Philippe Besson: Eine italienische Liebe (Roman) |
Philippe Besson: Eine italienische Liebe |
Inhaltsangabe:Etwas unterhalb des Ponte Santa Trinita in Florenz wird am Arnoufer die Leiche des neunundzwanzigjährigen Luca Salieri gefunden, den seine Lebensgefährtin Anna Morante zwei Tage zuvor als vermisst gemeldet hatte. Anna wird von der Polizei verständigt und aufgefordert, den Toten zu identifizieren. Weder Anna noch Lucas Eltern, Susanna und Giuseppe Salieri, können verhindern, dass eine Obduktion vorgenommen wird.
[...] ich liege ausgestreckt und unbeweglich auf einem Metallbett [...]
Inspektor Michele Tonello leitet die Ermittlungen, ob es sich um einen Unfall, Suizid oder Mord handelte. Seine Fragen, wie gut Anna ihren Lebensgefährten gekannt und ob er ihr nichts verheimlicht habe, lassen in ihr Zweifel aufkeimen. Ja, sie war seit fünf Jahren mit Luca zusammen, kannte ihn sehr gut und glaubt nicht, dass er etwas vor ihr verbarg – aber kann man da jemals absolut sicher sein? Es wird zur Gewohnheit, dass ich mich ganz nackt, auf einem Eisentisch liegend vorfinde, fremden Blicken ausgesetzt. (Seite 26) Während der Trauerfeier in der Kirche Santa Maria del Carmine steht der offene Sarg vor dem Altar. Luca glaubt nicht an Gott und mag keine Feierlichkeit, aber er versteht, dass seine Eltern an solchen Zeremonien hängen. Die Beerdigung findet anschließend auf dem Friedhof von Trespiano statt. Sie haben mich zum Friedhof von Trespiano gebracht. Der Weg war nicht weit, und die Leichenwagen verfügen heutzutage über den allermodernsten Komfort. Dieser hier ist sogar mit einer Klimaanlage ausgestattet. Die Toten laufen nicht Gefahr, unter der Hitze zu leiden. Sie gelangen frisch und wohlbehalten zum Bestimmungsort. (Seite 44) Während Grabreden gehalten werden, schweift Lucas Blick über die Trauergemeinde. Aus der Menge der Anwesenden heben sich die beiden Körper von Anna und Leo heraus, denen ich wohl ewig nachtrauern werde. (Seite 45) Einige Tage später werden die Obduktionsergebnisse bekanntgegeben. Lucas Eltern haben die Ergebnisse der Obduktion mitgeteilt bekommen. Susanne berichtet mir, alles sei normal. Man könnte meinen, sie rede vom Resultat einer Blutprobe oder einer Röntgenaufnahme. (Seite 61) Die Gerichtsmediziner haben Spuren eines starken Schlafmittels in Lucas Körper gefunden. Anna und Luca wohnten zwar getrennt, aber wenn er unter Schlafstörungen gelitten hätte, wäre ihr das wohl aufgefallen. Ich habe das Gefühl, dass mir eine Prüfung zugedacht ist, und dass diese rasch zu einer Folter, zu einem Alptraum werden kann. (Seite 68) Nachdem Luca ihren Heiratsantrag abgelehnt hatte, respektierte Anna seinen stummen Anspruch auf Unabhängigkeit und fand sich damit ab, dass er nur drei oder vier Nächte pro Woche mit ihr verbrachte.
Ein Junge, der dich nichts fragt, weil er dieselbe Haltung von dir erwartet, verspricht ungewöhnliche Unterhaltungen und lange Schweigeminuten [...] Ein Junge, der um neun Uhr kommt, wenn du ihn um acht Uhr erwartest, der sich nicht entschuldigt, sondern dich stattdessen anlächelt, der die gute Idee hat, dich in die Ferien einzuladen, und es dann dir überlässt, die organisatorischen Details mit dem Reisebüro zu regeln, beweist damit keine Unverfrorenheit, sondern Vertrauen in dich und deine Liebe zu ihm.
Anna besitzt einen Zweitschlüssel zu Lucas Wohnung in der Via Medici. Von quälenden Fragen getrieben, geht sie hin. Sie fühlt sich wie ein Dieb, aber das Bedürfnis, mehr über Luca zu wissen, ist stärker als die Scheu. Erst nach einiger Zeit fällt ihr ein Blatt Papier mit einer fremden Schrift auf, dann ein gebrauchtes T-Shirt, das für Luca zu klein gewesen wäre, und schließlich entdeckt sie drei Bücher, in die ein Leo Bertina seinen Namen geschrieben hat.
