Paolo Giordano: Schwarz und Silber (Roman) |
Paolo Giordano: Schwarz und Silber |
Inhaltsangabe:
An seinem 35. Geburtstag holt der Ich-Erzähler seine als Architektin arbeitende Ehefrau Nora vom Flughafen Turin ab. Der promovierte Physiker hat einen zeitlich befristeten Vertrag der Universität Turin. Die beiden sind seit zehn Jahren verheiratet und wohnen mit den achtjährigen Sohn Emanuele in der Stadt. Während der Autofahrt nach Hause erhält Nora die telefonische Nachricht vom Tod der Signora Anna in Rubiana. Zu meiner Betreuung hatten meine Eltern sich also einer Person bedient, die arm war: Ich weiß nicht, warum, aber in dem Moment empörte mich diese Entdeckung.
Als Doktorand an der Physik-Fakultät besuchte er einen Schauspielkurs. Das geschah weniger aus Begeisterung fürs Theater als in der Hoffnung, ein Mädchen kennenzulernen. Nora stand mit ihm in Carlo Goldonis "Die Herbergswirtin" auf der Bühne.
Sie kommt ein paar Mal zu uns, widerwillig. Sie betritt die Wohnung und führt eine Reihe von Ritualen durch: Sie macht Kaffee, den sie dann zwischen Balkon und Küche schlürft, zieht an einer Zigarette und erwartet, dass jemand sie unterhält, dann bindet sie sich die Haare zusammen, nimmt ein Paar Gummihandschuhe und eine saubere Schürze, zieht beides vor dem Spiegel an und prüft ihr Aussehen. Nachdem sie sich so in die perfekte Haushaltshilfe verwandelt hat, wendet sie sich an ihre Tochter: "Nun, was gibt es zu tun?"
Die Erfahrung mit einem Au-pair-Mädchen war nicht besser. Ich würde ihr gern erwidern, dass es da wenig zu verstehen gibt, dass das halt so geht und basta, ihr Tumor fällt unter eine Statistik, vielleicht in den vernachlässigten Auslauf einer Gauß'schen Wahrscheinlichkeitskurve, bewegt sich aber doch stets innerhalb der natürlichen Ordnung. Diesen Realismus behalte ich jedoch für mich, nur Nora gegenüber, die sich auf ähnlich traumverlorene Weise nach dem Warum fragt, erlaube ich mir, ihn zu zeigen. Ihrer Meinung nach ist meine Klarsicht nur eine verbrämte Form von Zynismus, einer der Aspekte an mir, die sie am meisten irritieren. Wenn die Frauen grübelten, ob der Krebs von einem Funkmasten oder Kernkraftwerk verursacht worden sein könnte, meinte er: Es ist leichter, sich über das von den Franzosen angereicherte Uran oder die elektromagnetische Strahlung aufzuregen als über das ebenso unsichtbare Fatum, die Leere, über die erbarmungslose Geißel Gottes.
Als der Physiker erfuhr, dass seine Schwiegermutter vorgeschlagen hatte, es bei Babette mit Akupunktur zu versuchen und Nora daraufhin mit ihr und der Kranken zu einem blinden Akupunkteur gegangen war, wunderte er sich vor allem über den Unverstand seiner Frau. Zur Anprobe gehe ich mit ihr, was mich ziemlich befremdet, ungefähr so, als müsste ich sie zum Frauenarzt begleiten.
Babette lebte dabei auf. Die Perücke gefiel ihr und stärkte ihre Hoffnung, dass der Krebs besiegt werden könne. Seit langer Zeit zum ersten Mal widmete ihr jemand etwas Zeit und machte sich die Mühe, sie mit dem Auto zu fahren.
"Nein, ich möchte, dass wir vorher entscheiden, wie wir uns verhalten wollen. [...]
Er beklagte sich darüber, dass sie die Entscheidung offenbar bereits ohne ihn getroffen habe. Am Ende stellte sich heraus, dass es sich um einen falschen Alarm gehandelt hatte. Aber auch ohne diesen Konflikt war die seit Babettes Ausbleiben entstandene Distanz zwischen ihnen unübersehbar. Sie hatten keinen Sex mehr, und er wusste auch nicht mehr, wie er sich seiner Frau nähern sollte – was zuvor nie ein Problem gewesen war. Sie will Sie sehen. Ich glaube, es dauert nicht mehr lang.
Babette lag entkräftet im Bett und schlief auch nach wenigen Minuten erschöpft wieder ein, aber sie nahm ihrem Besucher das Versprechen ab, immer auf seine Frau zu achten. Zwei Möbelstücke: das einzige Geschenk von Babette und alles, was wir von ihr bewahren. Emanuele hat sie nicht bedacht. Er hatte Babette darauf hingewiesen, dass ihr das Wissen über ihren bevorstehenden Tod die Chance eröffne, sich darauf vorzubereiten und sich um ihr Vermächtnis zu kümmern. Aber stattdessen war sie nach der Diagnose "nur darauf bedacht gewesen, ihre Tage ganz und ausnahmslos für die Therapie dranzugeben, um eine Handvoll sinnloser Tage dazuzugewinnen". |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Schwarz und Silber" geht Paolo Giordano der Frage nach, wie sich der Ausfall einer Person in einem Beziehungsgeflecht auswirken kann. Als die Hausangestellte Babette an Krebs erkrankt und stirbt, gerät in der Familie des Ich-Erzählers einiges aus den Fugen. Der achtjährige Sohn versteht während Babettes monatelanger Krankheit nicht, warum seine Kinderfrau nicht mehr für ihn da ist. Aber auch die Eltern verlieren ohne Babette den Halt. Sie lassen zu, dass der Haushalt vernachlässigt wird, entfernen sich voneinander und werden sich einiger inkompatibler Wesenszüge bewusst. Bevor sie sich versehen, befinden sie sich in einer Ehekrise. Dies ist das Fragment einer wahren und leidvollen Geschichte in literarischer Verarbeitung.
Der am 19. Dezember 1982 in Turin geborene Physiker und Schriftsteller Paolo Giordano (* 1982) wurde für "Die Einsamkeit der Primzahlen" – das meistverkaufte Buch Italiens im Jahr 2008 – mit dem Premio Strega ausgezeichnet, und zwar als bisher jüngster Preisträger. Als zweiten Roman veröffentlichte er 2002 "Il corpo umano" ("Der menschliche Körper", Übersetzung: Barbara Kleiner, Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, ISBN 978-3-498-02525-0). "Il nero e l'argento" / "Schwarz und Silber" ist sein dritter Roman. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen |