J. M. Coetzee: Die Kindheit Jesu (Roman) |
J. M. Coetzee: Die Kindheit Jesu |
Inhaltsangabe:
Ein Mann und ein Junge melden sich im Centro de Reubicación Novilla. Seit sie vor sechs Wochen ins Land gekommen waren, lebten sie im Lager Belstar und lernten dort auch etwas Spanisch, sodass sie sich mit den Menschen hier verständigen können. In Belstar gab man ihnen die Namen Simón und David. Als Geburtstag wurde der Tag ihrer Ankunft eingetragen, und weil man ihr Alter auf 45 bzw. fünf Jahre schätzte, stehen in ihren Papieren entsprechende Geburtsjahre. Auf dem Schiff, mit dem sie übers Meer kamen, hatte David einen Brief bei sich, der vermutlich über seine Identität und Herkunft Aufschluss gegeben hätte, aber die Schnur, mit der dieser Brief an seinem Hals befestigt war, scheint gerissen zu sein. Jedenfalls ging der Brief verloren. Simón nahm sich des Jungen an und sieht seine Aufgabe darin, dessen Mutter zu finden. Das wird nicht einfach sein, weil er nichts über sie weiß und nicht einmal ihren Namen kennt.
[Simón:] "Aber wer isst den Ratten? Isst du Ratten?" In einem Gespräch mit Ana sagt Simón: "Wissen Sie, was mich an diesem Land am meisten verwundert? [...] Das es so blutleer ist. Jeder, den ich treffe, ist so anständig, so freundlich, so wohlmeinend. Niemand flucht oder wird zornig. Niemand betrinkt sich. Niemand erhebt auch nur die Stimme. Ihr lebt von Brot und Wasser und Bohnenpaste und behauptet, satt zu sein. Wie kann das sein, aus menschlicher Sicht? Lügt ihr, belügt sogar euch selbst?"
Ein Fremder taucht am Kai für Getreideentladungen auf und lässt sich von Álvaro einteilen. Er nennt sich Daga, raucht verbotenerweise und weigert sich, mehr als 50 Säcke am Tag zu tragen. Als er deshalb am Zahltag weniger Lohn als die anderen Schauerleute bekommt, randaliert er, verletzt den Vorarbeiter mit einem Messer und raubt dem Zahlmeister dann das Fahrrad. Für David ist es nahezu unerträglich, die Auseinandersetzung der Männer mit ansehen zu müssen. Das klingt mir nach einer alten Denkweise. Nach der alten Denkweise spielt es keine Rolle, wie viel man haben mag, es fehlt immer etwas. Du hast dich entschieden, diesem Etwas-mehr, das fehlt, den Namen Leidenschaft zu geben. Aber ich wette darauf, wenn dir morgen alle Leidenschaft, die du dir gewünscht hast, geboten würde – Leidenschaft im Überfluss –, würdest du prompt etwas Neues finden, das fehlt, das nicht vorhanden ist. Dieses endlose Unbefriedigtsein, dieses Sehnen nach dem Etwas mehr, das fehlt, ist eine Denkweise, die wir überwunden haben, meiner Meinung nach. Nichts fehlt. Das Nichts, das deiner Meinung nach fehlt, ist eine Illusion.
Bei einer Wanderung entdecken Simón und David ein Anwesen mit dem Namen "La Residencia". Auf einem dazu gehörigen Tennisplatz sehen sie eine junge Frau mit einem Partner gegen einen zweiten Mann spielen. Sie heißt Inés, und bei den beiden Männern handelt es sich um ihre Brüder Diego und Stefano. Der Pförtner erklärt Simón, dass Kinder die Anlage nicht betreten dürfen. Simón wartet, bis das Tennismatch zu Ende ist, dann lässt er sich der Frau melden und drängt sie, den Jungen anzunehmen. Inés ist so verblüfft, dass sie erst einmal keine Antwort gibt. Am nächsten Tag kommt sie jedoch zu Simón und David. Sie wäre bereit, eine Mutter für David zu sein, sagt sie, aber Kinder seien in "La Residencia" nicht erlaubt. Daraufhin überlässt Simón ihr seine Wohnung in der Ost-Vorstadt und richtet sich heimlich ein Quartier in einem Schuppen am Hafen ein.
