Anatole France: Die Götter dürsten (Roman) |
Anatole France: Die Götter dürsten |
Inhaltsangabe:Paris 1793. Evarist Gamelin, ein dreißigjähriger erfolgloser Maler, wohnt bei seiner verwitweten Mutter im vierten Stock eines Mietshauses. Sein Vater war Messerschmied gewesen. Seine Schwester Julie hatte als Modistin gearbeitet und war dann einem Emigranten nach England gefolgt. Die Witwe Gamelin sagt zu ihrem Sohn: "Du hattest ein sanftes, liebevolles Gemüt. Auch deine Schwester hatte kein schlechtes Herz, aber selbstsüchtig war sie und heftig [...] Du konntest keinen Menschen leiden sehen, ohne zu weinen." (Seite 203)
Die Bürgerin Gamelin war nicht für die Aristokraten, die ihre Privilegien missbrauchten, aber sie steht auch der Großen Revolution skeptisch gegenüber, denn jetzt sind die Lebensmittel knapp und teuer, und man muss um alles lange anstehen. "Fünf Jahre Begeisterung, fünf Jahre Volksverbrüderung, Morde, Reden, Marseillaisen, Sturmläuten, Aristokraten an die Laterne, auf Piken getragene Köpfe, auf Kanonen reitende Weiber, Freiheitsbäume mit Jakobinermütze obendrauf, Jungfrauen und Greise, die in weißen Gewändern auf Triumphwagen einherfahren, Einkerkerungen, Guillotinierungen, Höchstpreise für Lebensmittel, Maueranschläge, Kokarden, Federbüsche, Säbel, Karmagnolen – das ist ein bisschen viel!" (Seite 213)
Der Bürger Blaise rät Gamelin, lieber hübsche Mädchen zu malen. Die Bürgerin war zwar keine Verehrerin männlicher Sittsamkeit; sie war nicht moralisch entrüstet, wenn ein Mann seinen Leidenschaften, seinen Wünschen und Neigungen nachgab. Sie liebte den keuschen Evarist also nicht wegen seiner Keuschheit; sie fand diese nur vorteilhaft, weil sie ihr Eifersucht und Argwohn ersparte und jede Bewegung vor Rivalinnen ausschloss. (Seite 208)
Elodie, die ihre Mutter vor elf Jahren verlor und sich von ihrem vergnügungssüchtigen Vater nicht genügend geliebt fühlt, beschließt wegen Gamelins Zurückhaltung, selbst die Initiative zu ergreifen. Gern hätte sie ihn geheiratet, aber das würde ihr Vater nicht zulassen, denn ein mittelloser, unbekannter Künstler wäre keine gute Partie für die Tochter eines in ganz Europa bekannten Kupferstichhändlers. Nach den leidenschaftlichen Liebesschwüren und ersten Küssen gesteht Elodie, dass sie früher bereits einmal einem Mann nachgegeben habe. Gamelin ist entsetzt und will den Namen wissen, aber Elodie verrät ihn nicht und lügt, der Mann sei inzwischen aus Frankreich geflohen. Also nicht nur ein Verführer, denkt Gamelin aufgebracht, sondern auch noch ein Emigrant! Und Elodie, die über seine Eifersucht erschrocken ist, lässt Gamelin in dem Glauben. "Wie, diese Harlekins, diese Hanswürste, Bramarbasse, Schäfer und Schäferinnen, die ich gemalt habe, wie Boucher sie vor fünfzig Jahren gemalt hat, sollen Karikaturen von Saint-Just und Couthon sein? Das wird doch kein vernünftiger Mensch behaupten!" (Seite 283)
