Don DeLillo: Körperzeit (Roman) |
Don DeLillo: Körperzeit |
Inhaltsangabe:Ein Ehepaar frühstückt in einem für sechs Monate gemieteten Ferienhaus, einem abgelegenen Holzhaus mit vielen Zimmern und offenen Kaminen an der Küste im Staat New York. Er biss den Stiel [einer Feige] ab und warf ihn Richtung Spüle. Dann schlitzte er die Feige mit beiden Daumennägeln auf, nahm ihr [Lauren] den Löffel aus der Hand, leckte ihn ab und holte damit eine Portion weinrotes Fruchtfleisch aus der klaffenden Feigenschale. Er klatschte das Zeug auf seinen Toast – Frucht, Fleisch, Mansch – und verschmierte es mit der Unterseite des Löffels, blutbuttrige Schlieren, platzendvoll mit Samenleben. (Seite 16)
Rey Robles (eigentlich: Alejandro Alquezar) wurde angeblich vor vierundsechzig Jahren in Barcelona geboren. (Sein wahres Alter ist umstritten.) Nachdem sein Vater im spanischen Bürgerkrieg ums Leben gekommen war, wuchs er bei einer Familie in der Sowjetunion auf. Später schlug er sich in Paris und in New York durch und kam dann als Chauffeur nach Los Angeles. Dort verschaffte ihm die Frau eines Multimillionärs – eines Zementfabrikanten aus Liechtenstein –, der ihn eingestellt hatte, die Möglichkeit, sich als Filmregisseur zu versuchen. Für seinen Film "Mein Leben für deins" wurde er in Cannes mit einer "Goldenen Palme" ausgezeichnet. Nach seiner Scheidung von der Typberaterin Isabel Corrales, mit der er elf Jahre zusammen gewesen gewesen war, vermählte er sich mit der Bühnenschauspielerin Anna Langdon, aber diese Ehe scheiterte bereits nach kurzer Zeit. Jetzt ist er mit der sechsunddreißigjährigen Performance-Künstlerin Lauren Hartke verheiratet. Der Plan lautete, die Zeit zu organisieren, bis sie wieder leben konnte. (Seite 40)
Schon zu Lebzeiten Reys hörte sie Geräusche im Haus. Unvermittelt stößt sie in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock auf einen kleinen, zartgliedrigen, im ersten Augenblick wie ein blondes Kind aussehenen Mann, der in seiner Unterwäsche auf der Bettkante sitzt. Da er offenbar sprach- und vermutlich auch geistesgestört ist, überlegt Lauren, ob sie bei psychiatrischen Kliniken anrufen und nach vermissten Patienten fragen soll, aber sie unterlässt es und versucht stattdessen, mit dem seltsamen Mann ins Gespräch zu kommen, der ihr nicht einmal seinen Namen sagen kann. Weil er sie an ihren tollpatschigen früheren Biologielehrer erinnert, nennt sie ihn Mr Tuttle. Das gab ihr ein gutes Gefühl. Das war ihr Rey. Eine Woge der Zuneigung überschwemmte sie [...] Das war der Rey, den sie kannte, nicht irgendein anderer. (Seite 106)
Mr Tuttle ist plötzlich verschwunden, und Lauren glaubt zu wissen, dass er nicht wieder auftauchen wird. Um ihr Gewissen zu beruhigen, spricht sie am zweiten Tag seiner Abwesenheit mit dem Leiter der psychiatrischen Klinik eines kleinen, etwa eine Stunde entfernten Krankenhauses, und aufgrund ihrer vagen Beschreibung meint er, bei einem am Vortag eingelieferter Patient könne es sich um den Vermissten handeln. "Hartkes Stück beginnt mit einer alten japanischen Frau auf einer kahlen Bühne, die stilisierte Gesten nach Art des Nô-Theaters vollführt, und es endet etwa fünfundsiebzig Minuten später mit einem nackten Mann, abgezehrt und sprachgestört, der verzweifelt versucht, uns etwas mitzuteilen." (Seite 119)
Dazu ist die anonyme Roboterstimme eines Anrufbeantworters zu hören und die Videoprojektion einer nächtlichen Landstraße mit spärlichem Verkehrsaufkommen zu sehen. Alle Figuren werden von Lauren selbst dargestellt. Den nackten Greis spielt sie mit künstlichen Genitalien und einem fleischfarbenen Verband mit einem aufgeklebten Büschel Brusthaare. Er hatte Angst, mit dem Reden aufzuhören, weil sie in keiner Weise reagiert hatte, weder so noch so, und sich aus der Situation zurückzuziehen schien. (Seite 135) Nachdem der Hausbesitzer wieder weggefahren ist, nimmt Lauren in einem Zimmer zwei Körper wahr, ihren eigenen und Hände, die sie berühren, einen Penis, der in ihrer Faust anschwillt, und sie hört zwei Menschen flüstern. Dann fragt sie sich, ob es sich dabei nicht um erotische Fantasie gehandelt habe.
