Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (Roman) |
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten |
Inhaltsangabe:Ich heiße Kathy H. Ich bin einunddreißig Jahre alt und arbeite inzwischen seit über elf Jahren als Betreuerin. Eine lange Zeit, scheint es, und dennoch soll ich jetzt noch acht Monate weitermachen, bis zum Ende des Jahres. Dann wären es fast genau zwölf Jahre [...] Meine Spender haben sich fast immer viel besser gehalten als erwartet. Ihre Erholungszeiten waren beeindruckend, und kaum einer wurde als "aufgewühlt" eingestuft, auch nicht vor der vierten Spende. (Seite 9)
So beginnt Kazuo Ishiguro seinen Roman "Alles, was wir geben mussten". Dann die Einsamkeit. Sie sind mit Scharen von Leuten aufgewachsen, haben überhaupt nie etwas anderes gekannt, und auf einmal sind Sie Betreuer. Stundenlang fahren Sie mutterseelenallein kreuz und quer durchs Land, von einem Zentrum zum nächsten, von einer Klinik zu anderen, übernachten in Rasthäusern, haben niemandem, mit dem Sie Ihre Sorgen teilen, niemanden, mit dem Sie lachen können. (Seite 251)
Wehmütig erinnert Kathy H. sich an Hailsham, eine Art Internat oder Waisenhaus in einer idyllischen Hügellandschaft irgendwo in England, in dem sie zusammen mit anderen Kollegiaten aufwuchs. Sie hatten keinen Kontakt zur Außenwelt, aber danach verlangten sie auch nicht, zumal die Aufseherinnen in Hailsham für eine glückliche Kindheit ihrer Schützlinge sorgten. "Ihr wisst ja Bescheid. Ihr seid Kollegiaten. Ihr seid ... etwas Besonderes. Für euch, für jeden und jede Einzelne von euch, ist es noch viel wichtiger als für mich, dass ihr euch gesund erhaltet, dass ihr nichts tut, was euren Organen schaden könnte." (Seite 88)
Die Oberaufseherin Miss Emily und ihre Kolleginnen förderten ganz besonders die Kreativität der jungen Leute, indem sie diese zum Zeichnen und Malen anhielten. Ein paar Mal im Jahr besuchte eine von den Kollegiaten nur "Madame" genannte Dame Hailsham und nahm die besten Bilder mit, für eine Galerie, wie es hieß. "Wenn niemand sonst mit euch spricht [...], dann muss ich es eben tun. Meiner Ansicht nach besteht das Problem darin, dass ihr es wisst und es doch nicht wisst. Man hat euch etwas gesagt, aber keiner von euch versteht es wirklich, und ich wage zu behaupten, dass manche Leute es nur zu gern dabei belassen würden. Ich nicht. Wenn ihr ein einigermaßen anständiges Leben führen wollt, müsst ihr Bescheid wissen – wirklich Bescheid wissen. Niemand von euch wird nach Amerika gehen, niemand von euch wird ein Filmstar [...] Euer Leben ist vorgezeichnet. Ihr werdet erwachsen, und bevor ihr alt werdet, noch bevor ihr überhaupt in die mittleren Jahre kommt, werdet ihr nach und nach eure lebenswichtigen Organe spenden. Dafür wurdet ihr geschaffen, ihr alle [...] Ihr seid zu einem Zweck auf die Welt gekommen, und über eure Zukunft ist entschieden, für jeden und jede von euch [...] Bald werdet ihr Hailsham verlassen, und der Tag ist nicht mehr so fern, an dem ihr euch auf die ersten Spenden vorbereiten werdet. Daran müsst ihr immer denken. Wenn ihr ein anständiges Leben führen wollt, müsst ihr wissen, wer ihr seid und was euch bevorsteht, jeder Einzelne von euch." (Seite 102f)
Miss Lucys Ansprache wühlte die Jugendlichen auf, und sie machten sich Gedanken darüber, warum die Aufseherin ihnen das alles gesagt hatte. Über den Inhalt diskutierten sie nicht; den verdrängten sie. "Solang die Leute denken, du machst diese kleinen Viecher zum Spaß – gut", meinte Ruth, "aber behaupte bloß nicht, es sei dir ernst damit. Bitte." (Seite 237) Dadurch kam es zu einem Zerwürfnis zwischen den Freunden. Kurz darauf meldete Kathy sich für die Ausbildung zur Betreuerin.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Kathy arbeitete bereits seit gut sechs Jahren als Betreuerin, als sie zufällig Laura wiedersah, mit der sie als Kind in Hailsham befreundet gewesen war. Laura war ebenfalls Betreuerin, und sie standen deshalb beide unter Zeitdruck. Sie konnten nur kurz über die Schließung von Hailsham reden und darüber, dass es Ruth nach ihrer ersten Spende nicht gut ging. Laura brachte Kathy auf den Gedanken, Ruths Betreuerin zu werden. "Wir nahmen Ihre Kunstwerke an uns, weil wir dachten, sie enthüllten Ihre Seele. Besser ausgedrückt: Wir taten es, um zu beweisen, dass Sie überhaupt eine Seele haben." (Seite 315) Als in den Naturwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Beginn der Fünfzigerjahre, mehrere bahnbrechende Fortschritte erzielt und bis dahin ungeahnte medizinische Therapie-Möglichkeiten entwickelt worden waren, hatte sich kaum jemand für die ethischen Fragen interessiert. Der medizinische Fortschritt ließ sich nicht aufhalten. Menschen, die sich um todkranke Kinder, Partner, Eltern oder Freunde sorgten, die auf Organtransplantationen angewiesen waren, vermieden es, sich mit dem Schicksal der gezüchteten Organspender auseinanderzusetzen. Nur zu gern schlossen sie sich der allgemeinen Meinung an, dass die Spender keine Seele haben. Sie betrachteten die Kollegiaten – also die Klone – als Ersatzteillager.
