Michael Frayn: Das Spionagespiel (Roman) |
Michael Frayn: Das Spionagespiel |
Inhaltsangabe:
Stephen Wheatley wächst während des Zweiten Weltkriegs in einem Vorort von London auf. Mit seinen Eltern und seinem vier Jahre älteren Bruder Geoff wohnt er in einer Doppelhaushälfte. Hinter der anderen Seite des Gebäudes türmen sich ausrangierte Möbel und Metallteile, die Mr Pincher – wenn man den Leuten glauben darf – an seinem Arbeitsplatz stiehlt. [Aber] sie sprach ihn nicht persönlich an, sondern wandte sich kollektiv an Keith und an ihn – als "ihr beide" oder "Jungs". "Möchtet ihr beiden ein Glas Milch?", sagte sie vielleicht am Vormittag und sah dabei Keith an. Oder: "Los, Jungs, es wird Zeit, dass ihr eure Spielsachen aufräumt." Manchmal beauftragte sie Keith, Stephen etwas von ihr auszurichten: "Schatz, muss Stephen keine Hausaufgaben machen …? Keith, Liebes, möchtest du, dass Stephen zum Tee bleibt?"
Am liebsten spielen Keith und Stephen in den Trümmern des Hauses, in dem Miss Durrant durch eine deutsche Brandbombe getötet wurde. Da können sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen und sich beispielsweise Geheimgänge vorstellen. Als sie Knochen finden, von denen sie glauben, dass sie von einem Menschen stammen, verdächtigen sie Mr Gort als Mörder, und Keith schreibt dem Nachbarn Mr Mercaffy einen anonymen Brief mit entsprechenden Hinweisen. Auf Mr Gorts Verhaftung warten sie jedoch vergebens. Warum hat Keith eine Tante, die drei Häuser weiter wohnt? Tanten wohnten nicht in derselben Straße wie man selbst. Sie leben in fernen Orten, die man ein-, zweimal im Jahr besucht, allerhöchstens, und lassen sich nur an Weihnachten blicken. Und Keith' Mutter besucht sie nicht nur zwei-, dreimal im Jahr, sondern jeden Tag. Einmal sehen Keith und Stephen, wie ein Polizist auf dem Fahrrad bei Tante Dee hält. Deutlich erinnere ich mich an den Gesichtsausdruck von Keith' Mutter, als wir hineinlaufen und ihr erzählen, dass ein Polizist ins Haus von Tante Dee geht. Für einen Moment verliert sie die Fassung. Sie sieht krank und erschrocken aus. Sie reißt die Haustür auf und geht, nein, rennt die Straße hinunter … Unvermittelt behauptet Keith: "Meine Mutter ist eine deutsche Spionin."
Das erklärt einiges, zum Beispiel, warum Mrs Hayward so viele Briefe schreibt und warum Miss Durrants Haus als einziges in der Siedlung durch einen deutschen Luftangriff zerstört wurde: Sie hatte wahrscheinlich herausgefunden, dass es sich bei Mrs Hayward um eine gegnerische Agentin handelte und musste sterben, damit sie nichts verraten konnte. [...] fühle ich mich ihnen nicht ganz so ausgeliefert, denn die enorme Bedeutung des geheimen Wissens, das zwischen diesen beiden gepiesackten Ohren steckt, gibt mir Kraft. Während Mrs Hayward ihren Mittagsschlaf hält, schleichen Keith und Stephen ins Wohnzimmer und versuchen mit Lupe und seitlicher Taschenlampenbeleuchtung die Abdrücke auf ihrer Schreibtischauflage zu entziffern. Sie blättern im Adressbuch. Fündig werden sie in Mrs Haywards Taschenkalender. Stephen hält es nicht für richtig, in den Privatsachen der Mutter seines Freundes herumzuschnüffeln, aber Keith lässt sich nicht davon abbringen.
"Schreib das auf", sagt er. Plötzlich steht Keith' Mutter in der Tür.
"Was macht ihr denn hier?", fragt sie. Es heißt, Mrs Hardiment habe einen Spanner gesehen, einen Sittenstrolch, der Mrs Tracey küsste. Das finden Keith und Stephen ebenfalls verdächtig. Aber ihr Augenmerk gilt weiterhin Mrs Hayward. Sobald die Schule aus ist, laufe ich sofort zu unserem Versteck und beginne, das Haus der Haywards zu beobachten. Aber kaum ist Keith gekommen, muss ich schon nach Hause zum Nachmittagstee, und kaum bin ich wieder zurück und er auch, müssen wir wieder nach Hause, Schulaufgaben machen, zu Abend essen, ins Bett gehen. Genau, wie ich es schon geahnt hatte. Wir haben einer Aufgabe von nationaler Bedeutung nachzugehen, aber ständig wird unsere Arbeit von unwichtigen Alltagsdingen durchkreuzt.
Barbara Berrill, die ein Jahr älter ist, und deren Schwester Deirdre sich mit Geoff herumtreibt, fragt Keith und Stephen, was sie spielen, ob sie Leute ausspionieren. Selbstverständlich verraten ihr die Jungs nichts von ihrer selbstgestellten Aufgabe.
"Ich weiß, ihr beide habt viel Fantasie, und ich weiß, ihr erlebt spannende Abenteuer zusammen. Aber Keith ist leicht zu verführen, was du ja bestimmt schon bemerkt hast."
Sie lässt sich von Stephen versprechen, dass er zwar ihrem Sohn nichts von der Unterredung erzählt, aber auf ihn einwirkt, das Detektivspiel abzubrechen. Stephen fühlt sich hin- und hergerissen zwischen dem Versprechen und seiner Loyalität gegenüber Keith.