Das Zimmer war leer, als sie hinschaute. Keiner war da. Das Licht vibrierte so sehr, dass sie die wahren Farben von Wand und Boden sehen konnte. Sie hatte die Wände nie zuvor gesehen. Das Bett war leer. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass es leer sein würde, sie holte lediglich auf. Sie betrachtete das Laken und die Decke, das Knäuel auf ihrer Seite des Bettes, die als einzige in Gebrauch war. |
Buchbesprechung:
In der zweiundzwanzig Seiten langen Ouvertüre des Romans "Körperzeit" schildert Don DeLillo ein Ehepaar beim alltäglichen Frühstück in einem für sechs Monate gemieteten Landhaus, wobei er jede Bewegung und jede auch noch so banale Äußerung protokolliert. Aufgrund der Gewöhnung nehmen sich Rey und Lauren nur noch oberflächlich wahr und reden aneinander vorbei. "Was wir für die Wirklichkeit halten, ist nur die Spitze des Eisbergs – den entscheidenden Rest macht DeLillo sichtbar." (Michael Althen in: "Süddeutsche Zeitung", 21. März 2001)
In diesem Roman, dessen Geschehen sich – vom Inhalt zweier Zeitungsartikel abgesehen – in einem Haus an der Ostküste New Yorks abspielt, genauer: im Kopf der Protagonistin, die es bewohnt, geht es Don DeLillo offenbar weniger um die psychologische Ausleuchtung von Schock und Trauer als um die Dekonstruktion von Raum und Zeit. Du stehst am Tisch, wühlst in Papieren, und du lässt etwas fallen. Nur merkst du es nicht. Es dauert eine Sekunde oder zwei, bevor du es merkst, und selbst dann merkst du es nur als eine formlose Verzerrung des wimmelnden Raums rings um deinen Körper. Doch kaum hast du gemerkt, dass dir etwas heruntergefallen ist, hörst du mit Verspätung, wie es am Boden auftrifft. Das Geräusch bahnt sich seinen Weg durch ein gewaltiges Netz von Entfernungen. Du hörst das Ding fallen und weißt im gleichen Augenblick, was es ist, mehr oder weniger, und es ist eine Büroklammer. Das weißt du durch das Geräusch, das sie beim Auftreffen auf dem Boden macht, und durch die zurückgeholte Erinnerung an das Fallenlassen selbst, wie das Ding aus deiner Hand fällt oder vom Rand der Seite rutscht, an die es geklammert war. Es ist vom Rand der Seite gerutscht. Jetzt, wo du weißt, dass es dir heruntergefallen ist, erinnerst du dich, wie es geschehen ist, oder halb jedenfalls, oder vielleicht siehst du es irgendwie vor dir, oder etwas ganz anderes. Die Büroklammer trifft mit einem Purzelbaum auf dem Boden auf, schwach und schwerelos, ein Geräusch, für das es kein lautmalerisches Wort gibt, das Geräusch einer herunterfallenden Büroklammer, aber als du dich bückst, um sie aufzuheben, ist sie nicht da. (Seite 101f) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 Textauszüge: © Kiepenheuer & Witsch Seitenanfang |