Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921 - 1931 (Autobiografie) |
Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921 - 1931 |
Inhaltsangabe: Sie sah sehr fremd aus, eine Kostbarkeit, ein Wesen, wie man es nie in Wien, wohl aber auf einer persischen Miniatur erwartet hätte. Ihre hochgeschwungenen Brauen, ihre langen, schwarzen Wimpern, mit denen sie, auf virtuose Weise, bald rasch, bald langsam spielte, brachten mich in Verlegenheit. Ich schaute immer auf die Wimpern statt in die Augen und wunderte mich über den kleinen Mund.
Er kommt mit ihr ins Gespräch, aber es dauert noch einige Zeit, bis er sich traut, sie zu besuchen.
Ich fragte ihn nach seiner eigenen Verfassung, wenn er rede, ob er dann immer wisse, wer er sei, ob er nicht fürchte, sich selbst in der begeisterten Masse zu verlieren. "Nie! Nie!" sagte er mit größter Entschiedenheit. "Je begeisterter sie sind, um so mehr fühle ich mich selbst. Man hat die Menschen in der Hand wie weichen Teig. und kann mit ihnen machen, was man will. Man könnte sie dazu aufreizen, Feuer zu legen, an ihre eigenen Häuser, es gibt keine Grenzen für diese Art von Macht. Versuch es selbst! Du must es nur wollen! ..."
Elias' Mutter kommt nach einem Sanatoriumsaufenthalt wieder nach Wien. Sie quartieren sich in einer kleinen Wohnung ein. Die beengten Verhältnisse erhöhen die Spannungen zwischen den beiden in dramatischer Weise. Es könnte sein, dass die Substanz des 15. Juli in "Masse und Macht" ganz eingegangen ist. Dann wäre eine Rückführung auf das ursprüngliche Erlebnis, auf die sinnlichen Elemente jenes Tages in irgendeiner Vollständigkeit unmöglich.
In den Semesterferien 1928 fährt Canetti auf Anregung einer Freundin nach Berlin. Er wohnt bei dem Verleger Wieland Herzfelde, der ihn mit unaufdringlicher Gastfreundschaft aufnimmt und "als Freund und Mitarbeiter" in die Künstlerkreise einführt. "Wieland kannte jeden, weil er schon lange da war." Mir gefiel, dass es stark und rücksichtslos war, was man auf diesen Zeichnungen sah, schonungslos und furchtbar. Da es extrem war, hielt ich es für die Wahrheit. Eine vermittelnde, eine abschwächende, eine erklärende und entschuldigende Wahrheit war für mich keine. Elias Canetti erinnert sich auch an Bertolt Brecht: Der einzige, der mit unter allen auffiel, und zwar durch seine proletarische Verkleidung, war Brecht. Er war sehr hager, er hatte ein hungriges Gesicht, das durch die Mütze etwas schief wirkte, seine Worte kamen hölzern und abgehackt, unter seinem Blick fühlte man sich wie ein Wertgegenstand, der keiner war, und er, der Pfandleiher, mit seinen stechenden schwarzen Augen, schätzte einen ab. Er sagte wenig, über das Ergebnis der Schätzung erfuhr man nichts. Unglaublich schien es, dass er erst dreißig war, er sah nicht aus, als wäre er früh gealtert, sondern als wäre er immer alt gewesen.
Weitere bekannte Persönlichkeiten, zum Beispiel der Schriftsteller Isaak Babel und der begnadete Rezitator Ludwig Hardt machen auf Canetti großen Eindruck. Wenn ich aber zu Thomas etwas über Masse sagte, spürte ich eine ganz andere Art von Reaktion, über die ich mich anfangs wunderte. Er bezog die Schilderung des Zustandes, der mir zum Rätsel aller Rätsel geworden war, eben das Aufgehen des Einzelnen in der Masse, auf sich und zweifelte daran, dass er je zu Masse werden könne. Außer mit "Masse und Macht" beschäftigt sich Canetti mit dem Entwurf eines Romans: Acht Figuren einer "Comédie Humaine an Irren" schweben ihm dabei vor:
... und es schien ausgemacht, dass jede zum Zentrum eines eigenen Romans werden würde. Sie liefen nebeneinander her, ich bevorzugte keine, ich wandte mich in raschem Wechsel bald dieser, bald jener zu, keine wurde vernachlässigt, aber keine überwog, jede hatte ihre besondere Sprache und ihre besondere Art zu denken, es war, als hätte ich mich in acht Menschen gespalten, ohne die Gewalt über sie oder über mich zu verlieren. ...Sieben von ihnen gingen zugrunde, eine blieb am Leben. Die Maßlosigkeit meines Unternehmens trug ihre Strafe in sich, doch war die Katastrophe, in der es endete, nicht komplett, etwas – es heißt heute "Die Blendung" – ist davon übrig geblieben. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2003 Textauszüge: © Elias Canetti Seitenanfang |
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