Jeder vernünftige Mensch hätte dir sagen können, dass eine dreißigjährige Jungfrau, die an ein müßiges Leben gewöhnt und von der realen Welt abgeschottet war und von zwei rüpelhaften Brüdern bewacht wurde, keine zuverlässige Mutter abgeben würde. Während einer Arbeitspause im Hafen äußert Simón einmal seine Verwunderung darüber, dass die Schiffe von Hand ausgeladen werden. Mit einem Kran und Lkws statt Pferdewagen ginge das viel schneller, meint er, aber die anderen Schauerleute verstehen nicht, was daran vorteilhaft wäre. Álvaro gibt zu bedenken, dass sie dann ihre Arbeit verlören. "Für uns gäbe es hier im Hafen keine Arbeit mehr", antwortete er [Simón]. "Das gebe ich zu. Aber stattdessen würden wir uns mit der Montage von Pumpen beschäftigen oder Lastwagen fahren. Wir hätten alle Arbeit, wie vorher auch, es wäre nur eine andere Art von Arbeit, zu der Intelligenz nötig wäre, nicht nur rohe Kraft." Im Gegensatz zu den anderen Arbeitern glaubt Simón, dass der Wandel zum Wesen der Geschichte gehöre, aber sein Kollege Eugenio meint: "Geschichte ist nur ein Muster, das wir in Vergangenem sehen." Simón bleibt bei seiner Ansicht und zweifelt sogar am Sinn des Ganzen. "Wofür das Ganze, letzten Endes? Die Schiffe bringen das Getreide von Übersee und wir holen es aus den Schiffen und ein anderer mahlt und bäckt es, und schließlich wird es gegessen und umgewandelt in – wie soll ich es nennen? – Ausscheidungsprodukte, und die fließen zurück ins Meer. Was ist daran, um sich gut zu fühlen? Wie fügt sich das in einen größeren Zusammenhang? Ich erkenne keinen größeren Zusammenhang, keinen höheren Plan. Es ist nur Konsum." Álvaro schickt Simón mit einem Pferdefuhrwerk zum Hauptspeicher. Aber Simón ist davon nicht beeindruckt, wie der Vorarbeiter erwartet hätte, sondern kehrt stattdessen entsetzt zurück und beanstandet die zahlreichen Ratten im Getreidespeicher. Álvaro versteht die Aufregung nicht: "Verluste gehören einfach zum Leben." Eines Tages erkundigt Simón sich bei Eugenio, wie er und die anderen unverheirateten Männer ihre Freizeit verbringen. Eugenio lädt ihn daraufhin in das Institut ein, in dem er einen Philosophiekurs belegt hat. Auf dem Korridor des Gebäudes begegnet Simón Ana. Sie trägt einen Bademantel auf dem nackten Körper und erklärt ihm, dass sie in einem Kurs für Aktzeichnen Modell stehe. Das würde Simón schon eher interessieren als der Philosophiekurs, indem es um die Erforschung des Tisches und des Stuhles geht. Beim kostenlosen Essen in der Cafeteria des Instituts – es gibt Spaghetti mit ungewürzter Tomatensoße – fragt er Eugenio:
"Hat eure Lehrerin euch schon einmal von dem Mann erzählt, [...] der, als er gefragt wurde, wie er wisse, dass ein Stuhl ein Stuhl sei, dem besagten Stuhl einen Tritt verpasste und sagte: Auf diese Weise erkenne ich es, mein Herr?"
Álvaro fragt mehrmals nach dem Jungen, und als er erfährt, dass Simón ihn nicht besuchen darf, lässt er sich die Adresse geben. Er fährt hin, überredet Inés, den Kontakt zwischen David und Simón nicht ganz abreißen zu lassen und gibt ihr seine Telefonnummer. "Wenn du sexuelle Erleichterung suchst, brauche ich nicht der einzige Anlaufhafen zu sein."
