Arnon Grünberg: Der Vogel ist krank (Roman) |
Arnon Grünberg: Der Vogel ist krank |
Inhaltsangabe:"Der Vogel ist krank." Eines Morgens, es ist noch früh, aber schon drückend schwül, die Hitze von Wochen brütet in der kleinen Wohnung, wird Christian Beck mit diesen Worten von seiner Frau geweckt. Sie trägt ihr weißes Nachthemd, das sie mit zwölf auch schon hatte. (Seite 5)
Mit diesem Absatz beginnt Arnon Grünberg seinen Roman "Der Vogel ist krank". "Das einzige, was ich weiß, ist [...] dass du es mir an nichts fehlen lässt, deine Pflege ist perfekt, alles, was ich haben möchte, kann ich bekommen. Bis auf dich." (Seite 180f)
Beck ließ sich gehen, denn er hielt das Leben für sinnlos. Diese Erkenntnis versuchte er früher seinen Bekannten aufzudrängen; er wollte ihnen die Illusionen nehmen und die Masken abreißen.
"Du bist dabei, den Verstand zu verlieren, du wirst wahnsinnig. Ein Rabbiner, zwei Rabbiner, vier Ägypter, sechs Australier, alles okay, warum nicht? Erfahrungen – wer bin ich, dir irgendwelche Erfahrungen zu verwehren? Aber ein Krüppel, das kannst du mir nicht antun, das ist Wahnsinn." (Seite 96) Auf Simon folgten andere: Kriminelle, Arme, Verrückte. Und sie begann, Kleidung für Bedürftige zu sammeln. Vergeblich versucht Beck, den Vogel davon abzubringen. "Du verschenkst Kleidung an Menschen, die sie nötiger brauchen als wir, in Ordnung. Du verschenkst Möbel, ich kann damit leben. Du gibst Leuten Geld, um ihnen etwas zu ermöglichen, unser Geld, mein Geld – warum nicht? [...] Aber jetzt hast du den Punkt erreicht, wo du dich selbst weggibst – verschleuderst! Dich selber, hörst du? Und das tut man nicht, auch nicht für einen guten Zweck, ein Mensch darf sich nicht selbst wegwerfen. Punkt. Das ist meine Definition von Mensch: Jemand, der sich nicht selbst wegwirft. Verkaufen, ja, prima, aber wegwerfen? – Nein!" (Seite 123f) Beck beschloss, seine Frau zu verlassen und nach Europa zurückzukehren. Er kaufte ein Ticket nach Tel Aviv und ging noch einmal ins Bordell, um seine vierteljährige Rechnung zu bezahlen und sich zu verabschieden. Die Puffmutter lud ihn ein, noch einmal kostenlos mit Sosha in den Luftschutzkeller zu gehen, während sie Rechnungspositionen zusammenstellte. Seit seine Frau den Krüppel mit nach Hause gebracht hatte, bevorzugte Beck die Prostituierte Sosha Minkiewicz, weil sie die hässlichste in dem Bordell war. Auch dieses Mal graute ihm vor dem Rasierausschlag auf ihrem Schamhügel. Er drückte sie mit der Stirn gegen die Wand und drang von hinten in sie ein. Die Erektion ließ nach, aber er nahm sich zusammen.
Er hätte nicht herzukommen brauchen, aber nun, wo er einmal da war, hatte er eine Funktion, und die musste er erfüllen, so gut es ging [...]
Sosha hörte nicht auf, zu schreien, er habe sie kaputtgerissen. Beck stieß sie um. Als er ihr aufhelfen wollte, biss sie ihn in die Hand. Dann holte sie einen Hammer aus einem herumstehenden Werkzeugkasten, ließ ihn jedoch wieder fallen. Nur ihr Gekeife ging weiter. Plötzlich hatte Beck einen Schraubenzieher in der Hand und stach zu.
"Und warum musstest du ihnen die Augen ausstehen? War ficken nicht genug? Wurde es zu langweilig? [...]"
Kurz darauf bekam der Vogel ein Angebot von der Georg-August-Universität Göttingen und zog mit Beck in die niedersächsische Stadt. Das sind sie: zwei Menschen, die einander Freude bereiten wollen. Nicht nur ist er ein Gefangener seiner Vergangenheit, sie sind auch einer der Gefangene des anderen, der Gefangene guter Absichten, der Fürsorglichkeit des anderen, der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die das eigene Interesse hintanstellen [...] (Seite 162)
Der Vogel und der Asylant kennen sich seit einem Jahr, betonen jedoch, dass ihre Beziehung anfangs platonisch gewesen sei.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Einen Monat später besteht der behandelnde Arzt darauf, dass die Krebskranke ins Krankenhaus eingeliefert wird. Dort hält sie es jedoch nicht aus und drängt Beck, sie wieder mitzunehmen. Der Asylant, der früher Mitglied einer Bande war und gegen Geld Leute zusammenschlug, trägt sie nach Hause, wo sie kurz darauf stirbt. "Vielen Dank", sagt der Mitbewohner, der bald kein Mitbewohner mehr sein wird. "Für was?", fragt Beck. "Für meine Frau? Das Essen? Die Wohnung? Die Kleidung? Wofür?" (Seite 490) Am folgenden Montag geht er nicht ins Übersetzerbüro, sondern zieht das weiße Nachthemd und die Schlappen seiner verstorbenen Lebensgefährtin an, geht in den Park und setzt sich im strömenden Regen auf eine Bank. |
Buchbesprechung:
Für den Roman "Der Vogel ist krank" erfand Arnon Grünberg einen grotesken Plot. Daraus entwickelte er auf intelligente Weise eine komplexe Geschichte. Bei der Erzählung geht er von der mit dem Satz "Der Vogel ist krank" beginnenden Gegenwart aus, und während er von da an chronologisch fortfährt, holt er die Ereignisse, die vor zehn Jahren stattfanden, episodenweise nach. Arnon Grünberg lässt sich viel Zeit, die zugleich hoffnungslose, tragische und komische Geschichte zu erzählen – "Grünberg zu lesen ist Waten durch Blei" (Bernadette Conrad, "Die Zeit", 6. April 2006) –; der fehlende Schwung wird jedoch durch Sprachwitz und Situationskomik weitgehend kompensiert.
Grünberg liebt es, seine Figuren aus der friedlichen Resignation herauszureißen, in der sie sich bequem eingerichtet haben, und sie mit der Nase in die archaischen Abgründe tiefinnerer Gewaltbereitschaft zu stoßen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Arnon Grünberg: Phantomschmerz |