Daniel Kehlmann: F (Roman) |
Daniel Kehlmann: F |
Inhaltsangabe:
Arthur Friedland schreibt Romane, für die er keinen Verlag findet. Nur hin und wieder veröffentlicht eine Zeitschrift eine Geschichte von ihm. Das Geld für den Lebensunterhalt der Familie, zu der auch die beiden 1971 geborenen eineiigen Zwillinge Eric und Iwan gehören, verdient seine Frau Katharina als Augenärztin. "Das ist ein Befehl, den du befolgen wirst, weil du ihn befolgen willst, und du willst es, weil ich es befehle, und ich befehle es, weil du willst, dass ich es befehle. Von heute an bemühst du dich. Egal, was es kostet." Nach der Veranstaltung setzt Arthur nicht nur seinen älteren Sohn, sondern auch die beiden Zwillinge vor dem Haus von Martins Mutter ab – und fährt weg. Katharina stellt kurz darauf fest, dass er das gemeinsame Konto leergeräumt hat. Er kommt nicht zurück. Nachdem sein Roman "Mein Name sei Niemand" gedruckt wurde, schickt er jedem der Söhne ein Exemplar ohne Widmung und Absender. Das Buch besteht aus drei Teilen.
Den Anfang bildet eine altmodische Novelle über einen ins Leben aufbrechenden jungen Mann, von dessen Namen wir nur den ersten Buchstaben erfahren: F. Die Sätze sind wohlgebaut, die Erzählung fließt kraftvoll, fast läse man mit Vergnügen, hätte man nicht ständig das Gefühl, man würde verspottet. F wird auf die Probe gestellt, er bewährt sich, kämpft, lernt, gewinnt, lernt mehr, verliert und entwickelt sich fort, alles nach altbewährter Manier. [...] Nach und nach hat es den Anschein, als käme man dem Verstehen näher, dann meint man sich bereits kurz davor, aber da bricht die Erzählung ab – einfach so, ohne Warnung, mitten im Satz. Im Schlusskapitel geht es noch einmal um F. F tritt wieder auf, und es geschieht auf wenigen Seiten die Zergliederung eines Menschen: Begabt, ohne Mut, zögerlich, egozentrisch bis an die Grenze der Gemeinheit, angeekelt von sich selbst, bald schon gelangweilt von der Liebe, unfähig, sich ernsthaft mit etwas abzugeben, auch die Kunst bloß als Vorwand für Untätigkeit nützend, nicht gewillt, sich für andere zu interessieren, nicht imstande, Verantwortung zu übernehmen, zu feige, sich dem eigenen Scheitern zu stellen, ein schwacher, unehrlicher, überflüssiger Mensch, talentiert nur für leere Gedankenspiele, für Scheinkunst ohne Substanz und für das lautlose Entkommen aus jeder unangenehmen Situation, hat endlich den Punkt erreicht, an dem er aus reinem Überdruss am eigenen Selbst behaupten muss, niemand habe ein Selbst und jedes Ich sei eine Täuschung. Der Roman wäre vermutlich unbeachtet geblieben, weil er jedoch eine kleine Selbstmordwelle auslöst, berichten die Medien darüber und Arthur Friedland wird berühmt. Er veröffentlicht auch die Romane "Die Stunde des Jägers" und "An der Mündung des Flusses". – – – Obwohl Martin Friedland nicht an Gott glaubt, studiert er Theologie, zwei Semester an der Gregoriana in Rom, insgesamt 16 Semester. Er wird Priester. Wenn er Erfolg bei den Mädchen gehabt hätte, wäre er wahrscheinlich kein Geistlicher geworden. Aber als er seine Mitschülerin Lisa Anderson ins Theater einlud, musste er verlegen lachen. Bei Hanna Larisch klappte es auch nicht, und als ihm die dicke Sabina Wegner gerade die Hose und die Unterhose heruntergezogen hatte, kamen unerwartet ihre Eltern, ihre Schwester, ihr Dackel und seine Mutter herein. Heute denke ich, es waren Zufälle. Es gibt kein Fatum, und hätte ich zum Beispiel Lisa Anderson an einem anderen Tag oder zumindest auf andere Weise gefragt, alles hätte anders kommen können, und jetzt hätte ich vielleicht eine Familie und wäre Fernsehredakteur oder Meteorologe. Nach einer Messe bittet ihn ein älterer Kirchgänger, ihm die Dreifaltigkeit zu erklären. Martin entgegnet:
"Es ist ein Mysterium." In der Sakristei streicht er dem Ministranten über den Kopf und zuckt zurück, denn als Geistlicher muss er vorsichtig sein mit solchen Gesten. Sie könnten ihm falsch ausgelegt werden. Der Junge versteht nicht, wie der Wille des Menschen frei sein kann, wenn Gott doch alles im Voraus weiß. Martin versucht, den Widerspruch als Mysterium abzutun, aber der Ministrant insistiert:
"Das passt nicht zusammen." Von zwei Obsessionen wird Martin getrieben: Essen und Rubik-Würfel. Aber im Beichtstuhl muss er beides weglegen, sobald das Knarren des Holzes anzeigt, dass jemand hereinkommt. Einer beichtet seine Sexsucht. "Ich habe eine Frau und eine Freundin. Beide wissen voneinander, aber sie wissen nichts von meiner zweiten Freundin, die aber von ihnen beiden weiß. Dann habe ich noch eine dritte Freundin, von der sie alle nichts wissen. Sie weiß von den anderen auch nichts, sondern denkt, ich lebe allein." Martin rät dem Sexbesessenen:
"Bleiben sie daheim. Helfen Sie kochen. Sehen Sie Tiervideos." Weil der Mann in der Steuerberater-Kanzlei, in der er beschäftigt ist, Geld unterschlug, um die Ausgaben für die Frauen bestreiten zu können, fordert Martin ihn nicht nur auf, wenigstens zwei Wochen lang seiner Frau treu zu sein, sondern auch das Geld zurückzugeben. Der Beichtende protestiert:
"Ich kann nicht einfach so zwölftausend Euro zurück an die Kanzlei überweisen! [...] Ich bleibe lieber drei Wochen daheim. Drei, ja?" Am 8. August 2008 ruft Erics Sekretärin an: Martin soll zu seinem Halbbruder kommen. Doch als er kurz darauf dessen Büro betritt, wundert Eric sich über seinen Besuch und nimmt ihn verwirrt mit zum Essen. – – – Eric Friedland ist Vermögensverwalter. An diesem Morgen nahm er seine Tabletten und dachte: Zwei Thropren, ein Torbit, ein Prevoxal und ein Valium – ich darf den Tag nicht mit zu viel beginnen, schließlich muss ich die Dosis erhöhen können, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. In seinem Arbeitszimmer hängt ein Gemälde von Paul Klee, für das er 750 000 Euro bezahlte, obwohl es weder ihm noch seiner Frau Laura gefällt. [...] aber ein Mann in meiner Position muss nun mal ein sehr teures Gemälde besitzen. In der Dachkammer der Villa soll jemand qualvoll gestorben sein, aber er kaufte das Haus für 7,5 Millionen Euro. Sein Smartphone zeigt an, dass 2731 ungelesene Mails aufgelaufen sind. Seit Wochen liest der 37-jährige Vermögensverwalter keine Mails mehr. Als er sich kurz im Medienzimmer aufhält, wird er von seiner zehnjährigen Tochter Marie überrascht.
Ich sehe meine Tochter an, meine Tochter sieht mich an, und um etwas zu sagen, frage ich: "Schreibst du heute eine Arbeit?" Draußen wartet sein stets übellauniger Chauffeur, der zwar Grieche ist, aber Knut heißt. Eric würde ihn gern loswerden, wagt es jedoch nicht, ihm zu kündigen, weil Knut ihn erpressen könnte. Unterwegs checkt Eric die Börsenkurse.
Ich war überzeugt, die IT-Werte würden fallen. Andererseits habe ich kommen sehen, dass das nicht geschieht – nicht aus Einsicht in den Markt, sondern weil ich mich inzwischen daran gewöhnt habe, dass stets das Gegenteil von dem eintritt, was ich erwartete. Aber wem soll ich denn folgen: meiner Einschätzung oder dem Wissen, dass ich fast immer unrecht habe? Es ist Sibylle, seine Geliebte. Sie war seine Therapeutin, aber seit einem halben Jahr behandelt sie ihn nicht mehr. Es gehöre zum Berufsethos, keine Affäre mit einem Patienten zu haben, erklärte sie, und riet ihm, einen ihrer Kollegen zu konsultieren.
