Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Roman) |
Johann Wolfgang von Goethe:
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Inhaltsangabe:Eduard und Charlotte lieben sich schon lange, aber erst als ihre jeweiligen Ehepartner gestorben waren, konnten sie heiraten. Mag ich doch so gern unserer frühsten Verhältnisse gedenken! Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt: du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich älteren reichen Frau verband; ich von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten, aber geehrten Manne meine Hand reichen musste. Wir wurden wieder frei; du früher, indem dich dein Mütterchen in Besitz eines großen Vermögens ließ; ich später, eben zu der Zeit, da du von Reisen zurückkamst. Als Eduard von seinen Reisen zurückkam, versuchte Charlotte erst einmal, ihn mit ihrer Nichte Ottilie zusammenzubringen, denn das wäre für das mittellose, von ihr betreute Mädchen eine gute Partie gewesen. Eduard hatte jedoch nur Augen für seine Jugendliebe. Erst viel später wird Charlotte erkennen, dass sie sich über Eduards wahre Motive irrte: Warum konnt' ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe unterscheiden? Warum nahm ich seine Hand an, da ich als Freundin ihn und eine andre Gattin glücklich gemacht hätte?
Das wohlhabende Paar lebt auf Eduards Landsitz, einem Schloss, dessen Park neu angelegt wird. Charlottes Tochter Luciane wird zusammen mit ihrer Cousine Ottilie in einem Internat erzogen. So lass mich denn dir aufrichtig gestehen, entgegnete Charlotte mit einiger Ungeduld, dass diesem Vorhaben mein Gefühl widerspricht, dass eine Ahnung mir nichts Gutes weissagt. Die Entscheidung wird erst einmal vertagt, aber Eduard ist es nicht gewohnt, dass einer seiner Wünsche unerfüllt bleibt. Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt. Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Eltern, die ihn zu einer seltsamen, aber höchst vorteilhaften Heirat mit einer viel älteren Frau zu bereden wussten, von dieser auch auf alle Weise verzärtelt, indem sie sein gutes Betragen gegen sie durch die größte Freigebigkeit zu erwidern suchte, nach ihrem baldigen Tode sein eigner Herr, auf Reisen unabhängig, jeder Abwechslung, jeder Veränderung mächtig, nichts Übertriebenes wollend, aber viel und vielerlei wollend, freimütig, wohltätig, brav, ja tapfer im Fall – was konnte in der Welt seinen Wünschen entgegenstehen!
Schließlich ändert Charlotte ihre Meinung, denn sie überlegt nun ihrerseits, auch jemand ins Schloss zu holen. Sie hat nämlich erfahren, dass Ottilie wegen ihrer Mittellosigkeit von Luciane und anderen Mitschülerinnen verachtet wird und spielt mit dem Gedanken, die Nichte aus dem Internat zu holen. Eduard schreibt seinem Freund und lädt ihn ein.
Wäre es denn leicht anders zu machen gewesen?, fragte Eduard. Eduard zögert, Charlotte auf die Verbesserungsmöglichkeit hinzuweisen, aber dann tut er es doch. Charlotte stand betroffen. Sie war geistreich genug, um schnell einzusehen, dass jene Recht hatten; aber das Getane widersprach, es war nun einmal so gemacht; sie hatte es recht, sie hatte es wünschenswert gefunden, [...] sie verteidigte ihre kleine Schöpfung [...]. Sie war bewegt, verletzt, verdrießlich; sie konnte das Alte nicht fahren lassen, das Neue nicht ganz abweisen; aber entschlossen wie sie war, stellte sie sogleich die Arbeit ein und nahm sich Zeit, die Sache zu bedenken und bei sich reif werden zu lassen.
Der Hauptmann ordnet auch Eduards Papiere. Er verfügt auf vielen Gebieten über Kenntnisse und Fertigkeiten. Das macht sich auch Charlotte zunutze, und sie vergisst ihre anfänglichen Vorbehalte gegen seine Aufnahme. Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich eben so zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne dass man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe. Eduard veranschaulicht das, indem er den Buchstaben Namen zuordnet: A – Charlotte, B – er selbst, C – der Hauptmann und D – Ottilie. Charlotte meint dazu: Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten? Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht, und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlass recht zu bedenken. Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentliche Zugesellung eines dritten aufgehoben, und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward.
