Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind (Roman) |
Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind |
Inhaltsangabe:
Am 15. Januar verschickt Emmi Rothner eine E-Mail, mit der sie ihr Abonnement der Zeitschrift "Like" kündigen will. Als sie nach gut einem Monat noch keine Antwort bekommen hat, beschwert sie sich. Daraufhin teilt ihr der Empfänger ihrer beiden E-Mails mit, dass diese aufgrund eines Tippfehlers – leike statt like – bei ihm gelandet seien. Liebe Emmi Rothner, wir kennen uns zwar fast noch weniger als überhaupt nicht. Ich danke Ihnen dennoch für Ihre herzliche und überaus originelle Massenmail! Sie müssen wissen: Ich liebe Massenmails an eine Masse, der ich nicht angehöre. Mit freundlichen Grüßen, Leo Leike. (Seite 7)
Emmi entschuldigt sich umgehend. Sie ist Webdesignerin; seine E-Mail-Adresse rutschte ihr irrtümlich in die Kundendatei.
Lieber Leo, wenn sie mir drei Tage nicht schreiben, empfinde ich zweierlei: 1.) Es wundert mich.
Nach einem Jahr weiß Leo immerhin, dass Emmi verheiratet ist und zwei Kinder hat: Fiona ist sechzehn, Jonas fünf Jahre jünger. Sie hat von ihm erfahren, dass er als Universitäts-Assistent für Sprachpsychologie an einer Studie über den Einfluss von E-Mails aufs Sprachverhalten und über E-Mails als Transportmittel von Emotionen arbeitet. Und er hat ihr davon berichtet, dass ihn seine Lebensgefährtin Marlene kürzlich wegen eines Piloten bei einer spanischen Fluglinie verließ. Ich bin für Sie wie Telefonsex, nur halt ohne Sex und ohne Telefon. (Seite 43) Sie will endlich wissen, wie er aussieht. Daraufhin macht er einen Vorschlag: Sie könnten beide am nächsten Sonntag zwischen 15 und 17 Uhr im Großen Messecafé Huber sein, aber sie dürften sich nicht zu erkennen geben. Emmi ist einverstanden.
Drei Tage später Ein einziger Mann habe interessant ausgesehen, schreibt Emmi, aber sie sah eigentlich nur seinen Rücken, denn er stand mit einem "langbeinigen blonden Vamp-Engel-Model" an der Theke. Der wollte und hat wohl auch niemand anderen gesehen als sie. (Seite 49) Leo beschreibt sehr detailliert drei der Frauen im Großen Messecafé Huber und meint, Emmi sei eine von ihnen gewesen. Sie bestätigt es, ohne zu verraten, welche und fragt, ob Leo sich als Kellner verkleidet habe. Nein, lautet die Antwort. Emmi bettelt um Hinweise. Da fragt er, ob sie Geschwister habe. Ja, eine ältere Schwester in der Schweiz. Leo hat einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Mit Adrienne kann er über alles reden. Emmi versteht nicht, wo der Hinweis sein soll.
Fragen Sie mich, wie meine Schwester aussieht.
Leo erklärt ihr, dass es sich bei dem "langbeinigen blonden Vamp-Engel-Model" um seine Schwester Adrienne gehandelt habe. Während er absichtlich mit dem Rücken zu den anderen Gästen an der Theke stand, beobachtete sie alle in Frage kommenden Frauen und beschrieb sie ihm eingehend. Allerdings hat er Emmis Gesicht ebenso wenig gesehen, wie sie seines.
1.) Wollen Sie mich persönlich kennenlernen? Leo schreibt:
Sie sind wie eine zweite Stimme in mir, die mich durch den Alltag begleitet. (Seite 77) Und Emmi erklärt: Ich kann in meinen E-Mails an Sie so sehr die echte Emmi sein wie sonst nie. Im "wirklichen Leben" muss man, wenn es gelingen soll, wenn man den langen Atem haben will, ständig Kompromisse mit seiner eigenen Emotionalität eingehen: DA darf ich nicht überreagieren! DAS muss ich akzeptieren! DA muss ich darüber hinwegsehen! – Ständig passt man seine Gefühle der Umgebung an, schont die, die man liebt, schlüpft in die hundert kleinen Alltagsrollen, balanciert, tariert aus, wiegt ab, um das Gesamtgefüge nicht zu gefährden, weil man selbst ein Teil davon ist. (Seite 98) Nachdem Emmi mit ihrer Freundin Sonja über ihren E-Mail-Partner gesprochen hat, befürchtet sie, dass er nur wegen seiner Studie an ihr interessiert ist. Das nimmt er ihr übel: Er hat seine Mitarbeit an dem Projekt bereits aufgekündigt, denn das Thema wurde ihm zu privat. Aber er versöhnt sich wieder mit Emmi und möchte mehr über ihr Familienleben erfahren. Sie erwidert: Leo, ich kann es nicht. Ich kann Ihnen diese Welt nicht mitteilen. Sie können niemals ein Teil