hatte Distanz zu schätzen gelernt: den Eissplitter im Herzen des klinischen Psychologen. Erst viel später lernte er, ihm auch zu misstrauen – weil er wachsen und auf die ganze Persönlichkeit übergreifen konnte. Eissplitter? Er hatte Kollegen, mit denen man die Titanic hätte versenken können. (Seite 17) Abends merkt Tom, dass er dem Jungen seinen eigenen Mantel umgehängt hatte. Darin waren an ihn adressierte Briefe und die Wohnungsschlüssel. Sofort eilt er ins Krankenhaus. Von einer Schwester erfährt er, dass der gescheiterte Selbstmörder Ian Wilkinson heiße und etwa zehn Tabletten Temazepam geschluckt habe. Als Tom allein mit dem jungen Mann im Zimmer ist, gibt dieser sich zu erkennen: Sein richtiger Name lautet Danny Miller. Er ist jetzt dreiundzwanzig. Mit dreizehn war er wegen der Ermordung der achtundsiebzigjährigen Lizzie Parks zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Seit letztem November ist er wieder frei. Bereits im Gefängnis hatte er angefangen, Anglistik zu studieren. Mit seiner Bewährungshelferin, Martha Pitt, ist Tom gut befreundet. Tom war in dem Prozess damals als Sachverständiger hinzugezogen worden, um Dannys geistige und moralische Reife zu begutachten. Einige Gespräche mit dem Jungen hatten ihn überzeugt, dass dieser die Tragweite seiner Tat verstehen konnte. War es Zufall, dass er und Lauren Dannys Selbstmordversuch vereitelten? Der junge Mann sagt zu Tom: "Wissen Sie, der Anstaltsgeistliche, den ich erwähnt habe? Der sagte immer: Zufall ist der Spalt im Treiben der Menschen, durch den Gott oder der Teufel reinkommen kann." (Seite 25) In diesem Zusammenhang erinnert sich Tom an ein Ereignis vor dreißig Jahren. Damals spielte er mit seinem Schulfreund Jeff Bridges. Dessen Eltern hatten Besuch und die beiden Jungen mussten Neil, den vierjährigen Sohn der Gäste, mitnehmen. Obwohl es verboten war, liefen sie mit Neil nach einer Weile zu einem in der Mitte sehr tiefen Teich, um Froschlaich in Marmeladengläsern zu sammeln. Spaßeshalber schütteten sie Neil den Glibber in die Gummistiefel. Als er hysterisch zu schreien begann, gerieten auch Tom und Jeff in Panik: Sie trieben Neil mit Steinwürfen immer weiter ins Wasser. Warum taten sie das? Weil sie Angst hatten, weil sie überhaupt nicht hätten dort sein dürfen, weil sie wussten, dass sie Ärger bekommen würden, weil sie ihn hassten, weil er ein Problem war, das sie nicht lösen konnten, weil keiner der beiden hinter dem anderen zurückstehen wollte. (Seite 57) Da fuhr ein Bus vorbei. Ein Fahrgast blickte zufällig von seiner Zeitung hoch, hielt den Bus an, watete bis zu den Knien in den Teich und nahm Neil auf den Arm. An jenem Tag wurden drei Kinder gerettet. Ein Mann blickt von seiner Zeitung auf, sieht, was los ist, handelt nach dem, was er sieht. Zufall. Ein interessanterer Zeitungsartikel, ein dickerer Schmutzfilm auf dem Busfenster, eine Abneigung, sich einzumischen, und es hätte anders ausgehen können. Vielleicht als Tragödie. (Seite 57f)
Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus trifft Danny sich alle paar Tage mit Tom, um mit ihm zu reden. "Wir hatten immer auf einem der Felder Junghennen im Auslauf, und da war so ein mageres kleines Huhn, und die anderen fingen an, danach zu hacken. Alle Federn waren schon weg, die Haut war blutig roh, und Dad sagte, er müsse es totmachen. Ich wollte das nicht. Ich fragte: Können wir es nicht in ein Einzelgehege tun, bis es größer ist?" Ein tiefer Atemzug. "Da sorgte er dafür, dass ich es selbst totmachte." (Seite 103) Die Farm war ein Misserfolg, und Dannys Vater verbrauchte das letzte Geld, um im Pub Runden auszugeben. Dann musste der Mutter wegen eines Knotens eine Brust abgenommen werden. Danny fuhr mit seinem Vater ins Krankenhaus, durfte aber nicht mit zu seiner Mutter, sondern musste auf der Straße warten. "Er schien Jahre wegzubleiben, und dann kam er zurück und zeigte auf eines der Fenster. Sie hatte sich aus dem Bett geschleppt, um mich zu sehen. Er sagte: 'Schau, da ist sie.' Und ich winkte wie verrückt, aber das waren Hunderte von Fenstern. Ich wagte nicht zu sagen, dass ich sie gar nicht sah." (Seite 112f)
Drei Tage vor Dannys zehntem Geburtstag verließ der Vater zusammen mit der Haushaltshilfe Fiona seine Familie. "Meine Mutter sagt, als sie ins Zimmer kam, starrte ich das Feuer an und tat gar nichts, versuchte nicht, es zu löschen. Und es war so schrecklich für sie, weil sie danach des Gefühl hatte, mich nicht mehr allein lassen zu können, aber sie musste mich allein lassen. Sie hatte eine Putzstelle gefunden. Die Farm stand zum Verkauf, aber keiner wollte sie kaufen. Sie verkaufte alle Hühner und lebte von Sozialhilfe; Dad hat nie einen Penny geschickt." (Seite 157) Später legte Danny in einer Scheune Feuer. Als er bei Ladendiebstählen ertappt wurde, musste seine Mutter zur Polizei. Der Lehrer wollte mit ihr über das Schulschwänzen ihres Sohnes reden. Daraufhin holte der Pfarrer Danny in den Kirchenchor. Weil er da jedoch die anderen Jungen bestahl, machte der Pfarrer seiner Mutter klar, dass Danny nicht im Chor bleiben konnte. "Nachdem der Pfarrer weg war", sagte er [Danny] schließlich, bedächtig, Tabakfasern zwischen den Fingern zerkrümelnd, "nahm sie mich mit dem Gürtel vor. Noch etwas, was er [der Vater] zurückgelassen hatte. Das kannst du nicht machen, dachte ich. Sie schlug zu, schreiend, kreischend, sie sah so hässlich aus, und plötzlich dachte ich: Nein. Ich packte das Ende des Gürtels und schlang es mir ums Handgelenk. Und noch einmal. Ich schwang sie herum, immer im Kreis, und dann ließ ich los, und sie krachte gegen die Wand und glitt daran herunter. Ihre Perücke saß ganz schief. Sie sah mich an, und ich sah sie an, und ..." Ein tiefer Atemzug. "Ich rannte aus dem Haus." (Seite 159)
Am Tag darauf geschah das mit Lizzie Parks. Danny beobachtete, wie die alte Frau ihr Haus verließ. Er wusste, wo sie den Schlüssel liegen hatte, nahm ihn an sich und suchte in ihrer Wohnung nach Geld. Doch sie kam unerwartet zurück. Vielleicht wollte sie nachsehen, ob sie das Gas abgedreht hatte. Er versteckte sich in einem Kleiderschrank, aber sie entdeckte ihn. Da stieß er sie die Treppe hinunter, und zur Sicherheit erstickte er sie dann auch noch mit einem Kissen. In der Nacht erschien sie ihm fortwährend, obwohl er sich immer wieder mit einem spitzen Bleistift in die Hand stach, um nicht einzuschlafen. Am nächsten Morgen rannte er noch einmal hin, um nachzusehen, ob sie wirklich tot war. Zeugen, die ihn dabei gesehen hatten, sagten aus, er sei fünf Stunden im Haus gewesen. Da der Pathologe am Körper der alten Frau Verletzungen festgestellt hatte, die ihr erst nach dem Tod zugefügt worden waren, nimmt Tom an, Danny habe mit der Leiche wie mit einer Puppe gespielt. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003 Textauszüge: © Deutscher Taschenbuch Verlag Seitenanfang |
Pat Barker: Niemandsland |