Ottilie ist noch im Internat. Luciane hat die Prüfungen mit Bravour bestanden und verhöhnt ihre Cousine, die daran scheiterte. Als dies durch den Brief eines Lehrers auf dem Schloss bekannt wird, beschließt Eduard, nach dem Hauptmann auch das arme Mädchen aufzunehmen. Gegen Höhere und Ältere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen Artigkeit, gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu zeigen. Weil der Hauptmann Charlotte bei den Arbeiten im Park hilft, ist es unvermeidlich, dass sie viel Zeit miteinander verbringen. Parallel dazu kommen auch Eduard und Ottilie sich näher. Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten, das der Jugend Ottiliens besonders zusagte.
Obwohl Eduard die Gegend durch seine Jagdwanderungen gut kennt, verläuft er sich bei einem Spaziergang mit Ottilie. Er befürchtet, Ottilie könne sich beim Durchstreifen des Gestrüpps an dem Medaillon mit dem Bild ihres verstorbenen Vaters verletzen, das sie unter dem Kleid auf der Brust trägt. Als er sie auf die Gefahr aufmerksam macht, löst sie das Kettchen und vertraut Eduard das Kleinod an. Schließlich gelangen sie zu einer Mühle, und der Müller führt sie zurück. … der mit seiner Ecke die rechte Ecke des Gebäudes, mit seiner Rechtwinkligkeit die Regelmäßigkeit desselben, mit seiner wasser- und senkrechten Lage Lot und Waage aller Mauern und Wände bezeichnet.
Ein Geselle fordert die Umstehenden auf, Gegenstände einmauern zu lassen. Ottilie zögert und entscheidet sie sich dann für das Medaillon mit dem Bild ihres Vaters. Sie hatten früher, beide schon anderwärts verheiratet, sich leidenschaftlich liebgewonnen. Eine doppelte Ehe war nicht ohne Aufsehen gestört; man dachte an Scheidung. Bei der Baronesse war sie möglich geworden, bei dem Grafen nicht. Sie mussten sich zum Scheine trennen, allein ihr Verhältnis blieb; und wenn sie Winters in der Residenz nicht zusammen sein konnten, so entschädigten sie sich Sommers auf Lustreisen und in Bädern.
Charlotte kommt der Besuch ungelegen, denn sie möchte nicht, dass ihre unverdorbene Nichte von dem doppelten Ehebruch erfährt. Doch das Paar trifft am nächsten Tag ein, wie angekündigt. Jener Freund, so fuhr er fort, tat noch einen andern Gesetzvorschlag. Eine Ehe sollte nur alsdann für unauflöslich gehalten werden, wenn entweder beide Teile, oder wenigstens der eine Teil, zum drittenmal verheiratet wäre. Denn was eine solche Person betreffe, so bekenne sie unwidersprechlich, dass sie die Ehe für etwas Unentbehrliches halte.
Der Graf ist vom Hauptmann angetan und beabsichtigt, ihm eine gute, mit der Beförderung zum Major verbundene Stelle anzubieten. Charlotte erschrickt bei dem Gedanken, dass der Hauptmann das Schloss verlassen könnte. Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg: denn die Luftgestalt ihres Freundes schien ihr Vorwürfe zu machen.
Eduard wiederum glaubt, Ottilie in den Armen zu halten. Um Gottes willen! rief er aus, was ist das? Das ist meine Hand! [...] Eduard hob seine Arme empor: du liebst mich! rief er aus: Ottilie du liebst mich!, und sie hielten einander umfasst. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen. Währenddessen wollen auch Charlotte und der Hauptmann wieder anlegen, aber sie fahren sich fest, bevor sie ganz am Ufer sind. Der Hauptmann steigt deshalb ins Wasser und trägt Charlotte ans Land. Glücklich brachte er die liebe Bürde hinüber, stark genug, um nicht zu schwanken oder ihr einige Sorge zu geben, aber doch hatte sie ängstlich ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Er hielt sie fest und drückte sie an sich. Erst auf einem Rasenabhang ließ er sie nieder nicht ohne Bewegung und Verwirrung. Sie lag noch an seinem Halse; er schloss sie aufs Neue in seine Arme und drückte einen lebhaften Kuss auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihren Füßen, drückte seinen Mund auf ihre Hand und rief: Charlotte, werden Sie mir vergeben? Charlotte nimmt sich vor, ihre Gefühle für den Hauptmann zu unterdrücken, aber ihrem Mann ist nicht entgangen, dass die beiden etwas für einander empfinden. Schweigend hält sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und die Sache wird dadurch nicht besser. Leise Andeutungen, die ihr manchmal entschlüpfen, wirken auf Ottilien nicht: denn Eduard hatte diese von Charlottens Neigung zum Hauptmann überzeugt, sie überzeugt, dass Charlotte selbst eine Scheidung wünsche, die er nun auf eine anständige Weise zu bewirken denke.
Der Graf hält sich an sein Versprechen und bietet dem Hauptmann in einem Brief eine "bedeutende Hof- und Geschäftsstelle" an. Bevor der Hauptmann abreist, übergibt er seine Arbeiten im Park einem tüchtigen jungen Architekten.
Dieser überraschende Vorfall von heute Abend bringt uns schneller zusammen. Du bist die Meine! [...] Am nächsten Morgen reist der Hauptmann ab, ohne sich von Eduard zu verabschieden, und Charlotte erklärt ihrem Mann, Ottilie werde ins Internat zurückkehren. Luciane ist nicht mehr dort, sondern in der Obhut einer Großtante. Vergeblich versucht Eduard, die Trennung von dem Mädchen zu verhindern. Weil es ihm nicht gelingt, beschließt er, allein auf eines seiner kleineren Güter umzuziehen. Er hinterlässt Charlotte einen Brief, in dem es heißt: Indem ich mich aufopfre kann ich fordern. Ich verlasse mein Haus und kehre nur unter günstigeren ruhigeren Aussichten zurück. Du sollst es indessen besitzen, aber mit Ottilien. Bei dir will ich sie wissen, nicht unter fremden Menschen. Sorge für sie, behandle sie wie sonst, wie bisher, ja nur immer liebevoller, freundlicher und zarter. Ich verspreche kein heimliches Verhältnis mit Ottilien zu suchen. Als Eduard einige Zeit später erfährt, dass Charlotte schwanger ist, meldet er sich zum Militär und vermacht Ottilie das Anwesen mit dem Schloss.
Eduard sehnte sich nach äußerer Gefahr, um der innerlichen das Gleichgewicht zu halten. Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unerträglich zu werden drohte. Weil Charlotte die Grabsteine auf dem Kirchhof wegnehmen und entlang der Mauer neu aufstellen ließ, um das Gelände einebnen zu können, wissen die Gemeindemitglieder nicht mehr, wo die Gebeine ihrer Toten liegen. Das wird von den meisten missbilligt, und eine Familie löst aus Protest die von ihr gegründete Stiftung zugunsten der Kirche auf. Aber Charlotte lässt sich bei ihren Umgestaltungen nicht beirren, und Ottilie hilft dem Architekten beim Ausmalen einer Seitenkapelle. Charlotte, welche gern sah, wenn Ottilie sich auf irgendeine Weise beschäftigte und zerstreute, ließ die beiden gewähren und ging, um ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, um ihre Betrachtungen und Sorgen, die sie niemanden mitteilen konnte, für sich durchzuarbeiten. Charlotte hat erfahren, dass ihre Tochter im Haus ihrer Tante einen reichen jungen Mann kennenlernte, der sie heiraten möchte. Nun reist Luciane an, um ihren Bräutigam vorzustellen. Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit Koffern und Kisten; man glaubte schon eine doppelte und dreifache Herrschaft im Hause zu haben; aber nun erschienen erst die Gäste selbst: die Großtante mit Lucianen und einigen Freundinnen, der Bräutigam gleichfalls nicht unbegleitet. Da lag das Vorhaus voll Vachen, Mantelsäcke und andrer lederner Gehäuse. Mit Mühe sonderte man die vielen Kästchen und Futterale auseinander. Des Gepäckes und Geschleppes war kein Ende. Luciane ist voller Tatendrang; sie reitet aus, besichtigt die Neuanlagen, besucht Nachbarn und vergnügt sich auf einem Ball.
So peitschte Luciane den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor sich her. Ihr Hofstaat vermehrte sich täglich, teils weil ihr Treiben so manchen anregte und anzog, teils weil sie sich andre durch Gefälligkeit und Wohltun zu verbinden wusste.
Besonderes Augenmerk legt Luciane auf einen verdrossenen jungen Mann, der seine rechte Hand in einer Schlacht eingebüßt hat und sich deshalb absondert, lieber liest und studiert, als Gesellschaft zu suchen. Ihr Bräutigam beobachtet es ohne Eifersucht, im Gegenteil: er findet es verdienstvoll, wie Luciane sich um den armen Kerl bemüht.
Schon bei den Anstalten zur Verheiratung ihrer Tochter war Charlotten die Abwesenheit ihres Gemahls höchst fühlbar gewesen; nun sollte der Vater auch bei der Geburt des Sohnes nicht gegenwärtig sein; er sollte den Namen nicht bestimmen, bei dem man ihn künftig rufen würde.