Also meldet Simón sich in einem Freizeit- und Erholungszentrum mit dem Namen "Salón Confort". Dort werden "Persönliche Beratung. Stressmanagement. Physiotherapie" angeboten. Die Empfangsdame lässt Simón zunächst einen Mitgliedsantrag ausfüllen und dann auch noch einen Antrag für eine persönliche Therapeutin. Einige Wochen später erhält er allerdings eine schriftliche Absage ohne Begründung. "Vergessen braucht Zeit [...] Wenn du erst einmal richtig vergessen hast, wird dein Gefühl der Unsicherheit weichen und alles wird einfacher werden." Eugenio meidet Freizeit- und Erholungszentren. Er erklärt Simón: "Wir sind von der Feststellung ausgegangen, dass die fraglichen Triebe kein spezifisches Objekt haben. Das soll heißen, sie treiben uns nicht zu einer bestimmten Frau, sondern sie treiben uns zur Frau als Abstraktum, zum Ideal der Frau. Wenn wir also, um diesen Trieb zu stillen, Zuflucht zu einem sogenannten Freizeitzentrum nehmen, verleumden wir tatsächlich diesen Trieb. Wieso? Weil die in solchen Einrichtungen zur Verfügung stehenden Verkörperungen des Ideals minderwertige Kopien sind, und Vereinigung mit einer minderwertigen Kopie kann den Suchenden nur enttäuscht und traurig gestimmt zurücklassen." Endlich darf Simón mit David im Park spazierengehen. Der Junge erzählt ihm, Inés habe ihm gesagt, er sei klug und sie wolle ihn nicht einschulen, weil nicht zu erwarten sei, dass ihn der Lehrer individuell betreuen werde.
"Ich kenne alle Zahlen. Willst du sie hören? Ich kenne 134 und ich kenne 7 und ich kenne" – er holt tief Luft – "4623551 und ich kenne 888 und ich kenne 92 und ich kenne –" Simón bedrängt Inés, bis sie ihm erlaubt, David wenigstens Lesen beizubringen. In der öffentlichen Bücherei besorgt Simón sich für diesen Zweck eine bebilderte Ausgabe "Don Quijote für Kinder". Die Welt wird in diesem Buch des Autors Benengeli aus zwei verschiedenen Perspektiven wahrgenommen: aus dem Blickwinkel des Ritters Don Quijote und dem seines Knappen Sancho Panza. David gefällt die Geschichte, aber er weigert sich, einzelne Buchstaben zu lernen:
"Ich will keine Buchstaben lesen. Ich will die Geschichte lesen."
Inzwischen hat David eine ganze Reihe kaputter Gegenstände aus dem Müll in einem Pappkarton gesammelt. Er habe sie "gerettet" sagt er, und bezeichnet seine Sammlung als Museum. Rettungsschwimmer, Entfesselungskünstler und Zauberer möchte er werden. Simón sieht bei einem seiner Besuche, dass Inés Würstchen, Kartoffeln, Möhren und Blumenkohl für David auftischt. Gegen die Würstchen protestiert er sogleich, denn die könnten Schweinefleisch enthalten, und bei Schweinen handelt es sich um unreine Tiere. Durch den Genuss von Schweinefleisch werde der Mensch selbst zum Schwein, meint er und erklärt, was Konsubstantiation bedeutet.
"Warum gehst du nicht zur Münzanstalt?" David versteht auch nicht, warum man Geld benötigt, um Lebensmittel zu bekommen. Simon versucht es ihm zu erklären: "Weil du, wenn du X Brote hast und sie alle für umsonst weggibst, dann keine Brote mehr hast und kein Geld, um neue Brote zu kaufen. Weil x minus x gleich null ist. Gleich nichts ist. Gleich Leere ist. Gleich ein leerer Magen ist."
Als Simón seinen Schützling wieder besucht, erzählt dieser ihm, Señor Daga sei dagewesen und habe ihm einen Zauberstift gezeigt mit dem Bild einer Dame, die ihre Kleider verliert, wenn man den Stift bewegt.
"Sie ist einfach eine Frau. Ich habe keine Mutter."
Auf dem Nachhauseweg warnt Simón den Jungen vor Daga, der ihn mit Eis, Micky Maus und Feuerwasser zu verführen versuche. "Doch! La la fa fa yam ying tu tu."
