Rafael Chirbes: Die schöne Schrift (Roman) |
Rafael Chirbes: Die schöne Schrift |
Inhaltsangabe: Nein, das ist keine Rache. Ich will nicht mit ihr abrechnen. Früher wollte ich es nicht oder wusste nicht wie, und jetzt ist es zu spät. Ich würde mich nur gerne selbst verstehen, sie alle verstehen, die nicht mehr da sind.
Einer der beiden Großväter machte sich immer wieder einen Spaß daraus, die kleine Ana zu erschrecken oder ihr Gruselgeschichten zu erzählen und das verängstigte Kind dann zu trösten. Scheinbar gehörten Liebe und Angst zusammen. Sie war nervös. Man sah, sie war ein anständiges Mädchen, und sie schaute zu deiner Großmutter, zu Pepita und mir herüber, als wolle sie erklären, dass ihr diese Späße nicht gefielen, es aber Antonios Art sei, sich so aufzuführen.
Plötzlich stand Thomas' Schwester Gloria auf: "Jetzt reicht's. An diesen Tisch setzen sich keine Huren." Den ersten Abend lang hat dein Vater still geweint. Er weinte um seinen kleinen Bruder. Er konnte sich nicht vorstellen, was für Achterbahnfahrten das Leben uns noch bescheren sollte.
Die Schuhfabrik hatte Tomás entlassen. Jeden Abend fragte er auf der Plaza nach irgendwelchen Hilfsarbeiten, aber kaum jemand wagte es, einen Linken zu beschäftigen. Das war nicht viel, aber doch mehr, als wir selbst zu Hause hatten.
Endlich fand Tomás eine feste Arbeit an der Laderampe des Bahnhofs, und Ana erhielt immer mehr Nähaufträge. Er zog dann ein anderes Heft hervor, das er im doppelten Boden der Truhe versteckt hatte, und zeigte mir zehn, zwanzig Porträts von mir. Ich begann zu weinen, aus Beklemmung oder Angst, und genau in dem Moment ging die Haustür auf, dein Vater kam von der Arbeit zurück. Es war nur eine nervöse Reaktion, aber von dem Augenblick wussten wir, glaube ich, beide, dass wir nicht mehr zu zweit allein im Haus bleiben konnten. Wir mussten uns aus dem Weg gehen.
Ana ging mit ihrer kleinen Tochter sonntags ins Kino, um eineinhalb Stunden lang eine schönere Welt zu erleben. Als sie zufällig einmal aus einem Fenster Klaviermusik hörten, war das Mädchen fasziniert und wollte Pianistin werden. Aber es blieb ein Traum; Anas Tochter wurde Arbeiterin in einer Chemiefabrik. Außer in den Filmen hatten wir hier noch nie eine Frau gesehen, die sich so extravagant kleidete.
Die beiden Mädchen tanzten mit José und Antonio. Die Büglerin fuhr wieder nach Valencia; Isabel blieb da. Später stellte sich heraus, dass sie nicht die Nichte der Aristokratenfamilie in Valencia war, wie es gerüchtweise geheißen hatte, sondern eine Hausangestellte. Nach der Heirat brachte Antonio Isabel mit ins Haus seines Bruders. Sie hatte eine große, schöne Schrift, aus der die Bs und Ls wie die Segel eines Schiffes hochragten. Dann tauchte sie am Steuer des Autos auf, das Raimundo Mullor ihr geliehen hatte, und holte Antonio zu einer Spazierfahrt ab. Ana merkte, dass sie Lebensmittelvorräte stahl. Später schützte Isabel ein Magenleiden vor und kochte sich selbst etwas, wenn ihr das Familienessen nicht gut genug war. Während der Schwangerschaft verordnete der Arzt Isabel angeblich wegen einiger Komplikationen Eier, Fleisch und Milch – Kostbarkeiten, die sich der Rest der Familie nicht leisten konnte. Das Geld stammte wohl aus der Werkstatt. Damit finanzierten Antonio und Isabel auch ihre regelmäßigen Besuche im Kasino und in der Konditorei. Auf einmal waren wir in der Familie nicht mehr alle gleich: Die beiden hatten ihren Lebens- und Kleidungsstil verbessert, während wir ärmer geworden waren. Tomás beobachtete traurig, was geschah. An anderen Tagen, zuweilen auch nachdem er mich grundlos angeschrien hatte, schluchzte er nachts im Bett in meinen Armen und bat mich um Verzeihung: "Ich bin nichts wert. Ich bin nicht fähig, dir das Leben zu bieten, das du verdienst, ist es nicht so?", jammerte er. "Verzeih mir."
Es schmerzte Tomás, dass sein Bruder sich mit dem Falangisten Mullor anfreundete und seine politische Überzeugung verriet, um gesellschaftlich aufzusteigen. Antonio und Isabel mieteten ein vornehmes Haus nah der Plaza und schafften sich auch ein Klavier für ihre Tochter an, für die sie ein Kindermädchen anstellten. Als Mitglied der Geschäftsführung des örtlichen Fußballvereins saß Antonio bei den Spielen auf der Ehrentribüne. Manchmal brachte er auf dem Rückweg Blumen mit oder Gemüse, das man ihm gegeben oder das er geklaut hatte. Öfter bat er darum, ich möge ihm aus dem frisch geernteten Gemüse einen Salat zubereiten. Den aß er so, als könne ihm der Geschmack etwas zurückgeben.
Als er krank wurde, besuchte Ana ihn mehrmals. Die Anweisungen des Arztes befolgte er nicht. Kurz bevor er starb, reichte er Ana einen kleinen Schlüssel für die Schublade eines Eckschranks aus Mahagoni. Sie brachte ihm die mit Papieren, Umschlägen, Zeitungsartikeln, Briefen, Fotos und dem Todesurteil gefüllte Schublade ans Bett. Er leerte sie aus, nahm das vergilbte Blatt, mit dem der Boden ausgelegt war und drehte es und zeigte Ana das Porträt, das er vor vielen Jahren von ihr gezeichnet hatte.
Letzte Nacht musste ich an etwas denken, das dein Vater mir einmal erzählt hat, dass die Seeleute sich weigern, schwimmen zu lernen, weil sie so im Falle eines Schiffbruchs sofort ertrinken und ihnen keine Zeit bleibt zu leiden. Ich konnte nicht einschlafen. Bis zum Morgengrauen habe ich mich im Bett herumgewälzt. Ich konnte den Neid auf jene nicht unterdrücken, die gleich am Anfang gegangen sind, die nicht Zeit gehabt haben, unser aller Schicksal zu erleben. Weil ich durchgehalten habe, bin ich im Kampf müde geworden und habe erfahren müssen, dass die ganze Anstrengung umsonst war. Jetzt warte ich. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Rafael Chirbes: Am Ufer |