Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht (Roman) |
Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht |
Inhaltsangabe:Als Ferdinand Bardamu, ein zwanzigjähriger Medizinstudent, im August 1914 mit seinem Kommilitonen Arthur Ganate in einem Straßencafé an der Place Clichy in Paris sitzt und eine Militäreinheit mit einem berittenen Oberst an der Spitze vorbeimarschieren sieht, springt er auf und meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst. Aber schon als seine Einheit erstmals von zwei deutschen Soldaten beschossen wird, fürchtet er sich und wundert sich über die anderen Männer, die begeistert kämpfen. Sollte ich denn der einzige Feigling auf Erden sein?, dachte ich. Und mit so was von Angst! ... Verloren inmitten von zwei Millionen heldenmütigen, entfesselten, bis an die Zähne bewaffneten Verrückten! (Seite 19) Beim Anblick zerfetzter Leichen und mutwillig erstochener Kinder geht seine idealistische Einstellung zum Krieg endgültig verloren. Man steht dem Grauen ebenso jungfräulich gegenüber wie der Lust. (Seite 19)
Nach einer Verwundung wird Unteroffizier Baramu in der Opéra Comique in Paris eine Tapferkeitsmedaille verliehen, und er erhält einen Genesungsurlaub. Dabei lernt er die amerikanische Krankenschwester Lola kennen, die dafür sorgt, dass er "richtig trocken hinter den Ohren" wird. Als er sie ins Restaurant "Duval" ausführt, glaubt er plötzlich, auf allen Seiten Angreifer zu sehen und schreit den anderen Gästen zu, sie sollten sich in Sicherheit bringen. Um festzustellen, ob er einen Schock erlitten hat oder simuliert, sperrt man ihn einige Zeit zur Beobachtung in Issy-les-Moulineaux ein. Die Eingeborenen muss man meist erst mit Knüppeln zur Arbeit treiben, so viel Würde haben sie sich bewahrt, während die Weißen, die die öffentlichen Bildungsinstitute durchlaufen haben, ganz von selber funktionieren. (Seite 184) Der Direktor der Compagnie Pordurière du Petit Congo stellt ihn als Leiter der Faktorei in dem Dschungeldorf Bikomimbo ein, wo er einen Mann ablösen soll, der für einen Betrüger gehalten wird. Mit einem Boot rudern ihn ein paar Männer den Fluss hinauf nach Topo. Leutnant Grappa, der Kommandant des Postens, lädt ihn ein, bei einem Gerichtstag dabei zu sein. Aus Langeweile und Überdruss lässt er einen der Antragsteller auspeitschen. Dann gesteht er seinem französischen Gast: "Ah! wenn die nur wüssten, wie scheißegal mir denen ihre Zankereien sind, dann würden die in ihrem Dschungel bleiben und mir nicht hier mit ihrem Blödsinn auf die Nerven gehen! [...] so langsam möchte ich fast glauben, denen gefällt meine Rechtsprechung irgendwie, diesen Mistkerlen! ... Seit zwei Jahren versuch ich jetzt, ihnen den Spaß zu verleiden, aber sie kommen jeden Donnerstag wieder ... Glauben Sies mir oder nicht, junger Mann, das sind fast immer dieselben, die da kommen! ... Pervers müssen die sein oder was! ..." (Seite 206)
Weitere zehn Tage geht es flussaufwärts, dann erreicht Baramu seinen Zielort mitten im Dschungel. Er überbringt seinem Vorgänger die Aufforderung, sich in Fort-Gono zu rechtfertigen und will als erstes eine Inventur der noch vorhandenen Lagerbestände aufnehmen. Aber sein Vorgänger rät ihm, sich den Rest der Waren anzueignen, da ihn der Direktor der Handelsgesellschaft so oder so des Diebstahls bezichtigen werde. Dann bricht er nicht flussabwärts, sondern in die entgegengesetzte Richtung auf. Ich hing an ihr, wirklich, aber noch mehr hing ich an meinem Laster, dieser Sucht, überall wegzulaufen, auf der Suche nach wer weiß was, getrieben von einem dämlichen Stolz wahrscheinlich, durch das Gefühl, irgendwie überlegen zu sein. (Seite 304) In Paris nimmt Baramu sein Medizinstudium wieder auf und macht nach fünf oder sechs Jahren seinen Doktor. Dann lässt er sich in der Vorstadt La Garenne-Rancy als Arzt nieder. Es handelt sich um eine üble Gegend. Baramu hört beispielsweise, wie das Ehepaar in der Nachbarwohnung die zehnjährige Tochter laut beschimpft, ans Bett fesselt und verprügelt. Durch die sadistische Prozedur erregen sich die Eltern, bis sie in der Lage sind, es im Stehen vor dem Spülstein in der Küche zu treiben. Wenn Baramu aber der Familie beim Spaziergang begegnet, ist weder den Eltern noch ihrer Tochter etwas anzumerken.
An Patienten fehlte es mir nicht, nur an welchen, die zahlen konnten oder wollten. (Seite 349)
Baramu kann nicht verhindern, dass der siebenjährige Bébert an Typhus stirbt. Dessen Tante machte ihn mit Madame Henrouille bekannt, die ihre alte Mutter in ein Hospiz abschieben will und hofft, der Arzt könne ihr dabei helfen. Aber die Greisin lässt nicht mit sich spaßen und vertreibt Baramu mit einer Schimpftirade, als er sie untersuchen will. Daraufhin wirbt Madame Henrouille den Deserteur Léon Robinson für einen Mordanschlag auf ihre Mutter an. Der löst beim Vorbereiten der Sprengladung versehentlich eine Explosion aus und erblindet. Madame Henrouille überredet schließlich Abbé Protiste, sie von ihrer Mutter und dem verletzten Attentäter zu befreien. Der Abbé bringt die beiden nach Toulouse, wo die alte Frau Touristen durch die Gruft der Kirche Sainte-Eponine führen soll. |
Buchbesprechung:
"Reise ans Ende der Nacht" handelt von einem Verlierertyp, einem feigen und einsamen Antihelden in einer gemeinen, niederträchtigen Gesellschaft, in der die Unterprivilegierten keine Chance haben und die Bürger Anständigkeit heucheln. In dem pikaresken Episodenroman mit grotesken Stationen plädiert Louis-Ferdinand Céline gegen blinden Gehorsam, entlarvt Patriotismus und Kolonialismus, Militarismus und Tapferkeit als falsche Ideale und verhöhnt die Fortschrittsgläubigkeit. Da gibt es keine Hoffnung auf Humanität: "Reise ans Ende der Nacht" ist ein deprimierendes, verzweifeltes Buch. Umgangssprachliche Elemente tauchen nicht nur in Dialogen, sondern auch im Erzählertext auf. Das schockierte die Leserinnen und Leser der 1932 unter dem Titel "Voyage au bout de la nuit" veröffentlichten Originalausgabe ebenso wie die Tabubrüche Louis-Ferdinand Célines. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 / 2015 |