Auf dem Rückweg trifft er auf Louis de Longuemare, einen Ordensbruder der Barnabiten, der aus seinem Kloster vertrieben worden war und den er beim Anstehen um Brot kennen gelernt hatte. Kurzerhand nimmt Brotteaux den obdachlosen Mönch in seiner Dachkammer auf. "[...] er ist kalt, gefühllos, ein böser Mensch, voller Ehrgeiz und Eitelkeit" (Seite 321) Und sie wirft ihrer Mutter vor, sie habe Evarist bevorzugt. Als Gamelin nach Hause kommt, versteckt die junge Frau sich im Nebenzimmer. Als die Mutter vorsichtig andeutet, dass Julie in Paris ist, fällt Gamelin ihr sofort ins Wort: "Schweig, Mutter! Sage nicht, dass sie beide nach Frankreich zurückgekehrt sind ... Wenn Sie umkommen müssen, dann wenigstens nicht durch meine Hand. Um ihret-, deinet- und meinetwillen darf ich nicht wissen, dass sie in Paris sind ... Zwinge mich nicht, es zu wissen, sonst ... [...] Wüsste ich, dass meine Schwester Julie da in dem Zimmer ist [...], ginge ich augenblicklich zum Überwachungsausschuss des Bezirks und zeigte sie an." (Seite 325)
Da begreift auch die Witwe Gamelin, dass ihr Sohn ein Ungeheuer ist. "Bürgerin, das Nötige soll geschehen. Seien Sie unbesorgt." (Seite 338) Angewidert gibt Julie sich hin, um ihren Lebensgefährten zu retten. Renaudin war brutal und machte kurzen Prozess. (Seite 338)
Dann erkennt sie am höhnischen Blick des Richters, dass er sie skrupellos getäuscht hat und nichts für Chassagne unternehmen wird. "Ich habe meinem Vaterland mein Leben und meine Ehre geopfert. Ich werde verfemt sterben und vermache dir, Unglückliche, nichts als ein verfluchtes Andenken [...] Ich werfe mir nichts vor [...] Was ich tat, würde ich auch ein zweites Mal tun. Ich nahm den Fluch auf mich für das Vaterland. Ich bin verflucht. Ich habe die Schranken der Menschheit überschritten, ich werde nie mehr zu ihr zurückkehren." (Seite 353) Am 28. Juli 1794 wird der von Gamelin wie ein Gott verehrte radikale Revolutionsführer Maximilie Robespierres geköpft. Gamelin will sich ein Messer ins Herz stoßen, aber die Klinge prallt an einer Rippe ab; er zerschneidet sich zwei Finger und bricht blutend zusammen. Einen Tag nach Robespierres Hinrichtung wird auch Gamelin zum Tod verurteilt. Auf dem Henkerskarren denkt er: "Ich sterbe gerecht. Es ist recht und billig, dass diese Schmähungen, die der Republik gelten, auf uns fallen; wir hätten sie davor schirmen sollen. Wir waren schwach. Wir haben uns der Nachsicht schuldig gemacht. Wir haben die Republik verraten. Unser Schicksal ist verdient. Selbst Robespierre, der Reine, der Heilige, sündigte durch Milde und Sanftmut." (Seite 363) |
Buchbesprechung:Am Beispiel von Einzelschicksalen aus ganz verschiedenen sozialen Schichten zeigt Anatole France in "Die Götter dürsten" die Grausamkeit einer Terrorherrschaft, die im Dienst einer Ideologie in alle Lebensbereiche vordringt. In so einer Situation gibt es stets blinde Fanatiker, die Andersgläubige vernichten und nicht davor zurückschrecken, sich selbst dabei zu zerstören. "Die Götter dürsten" ist eine vehemente Anklage gegen Fanatismus und Intoleranz jeder Art. Anatole France lässt keinen Zweifel daran, dass er die Eiferer verabscheut, die Mitläufer missbilligt und seine Sympathie mitfühlenden Menschen wie in diesem Fall der Dirne Athenais und dem Mönch Louis de Longuemare gilt. Züge des Verfassers scheint die Figur des toleranten und hilfsbereiten, stoischen und zugleich lebensfrohen Maurice Brotteaux des Ilettes aufzuweisen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Anatole France (Kurzbiografie) |