Im folgenden Frühjahr ziehen Charlotte und Ottilie mit dem Kind ins neue Haus. Man kann wohl sagen, dass durch seine Bemerkungen der Park wuchs und sich bereicherte. Er erzählt Charlotte und Ottilie, dass er an seinen Gütern keine Freude mehr habe, weil sein Sohn, der ihn beerben sollte, nach Indien ging und allem entsagte. Seither ist der Lord lieber auf Reisen als zu Hause. Er ahnt nicht, wie betroffen seine beiden Zuhörerinnen darüber sind. Ottilie ward durch diese traulichen Reden in den schrecklichsten Zustand versetzt: denn es zerriss mit Gewalt vor ihr der anmutige Schleier, und es schien ihr, als wenn alles was bisher für Haus und Hof, für Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen war, ganz eigentlich umsonst sei, weil der dem es alles gehörte, es nicht genösse, weil auch der, wie der gegenwärtige Gast, zum Herumschweifen in der Welt und zwar zu dem gefährlichsten, durch die Liebsten und Nächten gedrängt worden.
Schließlich erzählt der Lord eine Geschichte über zwei Nachbarskinder, einem Jungen und einem Mädchen, von denen die Eltern erwarten, dass sie einmal heiraten. Aber mit zunehmendem Alter mögen sie sich immer weniger, vielleicht
Er sieht Ottilien, sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füßen. Nach einer langen stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen, erklärt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hier her gekommen. Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden. Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiss auch nie an der seinigen. Er bitte sie um ihre Einwilligung. Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten Rechte geltend machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf das Kind hin. Erst jetzt fällt ihm die erstaunliche Ähnlichkeit der Gesichtszüge des Kindes mit denen des Majors auf. Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehebruch erzeugt! Es trennt mich von meiner Gattung und meine Gattin von mir, wie es uns hätte verbinden sollen. Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, dass ich in den Armen einer anderen dir gehörte; mögest du fühlen, Ottilie, recht fühlen, dass ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen abbüßen kann! Ottilie fordert Eduard auf, sich zurückzuziehen und Charlottes Entscheidung nicht vorzugreifen. Ich bin die deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muss ich dir entsagen. Eduard kehrt ins Dorf zurück. Die Sonne ist bereits untergegangen. Ottilie glaubt, Charlotte in einem weißen Kleid auf dem Altan des Berghauses zu sehen. Um möglichst rasch zu ihr zu kommen, beschließt sie, nicht um den See herumzugehen, sondern ihn in einem Kahn zu überqueren. Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab. Sie muss Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewärts. Auf dem linken Arm das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn. Das Ruder entfährt ihr, nach der einen Seite, und wie sie sich erhalten will, Kind und Buch, nach der andern, alles ins Wasser. Als Ottilie das Kind aus dem Wasser zieht, atmet es nicht mehr. Sie entkleidet das Kind, und trocknet's mit ihrem Musselingewand. Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum ersten Mal dem freien Himmel; zum ersten Mal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach! und kein Lebendiges. Die kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälteten ihren Busen bis ins innerste Herz.
Endlich treibt der Kahn ans Ufer. Ottilie eilt ins Haus und ruft den Arzt. Aber der kann nur noch den Tod des Kindes feststellen. Erst jetzt kommt Charlotte nach Hause und erhält die entsetzliche Nachricht. Ich will jedes Papier unterschreiben, das man mir bringt; aber man verlange nur nicht von mir, dass ich mitwirke, dass ich bedenke, dass ich berate.
Charlotte hält es für notwendig, das Haus, den Park, den See, die Felsen- und Baumgruppen noch einmal umzugestalten, damit nicht alles an die traurigen Ereignisse erinnert. Mit Eifer und Gewalt fasst sie [Ottilie] die Hände beider Ehegatten, drückt sie zusammen und eilt auf ihr Zimmer. Eduard wirft sich Charlotten um den Hals und zerfließt in Tränen, er kann sich nicht erklären, bittet Geduld mit ihm zu haben, Ottilien beizustehen, ihr zu helfen.
Ottilie spricht kein Wort mehr und isst kaum noch etwas. Sie fühlt sich aus der Bahn geworfen und bittet in einem Brief an ihre Freunde um Verständnis für ihr Schweigegelübde. Damit ihr Hungern nicht auffällt, lässt sie sich Speisen bringen und gibt sie der habgierigen Bediensteten Nanny. |
Buchbesprechung:
Wenn zwei verschiedene chemische Verbindungen zusammengebracht werden, kann es vorkommen, dass sie sich auflösen und die Elemente sich neu – zum Beispiel über Kreuz – verbinden. Diesen Vorgang beschrieb der schwedische Chemiker und Mineraloge Torbern Bergman (1735 – 1784) in seiner Schrift "Disquisitio de Attractionibus Electivis" (1775).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Sebastian Schipper: Mitte Ende August |