davon werden. Sie ist zu kompakt. Sie ist eine Festung. Kann nicht erobert werden, duldet keine Eindringlinge, hält geschlossen dagegen. (Seite 105) Eines Tages schwärmt Emmi in einer E-Mail von ihrer Freundin Mia Lechberger, einer vierunddreißigjährigen Sportpädagogin und weist Leo darauf hin, dass diese Traumfrau zur Zeit keinen Partner habe. Zunächst sträubt Leo sich gegen die Verkuppelungsabsichten Emmis, aber dann geht er zu ihrer Verblüffung darauf ein, lässt sich Mias Telefonnummer geben, ruft sie an und trifft sich mit ihr. Weitere Verabredungen folgen. Emmi kann es kaum glauben, aber weder von Leo noch Mia erfährt sie mehr über die Beziehung. Leo versichert Emmi nur, dass er Mia gleich zu Beginn gebeten habe, nicht über Emmis Aussehen zu reden. Und er schreibt: Mia ist Materie. Emmi ist Fantasie. Beides mit all seinen Vor- und Nachteilen. (Seite 126) Emmi ist eifersüchtig, und ihre Freundschaft mit Mia gerät in eine Krise. In einer E-Mail an Leo klagt sie: Ich kann heute nicht schlafen. Habe ich Ihnen eigentlich schon einmal vom Nordwind erzählt? Ich vertrage keinen Nordwind, wenn mein Fenster offen ist. (Seite 140)
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Erst nach einiger Zeit klärt Leo sie darüber auf, dass Mia und er sich beim ersten Treffen wie Emmis Marionetten vorgekommen seien. Ich trug eine Tafel um den Hals mit der Aufschrift: "Gehört Emmi! Berühren verboten!" Mia fühlte sich darauf reduziert, mich auszuhorchen. Sie sollte Ihnen detailreich von mir erzählen, sie sollte Ihnen die andere Ebene von mir servieren, die, die Sie nicht kennen, die physische. (Seite 145)
Aus Trotz schliefen sie einmal miteinander, und um sich für Emmis Manipulationsversuch zu rächen, ließen Leo und Mia sie im Unklaren über ihre Beziehung.
Leo, bitte, treffen wir uns! Versäumen wir nicht den vielleicht letzten sinnvollen Zeitpunkt dafür. Was riskieren Sie dabei? Was haben sie zu verlieren? Als Emmi insistiert, warnt er: Wir steuern auf die große Ernüchterung zu. (Seite 161)
Weil Leo sich gegen eine persönliche Begegnung sträubt, möchte Emmi wenigstens einmal seine Stimme hören. Sie tauschen ihre Telefonnummern aus. Dann spricht Leo auf Emmis Anrufbeantworter und sie auf seinen. Gleich darauf kommentieren sie ihre Eindrücke in neuen E-Mails: Leo findet Emmis Stimme "wahnsinnig erotisch", und sie ist überrascht darüber, dass seine Stimme "viel verwegener" klingt als er schreibt. Und hier nun die Bitte: Herr Leike, treffen Sie sich mit meiner Frau! Bitte tun Sie es endlich, damit der Spuk ein Ende hat! [...] Ich leide unter meiner Unterlegenheit und Schwäche. Was glauben Sie, wie erniedrigend es für mich ist, solche Zeilen zu formulieren [...] Sie sind nicht greifbar, Herr Leike, nicht antastbar, Sie sind nicht real, Sie sind ein einziges Fantasiegebilde meiner Frau, Illusion vom unendlichen Glück der Gefühle, weltferner Traumel, Liebesutopie, aus Buchstaben gebaut. Dagegen bin ich machtlos. (Seite 181)
Zum Schluss ersucht er Leo, Emma nicht zu verraten, dass er ihre E-Mails las und Leo kontaktierte. Wenn das nicht aufhört, wird unsere Ehe zerbrechen. (Seite 201)
Endlich erklärt Emmi sich mit einem Abschiedstreffen einverstanden. Leo fragt, in welchem Lokal es stattfinden soll, aber sie möchte zu ihm in die Wohnung kommen.
"Amüsiere dich gut, EMMI." (Seite 222) Statt das Haus zu verlassen, zog sie sich in ihr Zimmer zurück.
Leo, es ist etwas geschehen. Mein Gefühl hat den Bildschirm verlassen. Ich glaube, ich liebe dich. Und Bernhard hat es gespürt. Mir ist kalt. Der Nordwind bläst mir entgegen. Wie tun wir weiter? |
Buchbesprechung:
Zwischen einem Mann und einer Frau kommt durch einen Tippfehler in einer E-Mail-Adresse ein zufälliger Kontakt zustande. Es folgen weitere Mails, und im Lauf der Zeit kommen sich die beiden in dem Spannungsfeld zwischen physischer Distanz und virtueller Intimität immer näher. Aus der anfangs harmlosen Plauderei entwickelt sich ein "Liebesballett" (Andreas Isenschmid, "Neue Zürcher Zeitung", 17. Dezember 2006), eine "aus Buchstaben gebaute Liebesutopie" (Seite 181). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Daniel Glattauer: Darum |