Daraufhin versucht Simón ihm klarzumachen, dass Sprache nur dann sinnvoll ist, wenn der Zuhörer versteht, was der Sprecher sagt. "Es war kein Stein, es war eine Murmel. Auf so etwas muss David gefasst sein, wenn seine Mutter ihn nicht mit anderen Kindern Umgang haben lässt, wenn sie ihn anstiftet, sich als eine Art höheres Wesen zu betrachten. Andere Kinder werden sich gegen ihn zusammenrotten. Ich habe mit Fidel gesprochen, ich habe ihn ausgeschimpft, aber es wird nichts nützen." Zwischendurch nimmt Simón den Jungen mit zum Hafen. Dort fällt David auf, dass die Stute, die er ohne auf das Geschlecht zu achten "El Rey" nennt, durch ein anderes Zugpferd ersetzt wurde. Bevor Simón oder Álvaro es verhindern können, fährt David mit einem Fuhrwerk zum Hauptspeicher und entdeckt die zusammengebrochene, mit einem Gnadenschuss getötete Stute. Er versucht, ihr durch die Nüstern Luft einzublasen. Simón reißt ihn zurück und sagt ihm, davon könne er krank werden.
"Ich will ihn wieder atmen lassen!", schluchzt der Junge.
Ein Jahr nach ihrer Ankunft feiern Simón und David gemeinsam ihren 46. bzw. sechsten Geburtstag.
"Nach seinem Verständnis schreibt er Geschichten über sich selbst und seine wahre Herkunft. Die er, aus Rücksicht auf Sie beide, verborgen hält, um Sie nicht zu verärgern."
Señora Otxoa rät Inés und Simón, den Jungen ins Sonderlernzentrum in Punta Arenas wechseln zu lassen. "Ich gehe nicht wieder in die Schule. Ich brauche es nicht. Ich kann schon lesen und schreiben." Die Anhörung findet in der Zentrale der Bildungsbehörde in Novilla statt. Auf die Eingangsfrage, bei wem David lebe, antwortet Simón: "Der Junge lebt bei seiner Mutter. Seine Mutter und ich, wir leben nicht zusammen. Wir haben keine eheliche Gemeinschaft. Trotzdem sind wir drei eine Familie. Eine Art von Familie."
Die Bildungsbehörde beschließt Davids Versetzung nach Punta Arenas.
[Eugenio:] "Aber zwei und zwei ist wirklich gleich vier. Wenn du nicht gleich sein eine seltsame Sonderbedeutung verleihst. Du kannst selbst abzählen: eins zwei drei vier. Wenn zwei und zwei wirklich gleich drei wäre, dann würde alles ins Chaos stürzen. Wir wären in einem anderen Universum, mit anderen physikalischen Gesetzen." Eugenio bezweifelt auch, dass David von Inés richtig erzogen wird: Señora Inés ist eine sehr nette Dame, doch sie verwöhnt das Kind unmäßig, das kann jeder sehen. Wenn ein Kind beständig verhätschelt wird und ihm gesagt wird, dass es etwas Besonderes ist, wenn ihm gestattet wird, sich seine eigenen Regeln zu schaffen, zu was für einem Mann wird es heranwachsen?" Simón überredet den Chauffeur, kurz bei seiner Wohnung in der Ost-Vorstadt vorbeizufahren. Vor der geöffneten Türe stehen zwei Beamte: eine Frau und ein Mann. Wegen des knurrenden Schäferhundes wagen sie sich nicht in die Wohnung. Sie wollen David mitnehmen und beteuern, im Sonderlernzentrum in Punta Arenas gebe es keinen Stacheldraht, im Gegenteil: alle Türen blieben unverschlossen. "Er ist durch den Stacheldraht gegangen!", unterbricht sie Inés mit wieder erhobener Stimme. "Er hat seine Kleidung zerfetzt! Und Sie haben die Frechheit zu behaupten, es gebe keinen Stacheldraht!"
Sowohl Inés als auch Simón glauben David, dass er durch Stacheldraht ging. Die Beamtin sagt, David sei in Punta Arenas sehr beliebt, die Mitschüler würden jeden Tag nach ihm fragen und hätten ihn gern zu ihrem Maskottchen gemacht. Am Ende bleibt den Beamten nichts anderes übrig, als das Haus ohne David zu verlassen. |
Buchbesprechung:
"Die Kindheit Jesu" ist Literatur auf hohem Niveau, aber es handelt sich um alles andere als eine verkopfte Lektüre. John M. Coetzee versetzt uns in eine fiktive Welt und hält dies ebenso konsequent wie fantasievoll und einfallsreich durch. Seine Sprache gibt sich so schlicht und bescheiden wie es die Bewohner dieses Kosmos sind. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
J. M. Coetzee (kurze Biografie / Bibliografie) |