Die Stille unter dem Wellblechdach ist noch schauerlicher. Kein Schrei, kein Fluch, kein Atemzug. Als sie in ihre Straße zurückkommen, wartet Keith' Vater bereits ungeduldig vor dem Haus auf seine Frau. Kurz darauf läuft sie durch die Unterführung. Im Vorbeigehen fragt sie Stephen leise: "Wart ihr das?"
Wenn Stephen überhaupt etwas von den Vorgängen verstanden hat, dann vermutlich dies:
Stephen malt sich aus, dass es sich bei dem hustenden Mann unter dem Wellblechdach um einen abgeschossenen deutschen Piloten handelt, der sich mit dem Fallschirm gerettet hatte. Keith' Mutter fand ihn. Und nun bringt sie ihm heimlich Kleidung, Lebensmittel und Zigaretten. Vielleicht spioniert sie gar nicht für Deutschland, sondern hilft nur einem Deutschen, der in Schwierigkeiten geraten ist. "Als ihr, du und Keith, angefangen habt, Detektiv zu spielen", sagt sie, "als ihr begonnen habt, in meinen Sachen herumzukramen und mich zu beobachten, da dachtest du bestimmt nicht, dass alles so enden [...] würde."
Sobald Keith' Mutter wieder im Haus verschwunden ist, kehrt Barbara ins Versteck zurück. Während sie erneut mit Stephen eine Zigarette teilt, die sie ihrer älteren Schwester gestohlen hat, zieht sie neugierig das Küchentuch vom Korb und untersucht den Inhalt: zwei Eier, zwei Scheiben Speck, Kartoffeln, Möhren, Dosenfleisch, Fieber senkende Tabletten und ein Brief. Bevor Stephen etwas unternehmen kann, schlitzt Barbara ihn mit dem "Bajonett" auf. In diesem Augenblick ertönt die Stimme von Keith' Vater. Er verlangt nach dem Picknickkorb. Nur weil ich Dinge angeschaut habe, die ich nicht hätte anschauen dürfen, habe ich sie verändert. Ich habe Keith' Eltern entzweit. Ich habe Keith' Mutter und Tante Dee entzweit. Alles ist ruiniert. Seine besorgte Mutter hört nicht zu fragen auf; sie möchte wissen, was ihn quält. Selbst mein Vater spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Um die Sache mit dem Korb wiedergutzumachen, holt Stephen Tabletten gegen Fieber aus dem Badezimmerschrank. Außerdem nimmt er von den Vorräten, die für den Notfall angelegt wurden, eine Büchse Sardinen, eine Dose Kondensmilch und Kekse mit. Obwohl er Angst hat, durchquert er die Armensiedlung. Bei dem Höllentrip schnappen Hunde nach ihm, und verwahrloste Kinder bewerfen ihn mit Steinen.
"Nur damit sie etwas hat", flüstert er. "Und sag ihr … sag ihr … ach … nichts, nichts. Gib es ihr einfach. Sie wird schon verstehen."
Vor dem Haus der Familie Hayward sieht Stephen zum ersten Mal Mrs Traceys Kinderwagen stehen. Was hat das zu bedeuten? "Du hast ihr unsere Sachen gezeigt", sagt er leise.
Stephen erschrickt so, dass er vergisst, zu fragen, wen Keith meint: seine Mutter oder Barbara. Keith drückt ihm die Spitze des "Bajonetts" an die Kehle. Erst nach einiger Zeit lässt er gelangweilt von ihm ab. Ich litt zum ersten Mal jene Qualen, die, wie ich später erkannte, in solchen Situationen üblich waren.
Erst sehr viel später begreift Stephen die Zusammenhänge. Aus Stephen Wheatley ist dieser alte Mann geworden, der sich langsam und vorsichtig in den Fußstapfen seines früheren Ichs bewegt. Dieser alte Mann heißt Stefan Weitzler.
Bei dem Mann, der sich unter dem Wellblechdach versteckte, handelte es sich um Peter Tracey. Offenbar war er desertiert. Er, Tante Dee, deren Schwester und Ted Hayward hatten sich in den Zwanzigerjahren beim Tennisspielen kennengelernt. Tracey verliebte sich zwar in Bobs, aber als sie Ted heiratete, ließ er sich mit ihrer Schwester trauen, hatte dann aber auch ein Verhältnis mit seiner Schwägerin. |
Buchbesprechung:"Das Spionagespiel" lässt sich als Kriminal-, Kriegs- und Entwicklungsroman lesen. Aus harmlosen Anfängen entwickelt sich eine Eigendynamik mit tragischen Auswirkungen. Die beiden Kinder, die mit ihren fantasievollen Spielen eine Kette verhängnisvoller Ereignisse in der Welt der Erwachsenen auslösen, verstehen nur rudimentär, was geschieht und sie verstört. Erst sechzig Jahre später kehrt einer der beiden Freunde an den Ort zurück und versucht, die Erinnerungen aufzuarbeiten. Es ist wirklich schwer, sich zu erinnern, in welcher Reihenfolge alles passiert ist – aber wenn einem das nicht gelingt, wird man nicht herausfinden, wie das eine zum anderen führte und wie sich alles zueinander verhielt.
Elegant wechselt Michael Frayn zwischen den schmerzlichen Reflexionen des melancholischen alten Mannes und dem Erleben der Kinder, zwischen Präsens
Ich sehe, wie er aus der verworfenen Haustür tritt und sich noch immer einen Rest vom Nachmittagstee in den Mund stopft. (Seite 12) Den Roman "Das Spionagespiel" von Michael Frayn gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christian Brückner (Regie: Dörte Voland, Berlin 2004, 6 CDs, ISBN: 3-935125-33-X). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011 |