"Die Welt wollte nicht wissen, wie das Spendenprogramm in Wahrheit ablief. Sie wollte nicht über Kollegiaten wie Sie nachdenken oder über die Umstände, unter denen Sie aufgezogen wurden." (Seite 321)
Um dies zu ändern, gründeten Emily und "Madame" Marie-Claude Hailsham. Ähnliche Einrichtungen wie Glenmorgan House und Saunders Trust folgten. Die Betreiber wollten der Welt beweisen, dass sich Kollegiaten, die in einer kultivierten Umgebung aufwachsen, wie normale Menschen zu empfindsamen und intelligenten Wesen entwickeln können. Deshalb wurden sie in Hailsham zu kreativen Tätigkeiten angehalten. Marie-Claude sammelte die besten Zeichnungen, präsentierte sie in den Siebzigerjahren auf Ausstellungen, zu denen sie Regierungsmitglieder, Bischöfe und andere Meinungsführer einlud. Außerdem wurden Vorträge gehalten und Spenden gesammelt. Allmählich begann sich die öffentliche Wahrnehmung der Kollegiaten zu ändern. Der eine oder andere begriff, dass die Kollegiaten auch eine Psyche, einen Charakter, Empfindungen, Erfahrungen und Sehnsüchte haben. "Der Skandal [...] schuf eine gewisse Atmosphäre, verstehen Sie. Er erinnerte die Leute an eine Furcht, die sie schon immer gehabt hatten. Kollegiaten, wie Sie es sind, für das Spendenprogramm zu erzeugen ist eine Sache. Aber eine Generation künstlich gezeugter Kinder, die ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen würden? Kinder, die uns anderen nachweislich überlegen wären? Um Gottes willen. Das machte den Leuten Angst. Davor schreckten sie zurück." (Seite 320)
Mit dem Meinungsumschwung in Bezug auf die Gentechnik hatte sich auch die Einstellung gegenüber den Kollegiaten geändert; die Sponsoren waren abgesprungen, und schließlich hatten Hailsham, Glenmorgan House und Saunders Trust schließen müssen. "Das bedeutete bisweilen auch, dass wir Ihnen manches verschweigen mussten, dass wir Sie belogen. Ja, in vielerlei Hinsicht haben wir Sie getäuscht. Ich denke, Sie können es wohl so nennen. Aber wir haben Sie beschirmt in all den Jahren, und wir haben Ihnen eine Kindheit geschenkt. Lucy hat es wirklich gut gemeint. Aber wenn sie sich durchgesetzt hätte, wäre es mit Ihrer glücklichen Zeit in Hailsham sehr schnell vorbei gewesen. Sehen Sie sich doch heute an! Ich bin so stolz, Sie beide zu sehen. Sie haben Ihr Leben auf den Fundamenten errichtet, die wir Ihnen geschaffen haben. Sie wären nicht die, die Sie heute sind, wenn wir Sie nicht beschützt hätten. Sie hätten sich nicht für den Unterricht interessiert. Sie hätten sich nicht ins Schreiben und Malen vertieft – wieso auch, wenn Sie gewusst hätten, was Sie alle erwartet. Sie hätten sich gesagt, das sei doch alles sinnlos, und was hätten wir Ihnen entgegenhalten können? Aus diesem Grund musste Lucy Wainright gehen." (Seite 325)
Nach dem enttäuschenden, schockierenden Besuch in Littlehampton schliefen Kathy und Tommy zwar noch hin und wieder miteinander, aber ihre Beziehung wurde brüchig. Dafür näherte Tommy sich anderen Spendern und meinte des Öfteren, Kathy könne ihn nicht verstehen, weil sie noch keine Spenderin sei. "Okay, es ist sehr nett, eine gute Betreuerin zu haben. Aber ist es letzten Endes tatsächlich so wichtig? So oder so werden die Spender alle spenden und dann abschließen." (Seite 342) Tommy befürchtete, dass das Gerücht wahr sein könnte, demzufolge es Kollegiaten gibt, die auch nach der vierten – also eigentlich letzten – Spende noch irgendwie bei Bewusstsein bleiben und mitbekommen, dass ihnen weitere Organe entnommen werden. In dieser Phase gibt es jedoch keine Erholungszentren, keine Betreuer und keine Freunde mehr; man liegt hilflos ausgeliefert da, bis die Ärzte einen abschalten. |
Buchbesprechung:
"Alles, was wir geben mussten" wird konsequent aus der Perspektive der Protagonistin in der Ich-Form erzählt. Es gibt also auch keinen Blick "von außen". Kathy H. erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend in Hailsham, einer Art Internat oder Waisenhaus, und wie sie als Betreuerin ihre damaligen Freunde Ruth und Tommy wiedersah, die inzwischen nach mehreren Spenden abgeschlossen haben. Das Buch beginnt wie ein Internats-Roman, auch wenn Begriffe wie Betreuer, Spender, Abschluss irritieren. Wir ahnen bald, um was es sich bei den Kindern und Jugendlichen in Hailsham handelt, obwohl es erst in der Mitte des Buches explizit erwähnt wird. Spätestens dann haben wir auch begriffen, dass die Handlung gewissermaßen in einer Parallelwelt stattfindet. "Alles, was wir geben mussten" ist kein herkömmlicher Science-Fiction-Roman. Es geht um eine beunruhigende Utopie, die Kazuo Ishiguro nicht in die entfernte Zukunft verlegt, sondern am Ende des 20. Jahrhunderts in England spielen lässt. Kazuo Ishiguro: Bibliografie (Auswahl)
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2011
Mark Romanek: Alles, was wir geben mussten |