Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen |
Joachim Gauck, Helga Hirsch:
|
Inhaltsangabe und Buchbesprechung:Joachim Gauck (Kurzbiografie) In den ersten fünf Kapiteln seiner unter dem Titel "Winter im Sommer – Frühling im Herbst" veröffentlichten "Erinnerungen" erzählt Joachim Gauck von sich und seiner Familie: Kindheit, Jugend, Studium, Heirat, Tätigkeit als Seelsorger. Dabei verrät er nicht viel Privates. Beispielsweise konkretisiert er die folgende Feststellung nicht: Im Rückblick ist mir deutlich geworden, dass ein Opfer-Vater dem pubertierenden Sohn die Auseinandersetzung erschwert.
Mit dem sechsten Kapitel wird die Darstellung unpersönlicher. Sie bleibt zwar chronologisch, wird aber zugleich auf Themen ausgerichtet, etwa die Kirche im Sozialismus oder den Aufbau der "Gauck-Behörde". "Winter im Sommer – Frühling im Herbst" ist mit Ausnahme der ersten fünf Kapitel keine Autobiografie, sondern der Rückblick eines wachen, nachdenklichen Zeitzeugen auf das Leben in der DDR, die friedliche Revolution (Wende), die Wiedervereinigung und die Handhabung der Stasi-Akten.
Joachim Gauck versucht nicht, sich als Dissidenten darzustellen, sondern schildert glaubwürdig, dass er in der DDR blieb, weil er in der Kirche einen Frei- und Schutzraum fand.
Nicht die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949, sondern der Mauerbau am 13. August 1961 sollte Haltung und Mentalität der Menschen im Land besonders nachhaltig prägen: Aus objektiver Machtlosigkeit, die der übermächtige Staatsapparat über die Bevölkerung verhängt hatte, wurde nun auch subjektive Ohnmacht. Und da man den Menschen die institutionellen Möglichkeiten einer Partizipation an der Macht nahm, verloren sie allmählich die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln. Politische Meilensteine markieren Gaucks Weg: Volksaufstand am 17. Juni 1953, Bau der Berliner Mauer ab 13. August 1961, die Aufgabe der Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland durch die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 1969 und schließlich die friedliche Revolution, die zur Wiedervereinigung Deutschlands führte.
Die Politik von Glasnost und Perestroika des Generalsekretärs der KPdSU Michael Gorbatschow hat die DDR-Bürger zweifellos ermutigt. Hatte de resignative Entschuldigung immer gelautet: Man kann ja doch nichts ändern!, so glaubten wir seit dem Kurswechsel in Moskau, Druck auf unsere eigene Führung ausüben zu können und zu müssen. Der über Jahrzehnte propagierte Slogan "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" ließ sich jetzt gegen die eigene Führung wenden.
Im West-Fernsehen verfolgte Joachim Gauck 1989 die Vorgänge an der ungarisch-österreichischen Grenze, und er sah, wie der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 den Botschaftsflüchtlingen im Palais Lobkowicz in Prag verkündete, dass sie ausreisen dürften. Die Mauer fiel erst, als ihre Bauherren fielen. Vor der Einheit kam die Freiheit.
Willy Brandt freute sich am 10. November auf einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus: "Nun wächst zusammen, was zusammengehört." Aber, so Joachim Gauck, Brandt dachte dabei nicht an eine Vereinigung der beiden Staaten, sondern an einen Staatenbund. Überall wurde der Ostdeutsche, der gerade noch der Sieger der Geschichte gewesen war, zum Lehrling. Mancher fühlte sich da fremd im eigenen Land. Als der Zusammenbruch des DDR-Regimes abzusehen gewesen war, hatte Erich Mielke angeordnet, brisante Stasi-Unterlagen zu vernichten. Stapelweise wurden Akten durch die Shredder gejagt. Die Bürgerrechtler verhinderten durch die Besetzung von Stasi-Niederlassungen, dass noch mehr verschwand. Die entscheidende Erschütterung der alten Machtstrukturen erfolgte am 4. und 5. Dezember [1989] durch die Besetzung der Stasi-Gebäude in verschiedenen Städten der DDR und endete am 15. Januar [1990] mit der Einnahme des Stasi-Hauptquartiers in Berlin-Lichtenberg. Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 war die Revolution – wie häufig zu lesen – keineswegs zu Ende gewesen.
Als Vorsitzender eines Sonderausschusses arbeitete Joachim Gauck maßgeblich daran mit, dass das Parlament am 24. August 1990 das "Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS" verabschiedete. Während im Einigungsvertrag vorgesehen war, die Stasi-Unterlagen nach der Wiedervereinigung dem Bundesarchiv zu überlassen, setzte Joachim Gauck sich erfolgreich für die Bildung einer eigenständigen Behörde ein. Er wurde am 19. September 1990 als "Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Verwaltung der Akten und Dateien des ehemaligen Ministeriums der Staatssicherheit" vorgeschlagen, in der letzten Sitzung der Volkskammer am 28. September gewählt und am 3. Oktober von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl bestätigt. Außerdem war er einer der 144 Volkskammer-Abgeordneten, die in den Deutschen Bundestag delegiert wurden. Aber er legte sein Mandat am 4. Oktober nieder, um sich ganz seiner neuen Aufgabe widmen zu können. Eines erweckt Vertrauen – es verspricht Selbstverwirklichung, Gestaltungsmöglichkeiten, Zukunft. Es lässt in der Begegnung und der Nähe zum Mitmenschen Empathie und Verantwortung wachsen, das Grundelement moralischen Verhaltens. Das andere Gesicht der Freiheit hingegen lässt uns erschrecken – wenn es als Raubtierkapitalismus, nacktes Kalkül, Gruppenegoismus, als unethischer Forschungseifer letztlich den Egoismus fördert und die Solidarität und das Mitleid mit dem Anderen neutralisiert. Das Erschrecken über diese Seite der Freiheit ist letztlich ein Erschrecken über uns, über das destruktive Potenzial in uns.
Die Autobiografie "Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen" von Joachim Gauck und Helga Hirsch gibt es auch in einer gekürzten Fassung als Hörbuch, gelesen von Joachim Gauck und Helga Hirsch (Bearbeitung: Helga Hirsch, Regie: Wolf-Dietrich Fruck, Köln 2010, 4 CDs, ISBN 978-3-8371-0551-3.) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Joachim Gauck (Kurzbiografie) |