Das Telefon vibriert. Gut, komm! Mit Else, der hübscheren seiner beiden Sekretärinnen, war er sechs- oder siebenmal im Bett, mit Kathi nur einmal. "Herr Klüssen wartet schon", sagt Kathi. Eric geht erst einmal in sein Büro, setzt sich, um sich zu sammeln, tritt ans Fenster, schaut hinaus, erinnert sich daran, wie er im Alter von 22 Jahren kurz vor Weihnachten aus einem Sanatorium nach Hause kam und mit seinem Zwillingsbruder sprach, der aus Oxford angereist war, wo er Kunst studierte. "Wenn die Zelle sich damals nicht geteilt hätte", sagte ich, "es gäbe nur einen von uns. [...] Aber wer wäre das? Ich, du oder ein Dritter, den wir nicht kennen? Wer wäre das?" Er muss mit Iwan reden. Eric greift zum Telefon und beauftragt Else, seinen Bruder anrufen.
"Also rufen Sie ihn an! Jetzt! Sagen Sie ihm, es ist wirklich wichtig. Und schicken Sie endlich Klüssen herein." Der Kaufhausbesitzer Adolf Albert Klüssen ist Mitte 70. Sein Vater hieß Adolf Ariman Klüssen, sein Großvater Adolf Adomeit Klüssen. Eric verwaltet das gesamte Vermögen Adolf Klüssens. Aber davon ist nichts mehr übrig. Seit zwei Jahren hält Eric ihn mit gefälschten Auszügen und Aufstellungen hin. [...] sieht mich an, als wäre die ganze Welt verachtenswert. Und dabei weiß er noch nicht einmal, dass er mittellos ist.
Klüssen sagt, er wolle angesichts seines fortgeschrittenen Alters umschichten, nichts mehr riskieren, alles nur noch in sichere Anlagen. Dazu riet ihm sein Sohn, der gerade den MBA machte.
Es kommt nicht darauf an, was ich sage [...]. Es kommt darauf an, dass gesprochen wird, ohne Unterbrechung und Zaudern, es kommt darauf an, dass er meine Stimme hört und einsieht, dass er es mit einer größeren Kraft zu tun hat als der seinen und mit einem Intellekt, dem er nicht gewachsen ist.
Zu Erics Überraschung besucht ihn sein Halbbruder im Büro. Martin wurde von Erics Sekretärin angerufen und ist sofort herbeigeeilt, aber diesen Zusammenhang erkennt Eric erst einmal nicht. Um sich nicht Martins Gerede über den Rubik-Würfel anhören zu müssen, fragt er ihn, ob er schon zu Mittag gegessen habe, geht mit ihm in ein Restaurant, in dem man ihn kennt und bestellt Spaghetti alle vongole wie immer, auch für Martin. Dabei mag er gar keine Muscheln. Während Martin sich zwar darüber ärgert, dass sein Halbbruder für ihn bestellte, aber alles aufisst, lässt Eric seinen Teller abtragen, ohne etwas gegessen zu haben. Der Anblick meiner Mitarbeiter bedrückt mich noch mehr als sonst: all die Trägheit, all das Mittelmaß.
Seine Mutter ruft an und schlägt ihm eine angeblich gute Investition vor: Er soll das Grundstück unterhalb ihres Hauses kaufen, weil sie erfahren hat, dass jemand dort bauen möchte. Dann wäre ihre Aussicht ruiniert. Auch wenn Eric wollte, könnte er das Grundstück nicht erwerben, denn er hat kein Geld mehr. – – – Als Eric 19 Jahre alt war, machte es ihm zu schaffen, dass sein Zwillingsbruder sich als schwul outete. Ich wünschte, er wäre nicht homosexuell. Als ich es erfahren habe, hat es mich wochenlang ganz verrückt gemacht. Jemand, der mir so ähnlich ist – was sagt das über mich aus, was bedeutet es?
Während Iwan Friedland in Oxford Kunst studierte, entdeckte er ein Plakat des "großen Lindemann" und gab sich als Journalist aus, um den Hypnotiseur sprechen zu können, den er als Kind erlebt hatte. Lindemann beklagte sich über die Gagen, die Arroganz der Fernsehredakteure, die Gewerkschaft der Bühnenkünstler, die anstrengenden Reisen, die Verspätungen der Bahn und die Hotels, von denen die einen zu schlecht und die anderen zu teuer seien. Als Lindemann hörte, dass sein Gesprächspartner Künstler werden wolle, wunderte er sich: "Maler, wirklich?" Aufgrund dieses Zweifels erkannte Iwan, dass er nicht zum Maler berufen war, denn er hätte nur Mittelmäßiges zustande gebracht, und das wäre ihm nicht genug gewesen. Er verlegte sich auf Kunstgeschichte, und als er Martin nach dessen Exerzitien im Kloster Eisenbrunn mit einem Besuch überraschte, riet dieser ihm, über die Mittelmäßigkeit zu promovieren. "Warhol? Ein Werbegraphiker!" – "Lichtenstein? Das Land oder der Scharlatan?" – "Kitschiger als Balthus ist nur der Katzenkalender." – "Klimt, die Apotheose des Kunsthandwerks!"
