Peter Härtling: Niembsch oder Der Stillstand. Eine Suite (Roman) |
Peter Härtling: Niembsch oder Der Stillstand.
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Inhaltsangabe:
Nikolaus von Niembsch stammt aus Ungarn. Als er fünf Jahre alt war, hatte der Vater ihn und seine Mutter verlassen. Die Mutter brach zusammen, und Nikolaus kam für ein Jahr zu seinen Großeltern väterlicherseits und wuchs dann bei seinem tauben Onkel Stefan auf. Als Kind erlebte er, wie seine Mutter von einem Pandurenoffizier abgeholt wurde. Statt sich schlafen zu legen, lief er den beiden auf der Straße nach, beschimpfte seine Mutter lauthals als "elendes Luder" und warf mit einem Stein nach dem Offizier. Gegen Morgen kehrte seine Mutter zurück und flüsterte ihm zu, sie werde nie mehr mit dem Panduren ausgehen, denn er tauge nichts. Nikolaus von Niembsch hatte jedoch durch den Vorfall begriffen, dass seine Mama eine Frau war. Als sein Onkel von ihren wechselnden Männerbekanntschaften erfuhr, überwarf er sich mit ihr. Frau von Niembsch holte ihren Sohn zu sich nach Ödenburg und zog dann – der Bevormundung durch die vergreiste Verwandtschaft überdrüssig – mit ihm nach Wien. Dort inspirierte ihn seine Jugendliebe Josefine Kutschera, die sich Madeleine rufen ließ, dazu, Gedichte zu verfassen. Madeleine infizierte den Neunzehnjährigen jedoch mit Syphilis. Sie glaubten, alle drei, an eine Art von Erfüllung, die der Wiederholung nicht bedürfe. (Seite 108)
Im Juli 1833 kehrt Nikolaus von Niembsch auf der "Atlanta" von einem längeren Aufenthalt in Amerika zurück. An Bord bemüht sich eine Engländerin vergeblich um ihn. Den Mitreisenden Anselm Schlorer duldet Niembsch dagegen in seiner Nähe, weil dieser ihm willig zuhört. Einmal prahlt der Kapitän damit, wie er vor einigen Jahren vor den Falkland-Inseln bei einer Kollision im Nebel fast ertrunken wäre und den Tod im kalten Wasser bereits gefühlt habe, doch als Niembsch ihn auffordert, das Gefühl näher zu beschreiben, ist er dazu nicht in der Lage und meint unwillig: "Ein Gefühl halt." Ich – ich habe auf dem Gut unserer Freunde zugeschaut. Bist du überrascht, Karoline? Niembsch ist es nicht [...] Wieso entrüstet ihr euch, wie hätte ich taktieren, wie hätte ich euch entwaffnen, auseinandertreiben sollen? Ich wusste den Erfolg auf meiner Seite [...] Diese Spiele haben ihren genauen Ablauf, ich konnte ihn studieren, ich spürte seine Resonanz in einem beteiligten Publikum – wie tief wird der Zuschauer hineingezogen ins Spiel. Das also ist die Liebe, auf die Karoline gewartet hat [...] Ich stellte mich nicht dazwischen. An jenem Abend, auf dem Gut der Freunde, trat ich zufällig zur selben Zeit auf die Altane hinaus wie Sie, Niembsch, Sie öffneten zaghaft die Tür von Karolines Zimmer – jung waren Sie, blind und taub Ihre Hingabe; Sie hätten mich hören müssen;ich atmete, für Augenblicke, unbeherrscht, ehe ich mich ins Zuschauen einließ; ich vernahm Ihre Stimme, die Stimme meiner Frau; konstatierte Veränderungen in den Stimmen, niemals durchdrangen mich Stimmen so – sollte ich Zuschauer bleiben, unbeteiligt, zermürbt? [...] Hätte ich trennen sollen? Wär's gelungen? Wie? [...] Sie hatten mich falsch eingeschätzt, Niembsch: ein grobschlächtiger, vom Geschäft aufgefressener Edelmann, seinen Besitz schlau ausdehnend, ein Pfeffersack, nicht sensibel, seine Intelligenz an Sachwerte wendend. In mich drang der Wille Merlins. Im Dunkel ausharrend, Ahnungslosigkeit vorschützend – würden meine Kräfte genügen, Lust und Vollzug dieser Begegnung in meinem Sichtbereich zu halten, ihn zu überschauen, zu überwachen? Ich brauchte nicht teilzunehmen, ihr spieltet vor mir, wo und wann immer ihr euch traft; meine Reisen, Vorwände nur, Spielräume zu schaffen, gewährten euch Sicherheit, Libertät. Die Entfernung – ich war in der Tat unterwgs – schützte euch nicht vor der uneingeschränkten Teilnahme meiner Gedanken. Ich sehe Sie erstaunt, Niembsch; Karoline, dich fassungslos, ekelt es dich? – schiere Perversion, dieser über Jahre währende Hinterhalt? (Seite 65ff)
Ungeachtet dieser Eröffnung bleibt Niembsch noch eine weitere Woche bei Otto und Karoline von Zarg, bevor er wieder zu den Schwestern nach Stuttgart zurückkehrt und dort Material für ein Don-Juan-Epos in Gedichtform sammelt. Tue Se sich koin Zwang a, Niembsch, mir werde ons verschtehe ond des andre, Ihr Uroigens, des lasse Se halt recht vernehmlich mitschwinge – wenn Poete philosophiere, Niembsch, dann dend se plaudere – (Seite 115) Niembsch grübelt fortwährend über die Zeit nach und erliegt der Idee, er könne sich durch Wiederholung von der Zeit befreien.
Wie sehen Sie Zeit, Kürner? Ich sehe sie als eine schnurgerade Linie, die in ein vorgegebenes Endliches führt, das wir uns gesetzt haben [...]
Niembsch identifiziert er sich mit Don Juan bzw. Don Giovanni und schreibt an seinem Epos. Während einer Séance ruft Kürner Don Juans Geist. Als dieser erscheint, fällt Niembsch in Trance und wiederholt jedes Wort Don Juans, ohne sich dessen gewahr zu werden. |
Buchbesprechung:
Die Biografie des aus Ungarn stammenden Biedermeier-Dichters Nikolaus Lenau (eigentlich: Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau, 1802 - 1850) regte Peter Härtling (*1933) dazu an, Szenen aus dessen Leben zusammenzuziehen.
Die Hilflosigkeit angesichts der Liebe, die Sehnsucht und die Jagd nach der Liebe, die Furcht und die Flucht vor der Liebe – daran leiden Härtlings unheroische Helden. Das sind die Motive, die er immer wieder aufgreift, seine Leitmotive. (Marcel Reich-Ranicki, 1987) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Nikolaus Lenau (Kurzbiografie) |