Zitternd verlasse ich Tonellos Büro. Ich habe Angst davor, zu entdecken, wer dieser Mann ist, der die Fähigkeit besitzt, einen Polizeibeamten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gleich darauf wird Leo Bertina am Bahnhof Santa Maria Novella festgenommen und zu Inspektor Tonello gebracht, der wissen möchte, ob Luca zu seinen Kunden gehört hatte. Als Leo verneint, blickt er überrascht auf. Aber Tonello ist nur überrascht, weil er dachte, die Regeln zwischen uns stünden fest, ich würde nicht kneifen und ihn nicht belügen. Er ist enttäuscht, fast gekränkt. Tonello kann nicht begreifen, dass ich die Wahrheit sage. (Seite 119)
Luca war eines Tages am Bahnhof einfach auf Leo zugekommen und hatte sich vorgestellt. Leo, der bis dahin nur zufällige Begegnungen, gewinnversprechende Beziehungen und ein Leben ohne feste Bindungen gekannt hatte, fing mit Luca ein Liebesverhältnis an, obwohl dieser ihm seine Lebensgefährtin Anna nicht verschwieg und ihm auch ein Foto von ihr zeigte. Leo gibt zu, an dem Abend, an dem Luca wahrscheinlich ums Leben kam, mit ihm zusammen gewesen zu sein. Luca sei um 2 Uhr morgens aufgebrochen, um nach Hause zu gehen. Die Gesichter der beiden fallen gleichzeitig zusammen. In ihren Mienen spiegeln sich Reue und Niedergeschlagenheit. (Seite 114)
Das Ehepaar schweigt. Erst als Giuseppe Salieri weg muss, gibt Susanna ihren Widerstand auf und verrät Anna, Bertina sei ein polizeibekannter Bahnhofsstricher, der schon mal wegen Diebstahls zu einer Haftstrafe verurteilt wurde und vor zwei Jahren einen Familienvater erpresste.
Ich entschließe mich, einen von ihnen anzusprechen. Ich atme tief durch und frage den Erstbesten [...], wo ich Leo Bertina finde. Mit den Worten "Ich nehme an, dass Sie nach mir suchen" wendet Leo sich Anna zu. Als sie erfährt, dass er sie erkannte, weil Luca ihm ein Foto von ihr gezeigt hatte, wird ihr ein weiteres schmerzliches Detail bewusst: Während Luca seinem Geliebten von ihr erzählt hatte, verheimlichte er das Verhältnis mit Leo vor ihr. – Weil Anna nicht an Leo herankommt und auch nicht weiß, was sie mit ihm reden soll, verabschiedet sie sich nach einer Weile von ihm. Ich sehe Leo zu den jungen Männern zurückgehen. Einer von ihnen hält ihm eine Zigarette hin, steckt selbst eine in den Mund und zündet beide an. Er macht diese gewisse Bewegung, die sie augenblicklich einander näher bringt und die mich endgültig ausschließt. (Seite 170)
Inspektor Tonello legt den Fall schließlich zu den Akten, weil sich keine belastbaren Indizien für Mord oder Suizid ergeben haben.
Was mich am Leben hält, sind die Fragen, die Fragen, die ich mir unermüdlich wiederhole. Wenn mich Luca wegen Leo belogen hat, warum sollte er mich nicht auch sonst belogen haben? Und wenn alles geheuchelt war? [...] Und wenn unsere gemeinsame Existenz nichts als eine elende Maskerade war? [...] Ich bin zum Narren gehalten worden, warum sollte ich nicht auch manipuliert, warum nicht ausgenutzt worden sein? [...] Anna zieht sich von Florenz in ein toskanisches Dorf zurück. Ich frage mich, ob man ein neues Leben anfangen kann. (Seite 176) Nachdem Luca sich von Leo verabschiedet hatte, kaufte er sich in einer Nachtapotheke in der Via Toscanella eine Schachtel Schlaftabletten, weil ihm der Wein, den er mit seinem Geliebten getrunken hatte, zu Kopf gestiegen war und er befürchtete, nicht einschlafen zu können. Er schluckte vier der Tabletten und warf die angebrochene Schachtel in den nächsten Abfallkorb. Bald umfing ihn eine heitere Schläfrigrigkeit.
Als ich auf dem Ponte Santa Trinita angelangt war, lehnte ich mich über die Brüstung, um das Brodeln des Flusses zu betrachten [...] |
Buchbesprechung:
Nach dem Tod ihres Lebensgefährten Luca findet Anna heraus, dass er gleichzeitig mit dem Bahnhofsstricher Leo zusammen war.
Besson schildert den Zusammenbruch des ohnehin labilen Dreiecks weder als Rührstück noch als Kriminalgeschichte, obwohl er nonchalant mit Elementen beider Genres jongliert. So luzid wie leger lässt er jeden der in diesem erotischen Netzwerk versponnenen Protagonisten aus der eigenen Perspektive der faktischen wie der gefühlten Wahrheit nachspüren. Unaufgeregt und genau, manchmal die Leser direkt ansprechend, berichten alle drei, kapitelweise abwechselnd, über sich, ihre enttäuschten Sehnsüchte und die frische Trauer. (Irene Bazinger, FAZ, 8. November 2004) Die Abschnitte, in denen Luca beobachtet, wie er gefunden, obduziert, einbalsamiert und begraben wird, zeigen Philippe Bessons schwarzen Humor. Die inneren Monologe Annas und Leos bestechen, weil sie auf präzisen, eingehenden und subtilen Beobachtungen psychischer Vorgänge beruhen. Mit Melancholie und Schalk erzählt Besson eine bittere Liebesgeschichte, in der niemand ganz schuldig oder unschuldig ist, und zeigt, wie leicht man im Leben das Gleichgewicht verlieren kann. (Der Spiegel, 27. Dezember 2004)
Philippe Bessons Roman "Eine italienische Reise" wurde beim Prix Méditerranée 2004 mit einer "Mention spéciale" gewürdigt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 / 2007
Philippe Besson: Kurzbiografie |