Das kam gut an. Leroy Hallowans veröffentlichte das Buch "Eulenböck oder Die große Verneinung", Godard drehte die Dokumentation "Moi, Eulenböck, maître", und Iwan änderte das Thema seiner 740 Seiten langen Dissertation in "Heinrich Eulenböck. Von der Ironie der Tradition zum Realismus der Ironie". Immerhin stammen die bekanntesten Bilder Eulenböcks, alle Werke, auf denen sein Ruhm beruht, von ein und demselben Urheber: nämlich mir.
Um die Preise hoch zu halten, achtet Iwan darauf, die Gemälde nicht zu rasch nacheinander in den Handel zu bringen. Man ist überzeugt davon, dass man sich bei erster Gelegenheit als Feigling erweisen wird. Und jetzt das. Iwan Friedland, Ästhet, Kurator, Träger teurer Anzüge, ist ein Held. Darauf hätte ich verzichten können.
Einer der drei Jugendlichen, den die anderen mit "Ron" ansprechen, zieht ein Messer. Iwan will ihnen das Geld anbieten, das er bei sich hat, aber als er nach seiner Brieftasche greift, schnellt Rons Hand kurz vor und zieht sich wieder zurück. Schmerz schießt in Iwans Brust und breitet sich aus. Die drei Kerle laufen weg. Der Junge, mit dem sie in Streit geraten waren, erhebt sich schwankend. Er hebt Iwans Brieftasche auf, steckt sie ein und wankt davon, ohne sich um ihn zu kümmern.
Erinnerst du dich noch an Erics Anruf, frage ich. Er sagte, seine Sekretärin hat uns verwechselt, Martin und mich, sie hat den falschen angerufen. Erinnerst du dich? – – –
Im Jahr darauf wird Iwan noch immer vermisst. Eric verwaltet jetzt den Nachlass des Malers Heinrich Eulenböck. Er hat bereits hundert Gemälde und tausend Skizzen verkauft, aber die schiere Masse ließ die Preise einbrechen. Eric bedauert es, dass eine ganze Reihe von Gemälden, die Iwan in einschlägigen Verzeichnissen genau beschrieben hat, unauffindbar bleiben. Wenn das so weiterging, würden sie sich bald noch küssen. Wie sollte er das verhindern?
Martin ahnt nicht, dass die beiden längst miteinander schlafen. Wenn Marie lieber mit ihrem Freund zusammen ist, statt zur Schule zu gehen, fälscht sie die Unterschrift ihrer Mutter auf Entschuldigungsschreiben.
Nichts?
Lothar Remling ist beeindruckt und stellt Eric ein, und weil Eric sich im Pfarrhaus ständig mit Martin streitet, zieht er zu Sibylle. |
Buchbesprechung:Ein heuchlerischer Geistlicher, ein betrügerischer Vermögensverwalter und ein Kunstfälscher sind die Protagonisten des Romans "F". Daniel Kehlmann nimmt also die Kirche, den Finanzsektor und den Kulturbetrieb aufs Korn. Das F steht für Fälschung, Fake und Fiktion. F ist auch der Anfangsbuchstabe der Wörter Fatum und Fortuna. Diese Begriffe beziehen sich auf die Frage, wie das Schicksal des einzelnen Menschen trotz seiner Entscheidungsfreiheit von Zufällen abhängt, zu denen auch das genetische Erbe gehört. "Fatum", sagte Arthur. "Das große F. Aber der Zufall ist mächtig, und plötzlich bekommt man ein Schicksal, das nie für einen bestimmt war. Irgendein Zufallsschicksal. So etwas passiert schnell."
Das F taucht außerdem in einem Binnenroman auf – "Mein Name sei Niemand" –, und zwar als Initiale des Namens der Hauptfigur. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Daniel Kehlmann: Der fernste Ort |