Marie Luise Kaschnitz: Der Strohhalm (Erzählung) |
Marie Luise Kaschnitz: Der Strohhalm |
Inhaltsangabe: Kurz vor zwölf Uhr mittags habe ich den Brief gefunden. Ich habe ihn wirklich gefunden, nicht danach gesucht, ihn nicht beim Anzugbürsten aus der Tasche geholt. Er hat aus einem Buch hervorgeschaut, und das Buch hat nicht auf Felix' Nachttisch gelegen, sondern auf dem Tisch im Wohnzimmer, auf dem immer die Zeitungen liegen und der jedermann zugänglich ist. Ich habe auch nicht den ganzen Brief gelesen, sondern nur die ersten paar Worte: So große Sehnsucht hab' ich nach dir, geliebtes Herz. Diese Worte habe ich zuerst gar nicht verstanden, ich habe überhaupt nur die Schrift ansehen wollen, eine freie Schrift mit großen, schönen Unterlängen und manchmal Abständen zwischen den Buchstaben, kontaktscheu bedeutet das, habe ich gedacht, und dann habe ich überhaupt erst begriffen, was da stand, und ich habe lachen müssen, obwohl es natürlich gar nichts zu lachen gab. Auf den Gedanken, dass der Brief an den Felix gerichtet sein könnte, bin ich erst nach einigen Augenblicken gekommen. Ich habe danach nicht weitergelesen, nur noch bis zum Ende der Seite [...] Die Ich-Erzählerin geht in die Küche und beginnt, das Mittagessen vorzubereiten, aber sie kommt in ihren Gedanken nicht von dem Brief los und überlegt, wie sie sich verhalten soll, wenn ihr Ehemann Felix gleich zum Essen nach Hause kommt. Sie beschließt, nichts zu sagen und "glückliche junge Frau" zu spielen. Ausnahmsweise verspätet er sich.
Vielleicht [...] weil er noch mit ihr zusammen in einer Bar saß und etwas trank, und gerade jetzt vielleicht schaute er auf die Uhr und sagte: Es ist halb zwei vorbei, sie wartet, ich muss nach Hause.
Felix ruft an: Er könne nicht zum Mittagessen kommen. Obwohl sie sich vorgenommen hat, "glückliche junge Frau" zu spielen, gelingt es ihr nicht, ihre Verstimmung zu verbergen, aber seinen besorgten Fragen weicht sie aus.
[...] und eigentlich hätte ich jetzt doch herumspringen und lachen und singen müssen, aber keineswegs. Ich habe dagesessen und gestiert, und es ist mir gewesen, als sei ich in einen tiefen Brunnen gefallen und sei nun im Begriff, wieder herauszuklettern, aber komisch, ich komme nicht ganz bis oben hin, und es wird nicht wieder ganz hell. |
Buchbesprechung:
Marie Luise von Holzing-Berstett wurde am 31. Januar 1901 als Tochter eines Offiziers in Karlsruhe geboren. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren fing sie in Rom als Buchhändlerin zu arbeiten an und lernte dort den zehn Jahre älteren österreichischen Archäologen Guido Freiherr von Kaschnitz-Weinberg kennen. Sie heirateten im Jahr darauf. Ihre einzige Tochter kam 1928 zur Welt. Als ihr Mann 1958 nach zweijähriger Krankheit an einem Gehirntumor starb, fiel es Marie Luise Kaschnitz schwer, über den Verlust hinwegzukommen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Marie Luise Kaschnitz: Das dicke Kind |